Ermittlungen an einem mysteriösen Ort
Wie geheimnisvoll ist das echte Twin Peaks? Wie skurril sind die Menschen vor Ort? Juliane Schiemenz ist hingefahren, um der Magie der Kult-Serie von David Lynch näherzukommen. Sie stellte fest: Für den, der sich darauf einlässt, ist Twin Peaks real.
"Diane, 11 Uhr und 30 Minuten, 24. Februar. Ankunft in der Kleinstadt Twin Peaks. Sieben Kilometer südlich von Kanada, 15 Kilometer westlich der Staatsgrenze. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Bäume gesehen." – Das sind die ersten Worte, die FBI-Agent Dale Cooper in der US-Fernsehserie Twin Peaks in sein Diktiergerät spricht. Sie sind an seine Sekretärin Diane gerichtet, während er durch die tiefen Wälder im Nordwesten der USA fährt.
Am 23. Juli 2015, 17 Uhr und 30 Minuten, diktiere ich in mein Smartphone: "Diane, Ankunft in Twin Peaks. Ich habe noch nie in meinem Leben so viele Bäume gesehen." Ich fahre durch die tiefen Wälder im Nordwesten der USA, etwa eine Stunde entfernt von Seattle. Ich bin dort, wo Twin Peaks gedreht wurde! Und kann es kaum fassen. Und schiebe die CD mit dem Serien-Soundtrack ins Autoradio.
Morgen beginnt das alljährliche "Twin Peaks Festival". Mein Motel ist wie auch alle anderen Unterkünfte in der Gegend komplett ausgebucht mit Fans. Gleich an der Rezeption treffe ich Emmee aus Portland. Wie ich war auch sie damals sofort infiziert.
"Ich habe nie irgendetwas Vergleichbares im Fernsehen gesehen. Es war so fesselnd. Die Eröffnungsszene, wenn Laura Palmer gefunden wird am Flussufer – das hat dich einfach sofort reingezogen und gepackt."
Wer hat die 18-jährige Laura Palmer getötet? Das ist die zentrale Frage in Twin Peaks. In der Pilotfolge wird Laura, in Plastikplane gewickelt, an einem Flussufer gefunden. FBI-Agent Dale Cooper kommt in die Stadt, um den Mord aufzuklären. Aber in der Serie geht es um viel mehr. An der Oberfläche mag Twin Peaks ein Krimi sein – doch darunter liegen das Unterbewusste und Träume, unheimliche Symbole und groteske Figuren. Genau das faszinierte auch Emmee.
Twin Peaks: Etwas lauert unter der Oberfläche
"Der Grund, dass es mich nicht losgelassen hat so lange, bis zum heutigen Tag, ist die Vorstellung, dass da immer etwas unter der Oberfläche des normalen Lebens lauert."
Emmee ist um die Vierzig. Als die Serie Anfang der Neunziger im Fernsehen lief, war sie ein Teenager und konnte sich mit den Figuren in der Serie identifizieren. Wir machen uns auf den Weg zum feierlichen Auftakt des Festivals, zum "Celebrity Dinner".
Jedes Jahr kommen einige Twin-Peaks-Darsteller zum Festival, plaudern über Anekdoten von den Dreharbeiten und beantworten Fragen der Fans. Eine von ihnen ist Catherine Coulson, sie spielt die Log-Lady, eine Frau, die stets einen kleinen Holzstamm mit sich herumträgt, der ihr mystische Botschaften zuflüstert. Klingt verrückt? War es auch. Sogar für die Schauspielerin selbst.
"Ich habe ehrlich gesagt nicht alles verstanden, was ich da gesagt habe. (Lachen) Ich hasse es, dass ich das als Schauspielerin öffentlich zugeben muss."
Regisseur David Lynch ist in über 20 Jahren noch nie beim Festival aufgetaucht, lässt aber Botschaften übermitteln, die dann von den Schauspielern vorgelesen werden. In diesem Jahr sind alle besonders aufgeregt, denn es ist nun offiziell: 2017 kommt die dritte Twin Peaks Staffel ins Fernsehen. Catherine Coulson liest die diesjährigen Lynch-Worte vor.
