Zur Kur im Tal der 1000 Krücken
Bad Wildungen, eine nordhessische Kleinstadt, Fachwerk, rote Dächer. Die Flaniermeile ist lang, die Straßencafés sind gut besucht. Doch auffällig viele der Passanten gehen an Krücken oder sitzen im Rollstuhl. Wegen seiner zahlreichen Heilquellen trägt Wildungen seit 1906 das "Bad" vor sich her, und obwohl die Zeit klassischer Trinkkuren lange vorbei ist, hat Bad Wildungen sich weiter auf das Heilen spezialisiert.
Patientin 1: "Grüß Gott! Warum ich hier bin, weil ich mir erhoffe, dass mir bei meinen Schmerzen Linderung und richtige Umgang beigebracht wird. Ja, ich komm von Niederbayern, des muss ich jetzt betonen.
Was ich vermiss sind die Tannenbäume, ich seh hier keinen richtigen Tannenbaum, aber landschaftlich ist es sehr schön, und auch die Hessen sind freundlich, muss ich sagen und ich musste meine Sprache nicht verstellen."
Patientin 2: "Für drei Wochen, Knieoperation, neues Knie drin, und mal sehen, wie’s jetzt weitergeht. Von Bad Wildungen selbst hab ich noch nichts gesehen, soweit kann ich noch nicht laufen."
Ethnologe: "Mitten in Deutschland hat’s hier was von Refugium, irgendwie, wo dann die Natur auch mehr Platz hat."
Im Norden von Hessen. 45 Kilometer südwestlich von Kassel, 50 im Norden von Marburg. Die letzte Autobahnabfahrt liegt weit zurück. Wo die Straßen immer schmaler und die Waldecker Land genannte Gegend immer grüner wird, liegt Bad Wildungen.
Inmitten einer Landschaft mit weichen Hügeln thront die historische Altstadt auf einem Berg: enge Gassen und Fachwerk unter roten Dächern.
Seit 600 Jahren hat das Heilen und Kuren in Bad Wildungen Tradition.
Angefangen hat alles mit Wasser. In und um Bad Wildungen sprudeln 22 Quellen, davon fünf mit heilender Wirkung. Ab 1880 machte der deutsche und internationale Adel in Wildungen seine Trinkkur und badete in Heilwasser. Der Fürstenhof, ein prächtiger Jugendstil-Prunkbau in der Kurpromenade, erzählt noch heute von dieser Wildunger Blütezeit. Und schon kurz nachdem die Badekur bürgerlich wurde, adelte man das Städtchen: seit einhundert Jahren trägt Wildungen stolz das "Bad" vor sich her.
Inmitten einer sonst strukturschwachen Gegend wachsen nach dem Krieg die ersten Klinikbauten, steigen die Übernachtungszahlen. Eine Kleinstadt hat ihr Schicksal begriffen und in die Hand genommen. Sie schafft ihr Wirtschaftswunder, und das Geschäft mit der Kur brummt. Heute hat Bad Wildungen nicht mal 18.000 Einwohner, aber weit über 100.000 Gäste im Jahr.
Bad Wildungens Erfolg ist eng verknüpft mit der Orthopädie - und Werner Wicker. Ende der Siebziger gründet er eine Spezialklinik für Wirbelsäulenerkrankungen und legte den Grundstein für den exzellenten Wildunger Ruf, was die orthopädische Medizin betrifft.
Im Deutschen Skoliose-Zentrum/Zentrum für Wirbelsäulchenchirugie der Werner-Wicker-Klinik operieren Ärzte inzwischen 1500 Menschen an der Wirbelsäule – deutscher Rekord. Bundesinnenminister Schäuble war nach dem Attentat in Wildungen zur Reha. Das Zentrum für Rückenmarksverletzungen ist mit führend bei der Behandlung von Querschnittlähmungen. So wurde die orthopädische Reha neben den Heilquellen zum zweiten Wildunger Standbein.
Eine Klinik im Ortsteil Reinhardshausen. Fast alle Patienten gehen auf Krücken, ein schmaler junger Pfleger schiebt einen gewichtigen älteren Herrn in einem Rollstuhl über den Gang. In einem Seitenflügel im Erdgeschoss sitzen vier Patienten nebeneinander auf Stühlen, acht Krücken haben gerade Pause. Die vier Patienten tragen blaue Bandagen um ihre Kniee, Schläuche ragen heraus, verbinden die Kniee mit jeweils einem weißen Gerät, dem Kniekühlschrank. Ein Mann legt seine Illustrierte beiseite.
"Ich hab eine Knieprothese bekommen und die muss jetzt behandelt werden."
Kühlen ist das A&O, dreimal am Tag für 30 Minuten. Die Operation dauerte sechs Stunden, bis er wieder halbwegs normal laufen kann vergehen fünf Wochen. Die Zeit dazwischen ist - Reha: leichte Wassergymnastik, kurze Spaziergänge, vorsichtig beugen. Die übrige Zeit Thrombosestrümpfe.
"Ich war neunzehnhundertsechsundneunzig schon mal hier, und damals bin ich von der DAK hier zugewiesen worden, und dann hat uns dat Örtchen so gut gefallen und dann sind wir wieder gekommen, und dann hab ich mich jetzt hier wieder herschicken lassen. zufrieden, ja drei Wochen, aus Köln."
Die Frau neben ihm nickt.