"Er sagt: Wir leben in einer Welt, in der es nichts wirklich Geheimnisvolles mehr gibt, in der das Mysteriöse nicht mehr wertgeschätzt wird. Deshalb möchte ich eine Welt wiederentdecken, in der jeder selbst herausfinden kann, was das wirklich Geheimnisvolle ist."
Was ist das wirklich Geheimnisvolle? Mich hat an der Serie stets die geheimnisvolle Landschaft interessiert, der Nebel, dunkle Wälder, unheimliche Eulen in den Baumwipfeln. In den nächsten Tagen hoffe ich, dem Geheimnis von Twin Peaks näher zu kommen. Am nächsten Morgen erwartet uns Festivalbesucher zu den Drehorten.
Vor 25 Jahren rückten hier Reisebusse voller Twin-Peaks-Fans an. Das hat zwar nachgelassen, aber noch immer kommen Touristen, um die Fernsehbilder mit der Realität abzugleichen. Mit unseren Fotoapparaten bewaffnet strömen wir wie eine Horde japanischer Touristen in den Bus. Festival-Organisator Rob macht uns den fröhlichen Touristenführer. Rob ist um die 50, hat eine Glatze, arbeitet beim Militär und man tut besser, was er sagt. Er schnappt sich ein Mikrofon und beginnt sein Unterhaltungsprogramm. Rob hat noch einen leichten Kater vom Vorabend, was auch unsere Busfahrerin Kelly zu spüren bekommt.
"Könnt ihr mich hören? Gut! Ich will wirklich nicht rumschreien müssen. Ich bin normalerweise ziemlich gut im Herumschreien, aber tut mir leid, Leute, die Dehydration hat mir ordentlich in den Hintern getreten. So, haben alle eine gute Zeit gehabt gestern Abend? (Yeah...) So, an alle, die schon mal dabei waren, hab ich es bisher gut gemacht? (Yeah...) Okay, es hat also niemand 15 Kilo ausgeschwitzt beim Bankett gestern, so wie im letzten Jahr? (No) Na Gott sei Dank! Okay, so, wie ist ihr Name, Mam? – Kelly. – Okay. Sagt alle 'Good Morning, Kelly!' – ('Good Morning, Kelly!')– Allright ... Kelly wird heute ihr Pilot sein. Sie macht hervorragende Arbeit …"
Rob hockt neben mir auf dem freien Platz und bespaßt den ganzen Bus. Er reicht alte Fotos der Drehorte herum, die wir dann mit dem Zustand heute vergleichen können. Twin Peaks ist eigentlich zwei Städte. Teile der Serie wurden in Snoqualmie gedreht, Teile in North Bend. Snoqualmie hat um die 10.000 Einwohner, North Bend circa 6000. Aber der eigentliche Star der Serie ist die Natur. Wir sind hier fast in Kanada, die Wälder sind dunkel und dicht, Rob gerät ins Schwärmen...
"Wie ihr seht: Wir haben hier diese wunderschönen Nebelschwaden direkt vor uns und dahinter die Bäume. Ihr solltet davon definitiv ein paar Fotos machen, während wir langsam aus dem Nebel rausfahren. Und dann werdet ihr auch verstehen, warum David hier drehen wollte."
Rob hat Recht: Diese Wälder, die Wolken, mächtige Wasserfälle – das ist ein Anblick, der niemanden kalt lässt. In der Ferne sehe ich die Namensgeber der Serie thronen: Twin Peaks – zwei Gipfel. Der Mount Si, etwa 1200 Meter hoch, liegt so breit da wie der Ayers Rock. Davor sein kleiner Bruder, Little Si, knapp 500 Meter hoch. Je länger ich Rob zuhöre, desto klarer wird mir, wie sehr er diese Gegend liebt. Vielleicht ist die Landschaft der Schlüssel, um Twin Peaks zu verstehen. Sie hat wirklich etwas Magisches, Nebelschwaden steigen aus den Baumwipfeln wie lang gehütete Geheimnisse.
"Das passiert nur, wenn der Regen da ist, als ich heute Morgen gesehen habe, dass es regnet, da war ich ehrlich gesagt froh, denn ich wollte, dass ihr das erlebt. Denn wenn die Sonne scheint, dann seht ihr einfach nur jede Menge schöne Bäume. Aber für mich ist es der Nebel. Das sieht einfach so hammerhart aus, ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll. Es hat einfach diese spirituelle, surreale Stimmung."
Seriengetreu nachgebautes Ortseingangschild
Die Stimmung an diesem Tag ist wirklich unwirklich. Irgendwann stoppt der Bus am Ortseingangsschild von Twin Peaks. Das hat ein Fan-Ehepaar seriengetreu nachgebaut und genau an der Stelle aufgebaut, wo es auch im Vorspann immer zu sehen ist. Echt surreal wird es dann beim nächsten Stopp.
Ich stehe am Strand, neben einem riesigen alten Holzstamm, der irgendwann mal angespült wurde und beobachte das Ganze lieber aus sicherer Entfernung. Wellen schwappen gegen meine Füße.
Eine Festivalmitarbeiterin fordert die anderen unterdessen auf, sich in einer Reihe aufzustellen. Dann lassen sie sich nacheinander in eine Plastikplane einwickeln und legen sich in den Sand. Sie stellen am Originaldrehort die Szene nach, in der die tote Laura Palmer in eine Plastikplane gewickelt gefunden wird.
Der Hintermann in der Schlange kriegt jeweils das Smartphone des Opfers und macht ein Erinnerungsfoto.
Während des Festivals gibt es für die Teilnehmer vier Tage lang eine ganze Reihe solcher Fan-Aktivitäten. Beim traditionellen Picknick zum Beispiel schaufeln wir massenhaft Kirschkuchen in uns herein und trinken literweise schwarzen Kaffee. Weil FBI-Agent Dale Cooper den so liebte. Und werfen auch mit Steinen auf einen Blecheimer.
Dabei geben sich die Werfenden verrückte Namen wie Jar Jar Bings aus Star Wars oder John Jacob Jingleheimer Schmidt nach einem amerikanischen Kinderlied.
Was für Außenstehende völlig seltsam klingt, lässt sich für Twin-Peaks-Insider ganz einfach so erklären: Cooper ist in der Serie Anhänger des Tibetischen Buddhismus und versucht, in einem spirituellen Ritual mittels Steinwurf den Mörder zu finden.
Um ehrlich zu sein: Die abgedrehten Fan-Aktionen kommen mir manchmal etwas komisch vor. Und ich frage mich, ob das Festival wirklich hilft, um dem Geheimnis von Twin Peaks auf die Spur zu kommen. Aber offensichtlich lieben die Leute es, verrückte Szenen aus der Serie nachzustellen. So auch Thor Amli, der einen kleinen Twin-Peaks-Fanfilm gedreht hat und damit den festivalinternen Kurzfilm-Wettbewerb gewonnen hat. Thor ist extra aus Norwegen angereist. Er sagt, Twin Peaks sei ein bisschen wie sein Heimatland.
"Es ist so schön, es ist so gruselig, und es erinnert mich irgendwie an Norwegen. Die Wälder, die seltsamen Leute, all die Originale, das Schrullige. Für mich schauspielern die Schauspieler nicht. Sie sind, wer sie sind. Das ist es, was ich an Twin Peaks liebe. Ich sehe das nicht als Schauspielern, es ist, als ob man einen Dokumentarfilm anschaut."
Aber nicht nur die Serie selbst hat eine ganz besondere Stimmung für Thor. Auch während des Festivals gibt es eine Sache, die ihn fasziniert:
"Ich glaube, David Lynch hat hier seinen Lieblingsknopf gedrückt und das ist der 'Zeitlupe'-Knopf. Die Zeit vergeht wirklich langsam, aber ich habe so viel Spaß ununterbrochen. Es ist also wirklich seltsam, dass die Zeit nicht fliegt, denn ich habe das Gefühl, dass sie zu schnell vergeht. Aber wenn ich auf die Uhr schaue, ist sie so langsam vergangen."
Twin Peaks wurde Anfang der 90er zum Fernsehereignis
Viele Menschen von überall her sind zum Festival gekommen. Die Teilnehmerzahl ist auf 300 begrenzt, die Tickets sind jedes Jahr binnen weniger Stunden ausverkauft. Während ich zwischen Kirschkuchen und Kaffee den Gesprächen lausche, treffe ich sogar einen deutschen Festivalteilnehmer, Oliver, 42. Auch in Deutschland wurde "Twin Peaks" Anfang der Neunziger für viele zum Fernsehereignis. Oliver erinnert sich noch genau daran, wie er auf die Serie aufmerksam wurde.