Patientin 2: "Ich komme aus Volkmarsen, zur Reha. Ja, erstens mal ist nicht ganz so weit und aus meinem Ort waren schon Mehrere hier, aber die Krankenkasse hat mich auch gleich hierher gewiesen. Die Klinik ist in Ordnung, also wirklich, bin zufrieden mit allem, alles gut: Betreuung gut, Essen gut, was wollen wir noch mehr?"
Mit der Kurkarte ist die Fahrt mit dem behindertengerechten Stadtbus gratis. Die Kliniken sind selbst kleine Städte und perfekt ausgestattet mit Physio- und Ergotherapie, Bewegungsbad, Café und Billardtisch. Für Anwendungen jedenfalls brauchen die Patienten nicht aus dem Haus – und sollen es vielleicht auch gar nicht. Und mit neuem Knie oder neuer Hüfte ist das sicher auch ein Abenteuer. Dabei ist das Wildunger Stadtzentrum, bis auf seine Lage auf einem Berg, weitgehend barrierefrei und rollstuhlgerecht umgebaut. Inzwischen erhöht man aber schon wieder einige Bordsteine, damit auch blinde Menschen – eine neue Zielgruppe - eine Chance haben, sich zu orientieren.
Trotz kleinerer Rückschläge boomt Bad Wildungen stetig, wurde mit Blick auf die Gästezahlen zu Deutschlands drittgrößter Kurstadt. Vor elf Jahren kam die große Kurkrise. Die Folgen der Gesundheitsreform, als die Krankenkassen die Kittel enger schnürten, waren auch in der nordhessischen Provinz verheerend: die Übernachtungszahlen brachen ein: von gut zwei Millionen auf unter eine Million.
Etwa 3500 Arbeitsplätze gingen verloren, direkt oder indirekt mit dem Kurbetrieb verbunden. Stadtväter und Chefärzte mussten umdenken, sich breiter aufstellen. Die Stadt setzte neben dem Heilen verstärkt auf Tourismus, kooperiert mit der nahgelegenen Edersee-Region. Die Kliniken veränderten ihr Angebot: Kuren im klassischen Sinn gibt es nicht mehr, die Krankenkassen schicken seit der Gesundheitsreform ihre Patienten kurz nach einer Operation vier Wochen zur ...
Patient 2: "... Anschlussheilbehandlung ... Husum, Nordsee, sagt Ihnen das was? Weil das hier die beste Behandlungstherapie sein soll, Prostatageschichte.""
Heute gibt es in Bad Wildungen fünftausend Betten in zwanzig Kliniken aus fast allen medizinischen Bereichen: Orthopädie, Innere Medizin, Rheumatologie, Neurologie, Onkologie, Urologie und Psychosomatik. Die meisten vereinen dreihundert bis fünfhundert Betten und mehrere Fachabteilungen unter einem Dach.
Mit Rehabilitation sicherte sich die Wildunger Kliniklandschaft ihr eigenes Überleben. Die Dominanz der Orthopädie ist inzwischen beendet, doch das Bild von Bad Wildungen als "Tal der 1000 Krücken" besteht weiterhin: In den Straßencafés sind Patienten mit Krücken oder im Rollstuhl optisch in der Überzahl - ihre Krankheit ist offensichtlicher als Nierensteine oder eine Depression.
"Schwerpunktmäßig hatten wir im letzten Jahr überwiegend Patienten mit depressiven Erschöpfungszuständen, Schmerzstörungen, Angststörungen, aber auch alle anderen psychosomatischen Krankheitsbilder werden hier behandelt, traditionell hat die Klinik einen Schwerpunkt bei der Behandlung von Schmerzstörungen, aber im letzten Jahr haben die Erschöpfungszustände zugenommen, und ich denke, das spiegelt auch eine gesamte Entwicklung wider - auch Depressionen sind sehr im Zunehmen."
Beate Görzel, Chefärztin der Psychosomatischen Fachklinik Am Hahnberg.
"Die Trinkkuren oder die Kuren im traditionellen Sinne werden heute auch nicht mehr bezahlt von den Leistungsträgern, den Krankenkassen oder der Rentenversicherung. Im Jahre siebenundneunzig gab’s ja eine Gesundheitsreform, und seitdem gibt es Kuren nicht mehr, sondern Rehabilitationsbehandlungen mit einem hohen medizinischen Anspruch."
Schlecht für die Menschen, gut für Bad Wildungen und seine Kliniken: Erschöpfung und Depressionen haben Konjunktur.
"Ja, das stimmt. Weltweit ist es eine zunehmende Erkrankung, und die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass es in Zukunft die Krankheit sein wird, die den Menschen die meisten lebenswerten Tage weltweit stehlen wird. Die Lebensbedingungen der Menschen verändern sich sehr. Bei uns in Deutschland spielt sicher eine zunehmende Vereinsamung eine Rolle und dann auch die Veränderung am Arbeitsmarkt, dass es zu einer Arbeitsverdichtung kommt, immer weniger Personal soll in immer kürzerer Zeit immer mehr Arbeit bewältigen, und ich beobachte in den letzten zehn Jahren, dass Arbeitsplatzkonflikte, von den Patienten häufig als Mobbing bezeichnet, auch eine sehr große Rolle spielen."
Die Wildunger Landschaft, die Abgeschiedenheit - Beate Görzel sieht darin einen Standortvorteil.
"Die meisten pyschosomatischen Kliniken in Deutschland liegen eher in ländlichen und landschaftlich schönen Bereichen, und nicht in Ballungsgebieten oder Großstädten, weil der Milieu-Faktor, die Ortsveränderung, auch eine sehr große Rolle spielt, es gibt sogar aktuelle Studien, die das auch noch mal belegen."
Ein Mann betritt das Zimmer, die bequeme Sportkleidung verrät: er ist hier Patient.
Patient 3: "Ja, ich bin ein ursprünglicher Bad Wildunger, lebe seit dreißig Jahren in Frankfurt am Main, und bin durch Zufall hier in die Reha gekommen.
Ich bin jetzt 53 und war zwischenzeitlich auch n bisschen im Hotelgewerbe in der Welt unterwegs, ich bin sehr viel gereist, und so in jungen Jahren sagt man immer: ich möchte gerne da weg, da ist ja nix mehr los, aus dem Dorf, n bisschen was sehen, und jetzt wieder hierher zu kommen war doch ne wirklich schöne und angenehme Erfahrung für mich.
Also, die Stadt an sich hat sich in den letzten Jahren sicherlich sehr gemacht, es wird sehr viel geboten, zum anderen aber auch die Ausflugsziele, die sich hier bieten, Beispiel Edersee, Twistesee, Arolsen und so weiter und so fort, also da gibt’s ne ganze Menge."
500 Kilometer Wanderwege gibt es rund um die Kurstadt, doch warum in die Ferne schweifen? Grün jedenfalls ist es auch in dem Örtchen. Mit Stolz verweisen die Wildunger auf ihren Kurpark, mit fünfzig Hektar der größte Europas. Akkurat gepflegter Rasen, Bänke vor Blumenrabatten, aber auch lauschige Sitzeckchen in versteckten Lauben.
Auf den schier endlosen Wegen unter hohen Bäumen muss man schon ein bisschen laufen, um in der Mittagszeit jemanden zu treffen. Der Mann im Trainingsanzug hält zum Sprechen kaum an.
Patient 4: "Ich bin zur Reha, ich komm aus Hagen, ja Prostata-Totaloperation, ich bin jetzt zehn Tage, vier Wochen insgesamt: ja, noch achtzehn Tage."
Sagt es und marschiert weiter, biegt von der schnurgeraden Allee ab, verschwindet hinter einer Hecke. Taucht ein in Europas größten Kurpark.
Gärtner: "Ja, um diese Jahreszeit ist sehr viel Arbeit jetzt gerade, ja. Zum Beispiel ich muss die Stauden schneiden, die hier hoch am Bachlauf überall an den Seiten her gewachsen sind, ne? Ja, das dauert so, ich schätze mal, n paar Wochen nimmt das in Anspruch."
Grüne Gärtnerkleidung, graue Haare lugen seitlich aus seiner Kappe. Der Mann macht eine Pause, stützt sich mit beiden Händen auf den Stil der Schaufel, kleine Fliegen schwirren um sein Gesicht.
"Arbeit ist abwechslungsreich und vielseitig, ich könnte mir keine bessere Arbeit so vorstellen, hier, im Kurpark. Mit Kurgästen? Ne, mit Kurgästen direkt hab ich nichts zu tun! Ich unterhalte mich schon mal mit so Kurgästen, ansonsten näheren Kontakt tu ich nicht
eingehen."
Am Rand vom Ortsteil Reitzenhagen, direkt an der Straße, steht ein kleiner Pavillon aus Stein. Davor lehnt ein Fahrrad mit Packtaschen, darin steht ein Mann vor einem Becken, die Hand unter dem kleinen Löwenkopf aus Bronze. Solange der Mann den Knopf neben dem Löwenmaul gedrückt hält, sprudelt hier die Bilsteinquelle.
Kunz: "Ich hab das Wasser aus der Quelle getrunken!"
Der drahtige Mann Anfang 40 streicht eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht, Siggi Kunz.
"Ja, ist ne hübsche Gegend hier, also nicht nur durch den Nationalpark und auch nicht den Edersee, die ja jetzt touristische Anziehungspunkte sind, sondern die Gegend an sich hat wirklich nen guten Geist, sag ich mal so."
Dass sich Wildungen als Kur- und Erholungsort über die Jahrhunderte etabliert hat, ist für ihn unbedingt auch mit der Landschaft verbunden.
"Das hat Weite und Nestigkeit in einem. Es ist so’n geschlossenes Tal aber es ist ein weiter Raum darin, man ist abgeschlossen so von dem großen Fernstraßensystem, und es hat was Gemütliches und trotzdem was Freies, Weites."
"Die Landschaft selbst", sagt Kunz, Ethnologe und Psychotherapeut, "ist auch Heilmittel."
"Ich biete Wanderungen hier in der Landschaft an, das sind - das klingt n bisschen esoterisch - Wanderungen zu Kraftorten, mir fällt kein besserer Begriff ein. Also ich finde, das ist wahrnehmbar: an bestimmten Plätzen fühlt man sich wohler als an anderen, es gibt manche Kirchen, da fühlt man sich wie in Mutters Bauch oder so, übertrieben. Und in der Natur gibt’s das auch, da gibt’s dann Plätze, die machen das Gehirn still. Es geht dann um Wahrnehmung. Da gibt’s Plätze, die machen das Gehirn still, würd ich mal so sagen.
Wir sind immer getriebener, ich erleb die Menschen immer mehr so on the road irgendwie, innerlich und äußerlich, das ist wirklich n gutes Hilfsmittel um langsam zu werden, also meditativ zu sein."
Oberhalb des Quellpavillons trohnt die Bilsteinklippe, der mächtige Fels gibt der Quelle ihren Namen. Siggi Kunz füllt noch schnell seine Trinkflasche.