"Ich hatte in der Bildzeitung die Schlagzeile gelesen: Wer hat Laura Palmer umgebracht. Ab heute auf RTL II. Und ich dachte mir so: Hm, klingt wie ein Krimi."
Aber nur ein Krimi – das war es dann doch nicht. Twin Peaks ist durch seine ganz eigene Ästhetik zum Vorreiter für große, düstere TV-Serien wie Akte X oder Breaking Bad geworden. Oliver war damals ziemlich geflasht von dem, was er da in der ersten Folge sah.
"So ganz helle Farben, es ist gar nicht so düster gewesen wie ein Krimi, komische Gestalten, jetzt nicht nur so deutsche spießige Sachen. Du hast Leute gehabt, die komplett irre waren. Also Charaktere, die kein Mensch gezeichnet haben kann, der grad nicht auf Drogen war oder David Lynch geheißen hat. Und als die ersten anderthalb Stunden um waren – ich war total hin und weg von dem Ding. Also Twin Peaks hat mich komplett in den Bann gezogen."
Und so wird man zum Twin-Peaks-Nerd? Oliver findet, dass der Begriff "Nerd" für die Festivalteilnehmer nicht passt. Sicher, sie sind begeistert von der Serie, aber sie sind für ihn keine Freaks, die nur für diese Serie leben oder lediglich anreisen, um die Stars zu treffen.
"Also es ist kaum jemand hier, wo du sagen würdest, der ist jetzt nur hier, weil er die Celebrities sehen möchte, drei, vier Autogramme abholt und dann weg ist. Sie finden Twin Peaks geil, sie finden die Gegend geil, sie mögen die Leute, mit denen sie hier zu tun haben. Ich war auf der 'Big-Lebowsky-Convention' schon, 'Lebowsky-Fest' - das waren Nerds. 'Star Wars – Fest' - das waren Nerds. Das hier ist ein anderes Publikum."
Und trotzdem sind die Einwohner von Northbend und Snoqualmie oftmals genervt von den Twin Peaks-Pilgern.
"Also ich weiß, dass viele Anwohner überhaupt nicht begeistert sind. Die Verkehrswege sind nicht dafür ausgelegt, dass hier hunderte von Autos mehr durchrauschen jeden Tag. Die Lokalen haben Angst davor, dass diese ganzen Twin Peaks-Leute, die jetzt vermehrt auch wieder in die Stadt kommen, eben nicht nur während des Festivals, dass die die Straßen immer mehr versperren als sie bereits versperrt sind. Und dass sie sozusagen wie die Heuschrecken kommen, alles abgrasen und wieder gehen."
Als nächstes gibt es eine Drehort-Begehung mit Josh Eisenstadt. Josh kennt die Serie in und auswendig, er kann jeden Stein, jedes Grasbüschel zeigen, das in Twin Peaks mitgespielt hat. Er ist der wahre "Celebrity" dieses Festivals. Die Leute beten ihn an, sie hängen an seinen Lippen. Und entsprechend wird er anmoderiert.
"Josh hat 15 Jahre gewartet darauf, diese Drehorttour zu machen mit euch. Sein Kopf wird also explodieren. Also, wer ist bereit für die Tour? (Jubel) Das ist großartig! Also Josh, du bist dran!"
Dann beginnt Josh seine Drehort-Tour an der Stelle, wo sich die Fans eben noch in Plastik wickeln ließen.
"Wie geht es euch allen? So, das mag jetzt für manche hier eine Überraschung sein, aber dies hier ist der Ort, an dem Laura Palmer gefunden wird." (danach Lachen und Reaktionen der Zuhörer)
Etwas "nerdig" wird es dann doch. Als Josh den Fans zeigt, wo sich der Ententeich aus dem Vorspann befindet. Und wir tatsächlich darüber fachsimpeln, ob die im Film gezeigten Enten überhaupt echt waren.
Josh kann jeden Satz, der in allen Twin Peaks- Episoden gesprochen wird, auswendig. Auf dem Rückweg zum Motel fahre ich mit ihm im Auto. Endlich eine Gelegenheit, mit dem Twin-Peaks-Experten über das Geheimnis der Serie zu sprechen. Wird er mir helfen, es zu ergründen? Zwischenzeitlich hatte ich es nämlich schon fast aufgegeben.
"Es hat auch extreme Dunkelheit"
Nachdem Josh die ganze Zeit von den Festival-Teilnehmern umringt war und sie unterhalten hat, wirkt er plötzlich sehr nachdenklich. Er blickt aus dem Fenster. Genau wie Twin Peaks hat auch er ein Geheimnis.
"Ich will nicht über mein Privatleben erzählen, aber das berührt mich grad jetzt zutiefst, da ich ein sehr schwieriges letztes Jahr hatte: Dunkelheit kann einen Kontrast zum Licht bilden, der dich dazu bringt, das Licht zu würdigen. Das ist die beste Art, wie ich es ausdrücken kann. Ich denke, Twin Peaks hat das. Es hat die Schönheit und die Liebe und die Magie und das Geheimnis und es hat auch extreme Dunkelheit."
Tränen stehen in seinen Augen, als er weiter über die Serie und seine Verbindung zu ihr spricht. Josh interpretiert Twin Peaks als Parabel auf das Leben, in dem wir alle unsere Geheimnisse mit uns herumtragen, unsere kleinen Dunkelheiten. Er sieht das beste Beispiel dafür in der Hauptfigur Special Agent Dale Cooper. Cooper wirkt perfekt. Als ihm die Frage gestellt wird, ob er irgendwelche Geheimnisse habe, da antwortet der FBI-Mann mit einem ganz entschiedenen: Nein.
"Aber wir finden schon bald heraus, dass das nicht stimmt. Cooper hat sogar ein großes Geheimnis. Nämlich den Fakt, dass er mit der Ehefrau seines einstigen Partners und besten Freundes geschlafen hat. Er hat sich in sie verliebt. Und das hat am Ende dazu geführt, dass sie ermordet wurde. Er hat also auch Geheimnisse. Und so perfekt Dale Cooper auch wirkt – wir sehen, dass er es nicht ist. Jedes menschliche Wesen ist so kompliziert. Niemand ist einfach. Und jeder hat eine Geschichte, so viele komplexe Dinge in sich vorgehen. Niemand ist nur eine Oberfläche."
Josh blickt auf die Wälder, die draußen vorbeiziehen. Was wohl in ihm vorgeht? Ich werde es nicht erfahren. Den Rest der Fahrt hängt jeder von uns ein wenig seinen Gedanken nach. Als wir wieder im Motel ankommen, verabschiede ich mich von Josh.
Ich bin ihm dankbar. Hat er mich doch dem Geheimnis von Twin Peaks einige entscheidende Schritte näher gebracht.
Und welcher Ort würde sich besser eignen, um nochmal über das, was Josh gesagt hat achzudenken als die Snoqualmie-Wasserfälle. Sie liegen nur ein paar Kilometer vom Motel entfernt.
… und sind mit über 80 Metern dreißig Meter höher als die Niagarafälle. Ich stehe auf der Aussichtsplattform und blicke auf die donnernden Wassermassen. Und kann verstehen, warum die indigene Bevölkerung dieses Land seit jeher als heiligen Kraftort verehrt, von dem eine ungeheure Energie ausgeht. Diese besondere Stimmung der Landschaft steckt auch in der Serie. Vielleicht ist auch das mit ein Grund, warum sie noch immer so viele Leute fasziniert.
Unmittelbar am Wasserfall steht das berühmte Hotel "Salish Lodge". In Twin Peaks heißt es "Great Northern", in der Serie wohnt Agent Dale Cooper hier während seiner Ermittlungen. Heute ist das Hotel ein Spa-Ressort mit Zimmern ab 300 Dollar pro Nacht, Whirlpool inklusive. Hier habe ich mich mit Rod Lapasin verabredet, dem Manager. Im hoteleigenen Souvenirshop zeigt er mir, womit hier das meiste Geld verdient wird.