"Ich find’s okay, aber man kann nicht soviel davon trinken. Alle diese Wässer haben n starken Eisengehalt, und n hoher Mineraliengehalt eben, heavy Water. Aber es hat Kohlensäure, und das hat was Wunderliches: ne Quelle im Freien, wo die Kohlensäure aus der Erde kommt. [Die meisten Leute wissen gar nicht, wo die Kohlensäure überhaupt herstammt ..."
Steigt auf sein Fahrrad, lächelt zum Abschied, dann radelt er davon. Im Ort gibt es ein Golf-Leistungszentrum für Behinderte, wo dauerhaft oder zeitlich beschränkt Gehandicapte an ihrem Handicap arbeiten – zur sportmedizinischen Rehabilitation und Integration. Ein deutschlandweit einmaliges Projekt.
15 Uhr, im Café in der Wandelhalle von Bad Wildungen. Die Stadt leistet sich noch ein Kurorchester, Tradition verpflichtet. Ein Viertel dieses Orchesters spielt jetzt auf Klavier und Klarinette, eine handvoll Gäste sitzt vor Kaffee und Kuchen nimmt von der Musik kaum Notiz. Am anderen Ende der Wandelhalle, gegenüber vom Café befindet sich der "Quellendom".
An der Theke rechts gibt es Becher, davor stehen drei hohe, schlanke Säulen, jede trägt einen Namen: "Helenenquelle", "Waldquelle" und die "Georg-Viktor-Quelle", die seit mehr als 600 Jahren in die Stadt geleitet wird.
Zwei junge Frauen stehen unschlüssig vor den Säulen, eine stellt ihren Becher in die kreisrunde Öffnung unter den Wasserspender. Blaue Leuchten blinken. Die Frau tritt einen Schritt zurück.
Patientin 3: "Darauf warten, dass das Wasser in den Becher läuft - da sprudelt es - jetzt werd ich mal n Schluck nehmen, also riechen tut’s nach faulen Eiern. Also es schmeckt, mmh, es schmeckt sehr, ja, es hat n starken Eigengeschmack, also eisenhaltig, Eisen, n bisschen faule Eier."
Seibel: "Eisen ist ja wieder gut für die Blutbindung, und die Georg-Viktor-Quelle hat eigentlich nen relativ hohen Eisengehalt, sodass, wenn man Blutmangel hat oder Eisenmangel, dass man die Georg-Viktor-Quelle dafür zum Trinken nehmen kann."
Friedrich Seibel ist bei der Wildunger Staatsbad GmbH beschäftigt, kennt sich mit den Heilquellen bestens aus.
"Also Bad Wildungen hat ja sehr früh in seiner Zeit, um die Jahrhundertwende rum, das Heilwasser auch in ferne Länder geschickt, jedenfalls auch nach Amerika und sonst anderes europäisches Ausland."
Die junge Frau hält sich an ihrem Pappbecher Heilwasser fest, verzieht beim Trinken das Gesicht, weil ...
"... mir n bisschen schlecht wird."
Friedrich Seibel bleibt gelassen, das kennt er schon. Er hat nicht nur beruflich mit Wildunger Heilwasser zu tun.
"Ich als Sportler bin natürlich von der Helenenquelle überzeugt, weil die auch n sehr hohen Hydrogencarbonatgehalt hat. Gehen wir mal rüber, trinken wir nen Schluck?"
Seibel stellt seinen Becher in die Säule ganz rechts, blaues Licht blinkt auf.
Genau genommen ist die Helenenquelle ein Natrium-Magnesium-Calcium-Hydrogencarbonat-Chlorid-Säuerling. Wer dieses Wortungetüm regelmäßig in kleinen Schlucken zu sich nimmt ...
"Zum Wohl."
... verhindert Harnsteine, bekämpft Magnesium- und Calciummangel, Osteoporose, Gastritis und senkt den Blutdruck. Ein Fünf-Sterne-Heilwasser, das besser flutscht als sein Name. Ein älterer Mann geht an den Quellsäulen vorbei zum Ausgang.
"Aus Itzehoe, Schleswig-Holstein. Vier Wochen. Sehr gut, ich bin wieder fast gesund, ich kam mit Erschöpfung her, ich konnt nicht mehr schreiben, nicht mehr lesen, denken nicht mehr: hab ich alles hingekriegt, kann ich nur bestens empfehlen."
"Die Stadt und ihre Kliniken", sagt er noch und grinst, "aber das Wasser natürlich auch." Der Mann stellt seinen Becher auf den Teewagen und geht hinaus in die Wandelhalle. "Wandelhalle" - weil man umhergehen soll, während man das Heilwasser schluckweise trinkt. So kann der Magen die Flüssigkeit besser aufnehmen.
Abseits des Kurtrubels in einem kleinen, idyllischen Tal am Waldrand. Ein Bach plätschert unter tiefhängenden Ästen. Auch hier gibt es eine Wandelhalle, denn hier entspringt Bad Wildungens prominenteste, die Helenenquelle. In siebzig Meter Tiefe sprudeln durchschnittlich dreißig Liter pro Minute.
Friedrich Seibel steht an der öffentlichen Zapfstelle und beobachtet, wie ein Ehepaar heranspaziert kommt, einen Plastikbecher zückt und von der Helenenquelle trinkt.
"Ich sage immer: die Bad Wildunger Heilquellen sind nicht nur für die Urologie, man vergibt's mir jetzt einfach mal, ich hab mal ganz laut gesagt: Die Bad Wildunger Heilwässer sind nicht nur zum Pinkeln da, sondern auch für den gesamten Mineralienhaushalt des Körpers."
Auch die nächsten Gesundheitsreformen wird Bad Wildungen überstehen. Weil dann noch Heilwasser fließt, vor allem aber ist der Ort mit seiner Kliniklandschaft gut aufgestellt.
Was ich vermiss sind die Tannenbäume, ich seh hier keinen richtigen Tannenbaum, aber landschaftlich ist es sehr schön, und auch die Hessen sind freundlich, muss ich sagen und ich musste meine Sprache nicht verstellen."
Patientin 2: "Für drei Wochen, Knieoperation, neues Knie drin, und mal sehen, wie’s jetzt weitergeht. Von Bad Wildungen selbst hab ich noch nichts gesehen, soweit kann ich noch nicht laufen."
Ethnologe: "Mitten in Deutschland hat’s hier was von Refugium, irgendwie, wo dann die Natur auch mehr Platz hat."
Im Norden von Hessen. 45 Kilometer südwestlich von Kassel, 50 im Norden von Marburg. Die letzte Autobahnabfahrt liegt weit zurück. Wo die Straßen immer schmaler und die Waldecker Land genannte Gegend immer grüner wird, liegt Bad Wildungen.
Inmitten einer Landschaft mit weichen Hügeln thront die historische Altstadt auf einem Berg: enge Gassen und Fachwerk unter roten Dächern.
Seit 600 Jahren hat das Heilen und Kuren in Bad Wildungen Tradition.
Angefangen hat alles mit Wasser. In und um Bad Wildungen sprudeln 22 Quellen, davon fünf mit heilender Wirkung. Ab 1880 machte der deutsche und internationale Adel in Wildungen seine Trinkkur und badete in Heilwasser. Der Fürstenhof, ein prächtiger Jugendstil-Prunkbau in der Kurpromenade, erzählt noch heute von dieser Wildunger Blütezeit. Und schon kurz nachdem die Badekur bürgerlich wurde, adelte man das Städtchen: seit einhundert Jahren trägt Wildungen stolz das "Bad" vor sich her.
Inmitten einer sonst strukturschwachen Gegend wachsen nach dem Krieg die ersten Klinikbauten, steigen die Übernachtungszahlen. Eine Kleinstadt hat ihr Schicksal begriffen und in die Hand genommen. Sie schafft ihr Wirtschaftswunder, und das Geschäft mit der Kur brummt. Heute hat Bad Wildungen nicht mal 18.000 Einwohner, aber weit über 100.000 Gäste im Jahr.
Bad Wildungens Erfolg ist eng verknüpft mit der Orthopädie - und Werner Wicker. Ende der Siebziger gründet er eine Spezialklinik für Wirbelsäulenerkrankungen und legte den Grundstein für den exzellenten Wildunger Ruf, was die orthopädische Medizin betrifft.
Im Deutschen Skoliose-Zentrum/Zentrum für Wirbelsäulchenchirugie der Werner-Wicker-Klinik operieren Ärzte inzwischen 1500 Menschen an der Wirbelsäule – deutscher Rekord. Bundesinnenminister Schäuble war nach dem Attentat in Wildungen zur Reha. Das Zentrum für Rückenmarksverletzungen ist mit führend bei der Behandlung von Querschnittlähmungen. So wurde die orthopädische Reha neben den Heilquellen zum zweiten Wildunger Standbein.
Eine Klinik im Ortsteil Reinhardshausen. Fast alle Patienten gehen auf Krücken, ein schmaler junger Pfleger schiebt einen gewichtigen älteren Herrn in einem Rollstuhl über den Gang. In einem Seitenflügel im Erdgeschoss sitzen vier Patienten nebeneinander auf Stühlen, acht Krücken haben gerade Pause. Die vier Patienten tragen blaue Bandagen um ihre Kniee, Schläuche ragen heraus, verbinden die Kniee mit jeweils einem weißen Gerät, dem Kniekühlschrank. Ein Mann legt seine Illustrierte beiseite.
"Ich hab eine Knieprothese bekommen und die muss jetzt behandelt werden."
Kühlen ist das A&O, dreimal am Tag für 30 Minuten. Die Operation dauerte sechs Stunden, bis er wieder halbwegs normal laufen kann vergehen fünf Wochen. Die Zeit dazwischen ist - Reha: leichte Wassergymnastik, kurze Spaziergänge, vorsichtig beugen. Die übrige Zeit Thrombosestrümpfe.
"Ich war neunzehnhundertsechsundneunzig schon mal hier, und damals bin ich von der DAK hier zugewiesen worden, und dann hat uns dat Örtchen so gut gefallen und dann sind wir wieder gekommen, und dann hab ich mich jetzt hier wieder herschicken lassen. zufrieden, ja drei Wochen, aus Köln."
Die Frau neben ihm nickt.
Patientin 2: "Ich komme aus Volkmarsen, zur Reha. Ja, erstens mal ist nicht ganz so weit und aus meinem Ort waren schon Mehrere hier, aber die Krankenkasse hat mich auch gleich hierher gewiesen. Die Klinik ist in Ordnung, also wirklich, bin zufrieden mit allem, alles gut: Betreuung gut, Essen gut, was wollen wir noch mehr?"
Mit der Kurkarte ist die Fahrt mit dem behindertengerechten Stadtbus gratis. Die Kliniken sind selbst kleine Städte und perfekt ausgestattet mit Physio- und Ergotherapie, Bewegungsbad, Café und Billardtisch. Für Anwendungen jedenfalls brauchen die Patienten nicht aus dem Haus – und sollen es vielleicht auch gar nicht. Und mit neuem Knie oder neuer Hüfte ist das sicher auch ein Abenteuer. Dabei ist das Wildunger Stadtzentrum, bis auf seine Lage auf einem Berg, weitgehend barrierefrei und rollstuhlgerecht umgebaut. Inzwischen erhöht man aber schon wieder einige Bordsteine, damit auch blinde Menschen – eine neue Zielgruppe - eine Chance haben, sich zu orientieren.
Trotz kleinerer Rückschläge boomt Bad Wildungen stetig, wurde mit Blick auf die Gästezahlen zu Deutschlands drittgrößter Kurstadt. Vor elf Jahren kam die große Kurkrise. Die Folgen der Gesundheitsreform, als die Krankenkassen die Kittel enger schnürten, waren auch in der nordhessischen Provinz verheerend: die Übernachtungszahlen brachen ein: von gut zwei Millionen auf unter eine Million.
Etwa 3500 Arbeitsplätze gingen verloren, direkt oder indirekt mit dem Kurbetrieb verbunden. Stadtväter und Chefärzte mussten umdenken, sich breiter aufstellen. Die Stadt setzte neben dem Heilen verstärkt auf Tourismus, kooperiert mit der nahgelegenen Edersee-Region. Die Kliniken veränderten ihr Angebot: Kuren im klassischen Sinn gibt es nicht mehr, die Krankenkassen schicken seit der Gesundheitsreform ihre Patienten kurz nach einer Operation vier Wochen zur ...
Patient 2: "... Anschlussheilbehandlung ... Husum, Nordsee, sagt Ihnen das was? Weil das hier die beste Behandlungstherapie sein soll, Prostatageschichte.""
Heute gibt es in Bad Wildungen fünftausend Betten in zwanzig Kliniken aus fast allen medizinischen Bereichen: Orthopädie, Innere Medizin, Rheumatologie, Neurologie, Onkologie, Urologie und Psychosomatik. Die meisten vereinen dreihundert bis fünfhundert Betten und mehrere Fachabteilungen unter einem Dach.
Mit Rehabilitation sicherte sich die Wildunger Kliniklandschaft ihr eigenes Überleben. Die Dominanz der Orthopädie ist inzwischen beendet, doch das Bild von Bad Wildungen als "Tal der 1000 Krücken" besteht weiterhin: In den Straßencafés sind Patienten mit Krücken oder im Rollstuhl optisch in der Überzahl - ihre Krankheit ist offensichtlicher als Nierensteine oder eine Depression.
"Schwerpunktmäßig hatten wir im letzten Jahr überwiegend Patienten mit depressiven Erschöpfungszuständen, Schmerzstörungen, Angststörungen, aber auch alle anderen psychosomatischen Krankheitsbilder werden hier behandelt, traditionell hat die Klinik einen Schwerpunkt bei der Behandlung von Schmerzstörungen, aber im letzten Jahr haben die Erschöpfungszustände zugenommen, und ich denke, das spiegelt auch eine gesamte Entwicklung wider - auch Depressionen sind sehr im Zunehmen."
Beate Görzel, Chefärztin der Psychosomatischen Fachklinik Am Hahnberg.
"Die Trinkkuren oder die Kuren im traditionellen Sinne werden heute auch nicht mehr bezahlt von den Leistungsträgern, den Krankenkassen oder der Rentenversicherung. Im Jahre siebenundneunzig gab’s ja eine Gesundheitsreform, und seitdem gibt es Kuren nicht mehr, sondern Rehabilitationsbehandlungen mit einem hohen medizinischen Anspruch."
Schlecht für die Menschen, gut für Bad Wildungen und seine Kliniken: Erschöpfung und Depressionen haben Konjunktur.
"Ja, das stimmt. Weltweit ist es eine zunehmende Erkrankung, und die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass es in Zukunft die Krankheit sein wird, die den Menschen die meisten lebenswerten Tage weltweit stehlen wird. Die Lebensbedingungen der Menschen verändern sich sehr. Bei uns in Deutschland spielt sicher eine zunehmende Vereinsamung eine Rolle und dann auch die Veränderung am Arbeitsmarkt, dass es zu einer Arbeitsverdichtung kommt, immer weniger Personal soll in immer kürzerer Zeit immer mehr Arbeit bewältigen, und ich beobachte in den letzten zehn Jahren, dass Arbeitsplatzkonflikte, von den Patienten häufig als Mobbing bezeichnet, auch eine sehr große Rolle spielen."
Die Wildunger Landschaft, die Abgeschiedenheit - Beate Görzel sieht darin einen Standortvorteil.
"Die meisten pyschosomatischen Kliniken in Deutschland liegen eher in ländlichen und landschaftlich schönen Bereichen, und nicht in Ballungsgebieten oder Großstädten, weil der Milieu-Faktor, die Ortsveränderung, auch eine sehr große Rolle spielt, es gibt sogar aktuelle Studien, die das auch noch mal belegen."
Ein Mann betritt das Zimmer, die bequeme Sportkleidung verrät: er ist hier Patient.
Patient 3: "Ja, ich bin ein ursprünglicher Bad Wildunger, lebe seit dreißig Jahren in Frankfurt am Main, und bin durch Zufall hier in die Reha gekommen.
Ich bin jetzt 53 und war zwischenzeitlich auch n bisschen im Hotelgewerbe in der Welt unterwegs, ich bin sehr viel gereist, und so in jungen Jahren sagt man immer: ich möchte gerne da weg, da ist ja nix mehr los, aus dem Dorf, n bisschen was sehen, und jetzt wieder hierher zu kommen war doch ne wirklich schöne und angenehme Erfahrung für mich.
Also, die Stadt an sich hat sich in den letzten Jahren sicherlich sehr gemacht, es wird sehr viel geboten, zum anderen aber auch die Ausflugsziele, die sich hier bieten, Beispiel Edersee, Twistesee, Arolsen und so weiter und so fort, also da gibt’s ne ganze Menge."
500 Kilometer Wanderwege gibt es rund um die Kurstadt, doch warum in die Ferne schweifen? Grün jedenfalls ist es auch in dem Örtchen. Mit Stolz verweisen die Wildunger auf ihren Kurpark, mit fünfzig Hektar der größte Europas. Akkurat gepflegter Rasen, Bänke vor Blumenrabatten, aber auch lauschige Sitzeckchen in versteckten Lauben.
Auf den schier endlosen Wegen unter hohen Bäumen muss man schon ein bisschen laufen, um in der Mittagszeit jemanden zu treffen. Der Mann im Trainingsanzug hält zum Sprechen kaum an.
Patient 4: "Ich bin zur Reha, ich komm aus Hagen, ja Prostata-Totaloperation, ich bin jetzt zehn Tage, vier Wochen insgesamt: ja, noch achtzehn Tage."
Sagt es und marschiert weiter, biegt von der schnurgeraden Allee ab, verschwindet hinter einer Hecke. Taucht ein in Europas größten Kurpark.
Gärtner: "Ja, um diese Jahreszeit ist sehr viel Arbeit jetzt gerade, ja. Zum Beispiel ich muss die Stauden schneiden, die hier hoch am Bachlauf überall an den Seiten her gewachsen sind, ne? Ja, das dauert so, ich schätze mal, n paar Wochen nimmt das in Anspruch."
Grüne Gärtnerkleidung, graue Haare lugen seitlich aus seiner Kappe. Der Mann macht eine Pause, stützt sich mit beiden Händen auf den Stil der Schaufel, kleine Fliegen schwirren um sein Gesicht.
"Arbeit ist abwechslungsreich und vielseitig, ich könnte mir keine bessere Arbeit so vorstellen, hier, im Kurpark. Mit Kurgästen? Ne, mit Kurgästen direkt hab ich nichts zu tun! Ich unterhalte mich schon mal mit so Kurgästen, ansonsten näheren Kontakt tu ich nicht
eingehen."
Am Rand vom Ortsteil Reitzenhagen, direkt an der Straße, steht ein kleiner Pavillon aus Stein. Davor lehnt ein Fahrrad mit Packtaschen, darin steht ein Mann vor einem Becken, die Hand unter dem kleinen Löwenkopf aus Bronze. Solange der Mann den Knopf neben dem Löwenmaul gedrückt hält, sprudelt hier die Bilsteinquelle.
Kunz: "Ich hab das Wasser aus der Quelle getrunken!"
Der drahtige Mann Anfang 40 streicht eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht, Siggi Kunz.
"Ja, ist ne hübsche Gegend hier, also nicht nur durch den Nationalpark und auch nicht den Edersee, die ja jetzt touristische Anziehungspunkte sind, sondern die Gegend an sich hat wirklich nen guten Geist, sag ich mal so."
Dass sich Wildungen als Kur- und Erholungsort über die Jahrhunderte etabliert hat, ist für ihn unbedingt auch mit der Landschaft verbunden.
"Das hat Weite und Nestigkeit in einem. Es ist so’n geschlossenes Tal aber es ist ein weiter Raum darin, man ist abgeschlossen so von dem großen Fernstraßensystem, und es hat was Gemütliches und trotzdem was Freies, Weites."
"Die Landschaft selbst", sagt Kunz, Ethnologe und Psychotherapeut, "ist auch Heilmittel."
"Ich biete Wanderungen hier in der Landschaft an, das sind - das klingt n bisschen esoterisch - Wanderungen zu Kraftorten, mir fällt kein besserer Begriff ein. Also ich finde, das ist wahrnehmbar: an bestimmten Plätzen fühlt man sich wohler als an anderen, es gibt manche Kirchen, da fühlt man sich wie in Mutters Bauch oder so, übertrieben. Und in der Natur gibt’s das auch, da gibt’s dann Plätze, die machen das Gehirn still. Es geht dann um Wahrnehmung. Da gibt’s Plätze, die machen das Gehirn still, würd ich mal so sagen.
Wir sind immer getriebener, ich erleb die Menschen immer mehr so on the road irgendwie, innerlich und äußerlich, das ist wirklich n gutes Hilfsmittel um langsam zu werden, also meditativ zu sein."
Oberhalb des Quellpavillons trohnt die Bilsteinklippe, der mächtige Fels gibt der Quelle ihren Namen. Siggi Kunz füllt noch schnell seine Trinkflasche.
"Ich find’s okay, aber man kann nicht soviel davon trinken. Alle diese Wässer haben n starken Eisengehalt, und n hoher Mineraliengehalt eben, heavy Water. Aber es hat Kohlensäure, und das hat was Wunderliches: ne Quelle im Freien, wo die Kohlensäure aus der Erde kommt. [Die meisten Leute wissen gar nicht, wo die Kohlensäure überhaupt herstammt ..."
Steigt auf sein Fahrrad, lächelt zum Abschied, dann radelt er davon. Im Ort gibt es ein Golf-Leistungszentrum für Behinderte, wo dauerhaft oder zeitlich beschränkt Gehandicapte an ihrem Handicap arbeiten – zur sportmedizinischen Rehabilitation und Integration. Ein deutschlandweit einmaliges Projekt.
15 Uhr, im Café in der Wandelhalle von Bad Wildungen. Die Stadt leistet sich noch ein Kurorchester, Tradition verpflichtet. Ein Viertel dieses Orchesters spielt jetzt auf Klavier und Klarinette, eine handvoll Gäste sitzt vor Kaffee und Kuchen nimmt von der Musik kaum Notiz. Am anderen Ende der Wandelhalle, gegenüber vom Café befindet sich der "Quellendom".
An der Theke rechts gibt es Becher, davor stehen drei hohe, schlanke Säulen, jede trägt einen Namen: "Helenenquelle", "Waldquelle" und die "Georg-Viktor-Quelle", die seit mehr als 600 Jahren in die Stadt geleitet wird.
Zwei junge Frauen stehen unschlüssig vor den Säulen, eine stellt ihren Becher in die kreisrunde Öffnung unter den Wasserspender. Blaue Leuchten blinken. Die Frau tritt einen Schritt zurück.
Patientin 3: "Darauf warten, dass das Wasser in den Becher läuft - da sprudelt es - jetzt werd ich mal n Schluck nehmen, also riechen tut’s nach faulen Eiern. Also es schmeckt, mmh, es schmeckt sehr, ja, es hat n starken Eigengeschmack, also eisenhaltig, Eisen, n bisschen faule Eier."
Seibel: "Eisen ist ja wieder gut für die Blutbindung, und die Georg-Viktor-Quelle hat eigentlich nen relativ hohen Eisengehalt, sodass, wenn man Blutmangel hat oder Eisenmangel, dass man die Georg-Viktor-Quelle dafür zum Trinken nehmen kann."
Friedrich Seibel ist bei der Wildunger Staatsbad GmbH beschäftigt, kennt sich mit den Heilquellen bestens aus.
"Also Bad Wildungen hat ja sehr früh in seiner Zeit, um die Jahrhundertwende rum, das Heilwasser auch in ferne Länder geschickt, jedenfalls auch nach Amerika und sonst anderes europäisches Ausland."
Die junge Frau hält sich an ihrem Pappbecher Heilwasser fest, verzieht beim Trinken das Gesicht, weil ...
"... mir n bisschen schlecht wird."
Friedrich Seibel bleibt gelassen, das kennt er schon. Er hat nicht nur beruflich mit Wildunger Heilwasser zu tun.
"Ich als Sportler bin natürlich von der Helenenquelle überzeugt, weil die auch n sehr hohen Hydrogencarbonatgehalt hat. Gehen wir mal rüber, trinken wir nen Schluck?"
Seibel stellt seinen Becher in die Säule ganz rechts, blaues Licht blinkt auf.
Genau genommen ist die Helenenquelle ein Natrium-Magnesium-Calcium-Hydrogencarbonat-Chlorid-Säuerling. Wer dieses Wortungetüm regelmäßig in kleinen Schlucken zu sich nimmt ...
"Zum Wohl."
... verhindert Harnsteine, bekämpft Magnesium- und Calciummangel, Osteoporose, Gastritis und senkt den Blutdruck. Ein Fünf-Sterne-Heilwasser, das besser flutscht als sein Name. Ein älterer Mann geht an den Quellsäulen vorbei zum Ausgang.
"Aus Itzehoe, Schleswig-Holstein. Vier Wochen. Sehr gut, ich bin wieder fast gesund, ich kam mit Erschöpfung her, ich konnt nicht mehr schreiben, nicht mehr lesen, denken nicht mehr: hab ich alles hingekriegt, kann ich nur bestens empfehlen."
"Die Stadt und ihre Kliniken", sagt er noch und grinst, "aber das Wasser natürlich auch." Der Mann stellt seinen Becher auf den Teewagen und geht hinaus in die Wandelhalle. "Wandelhalle" - weil man umhergehen soll, während man das Heilwasser schluckweise trinkt. So kann der Magen die Flüssigkeit besser aufnehmen.
Abseits des Kurtrubels in einem kleinen, idyllischen Tal am Waldrand. Ein Bach plätschert unter tiefhängenden Ästen. Auch hier gibt es eine Wandelhalle, denn hier entspringt Bad Wildungens prominenteste, die Helenenquelle. In siebzig Meter Tiefe sprudeln durchschnittlich dreißig Liter pro Minute.
Friedrich Seibel steht an der öffentlichen Zapfstelle und beobachtet, wie ein Ehepaar heranspaziert kommt, einen Plastikbecher zückt und von der Helenenquelle trinkt.
"Ich sage immer: die Bad Wildunger Heilquellen sind nicht nur für die Urologie, man vergibt's mir jetzt einfach mal, ich hab mal ganz laut gesagt: Die Bad Wildunger Heilwässer sind nicht nur zum Pinkeln da, sondern auch für den gesamten Mineralienhaushalt des Körpers."
Auch die nächsten Gesundheitsreformen wird Bad Wildungen überstehen. Weil dann noch Heilwasser fließt, vor allem aber ist der Ort mit seiner Kliniklandschaft gut aufgestellt.