"So das sind also ein paar von den Twin Peaks Sachen, die man hier in unserem 'Country Store' kaufen kann. Hier haben wir die Tasse mit dem Satz 'Eine verdammt gute Tasse Kaffee', Dale Coopers liebsten Spruch, hier ist noch ein Kaffeepott, Kaffee gibt es auch. Wir haben viele Sachen mit Eulen, weil es ja auch um Eulen geht in der Serie, hier haben wir verschiedene T-Shirts."
Doch trotz der guten Geschäfte mit den Touristen spürt Rod Lapasin auch Skepsis bei den Anwohnern. Manche sorgen sich, dass der Twin Peaks Tourismus zu viel wird für die Gegend, wenn eine dritte Staffel ins Fernsehen kommt. Lapasin, der Geschäftsmann, sieht das pragmatisch.
"Jeder hat da seine eigene Meinung, wir können es natürlich nicht wissen, bis es dann wirklich passiert. Aber ich denke, dass jede Form von Öffentlichkeit Snoqualmie hilft, bekannter zu werden."
Abends sitze ich auf dem Bett in meinem Motel-Zimmer und tauche nochmal in einige Twin Peaks-Episoden ein. In einer Folge erklärt der Sheriff von Twin Peaks dem FBI-Agenten, dass die Stadt ein Geheimnis hat.
Twin Peaks Ausschnitt: "Cooper, versuchen sie einfach, mir zuzuhören. Ich weiß auch, es klingt verrückt." – "Ich versuch es." – "Twin Peaks ist was Besonderes, weit weg von der Welt, das wissen sie." – "Ja, das weiß ich." – "Und genau so wollen wir´s auch haben. Aber es gibt eine, eine Kehrseite der Medaille. Und die ist auch was Besonderes. Vielleicht ist das der Preis, den wir für die guten Sachen bezahlen. Da draußen gibt es etwas Böses, etwas völlig Fremdartiges in den alten Wäldern. Nennen sie´s wie sie wollen: Eine Dunkelheit, ein Wesen. Es nimmt viele Formen an. Aber dieses Böse gibt es schon so lange, wie wir überhaupt denken können. Und wir haben immer dagegen gekämpft."
In den Wäldern also findet man das Geheimnis von Twin Peaks. Verbergen die dunklen Tannen etwas Böses? Von Massenmördern habe ich gehört und von der Sagengestalt Bigfoot, halb Mensch, halb Tier, sogar einen Bunker soll hier jemand über viele Jahre unbemerkt gegraben haben. Danach hat er seine Frau und seine Tochter umgebracht. Das klingt doch fast nach Twin Peaks! Was ist Realität, was ist Fiktion? Die seltsame Stimmung der Landschaft jedenfalls trägt eine ganze Fernsehserie. Und sie packt mich immer mehr. Die Bäume, der Nebel, der Wasserfall – heute erst draußen und dann nochmal jetzt hier (mit Weichzeichner) auf dem Bildschirm meines Laptops.
David Lynch kämpfte um Drehgenehmigung für Sägemühle
Am nächsten Morgen sitze mit Dick Ryon im Auto. Wir sind unterwegs zum Gelände der einstigen Sägemühle, dem großen Arbeitgeber der Region für viele Jahrzehnte. Der Holzboom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, das muss hier sowas wie der Goldrausch gewesen sein. Die Sägemühle hatte David Lynch als einen der Drehorte auserkoren. Jeder, der einmal Twin Peaks geschaut hat, kennt sie aus dem Vorspann. Um die Dreherlaubnis zu bekommen, musste Lynch an Dick Ryon vorbei, der damals der Flächennutzungsmanager der Mühle war.
"Es war lustig, wie David Lynch hier aufgetaucht ist. Wir wussten nicht, dass er kommen würde. Er hatte einen Termin und kam zu unserem Sägewerk, aber wir wussten nicht mal, wer er war. Er tauchte einfach auf mit seiner Entourage und sagte: 'Ich will mit jemandem darüber sprechen, dass ich die Mühle für einen Film benutzen kann.' Meine Aufgabe als Flächennutzungsmanager war es, mit Situationen wie dieser entweder umzugehen oder ihn wieder loszuwerden. In diesem Fall sahen wir eine Chance."
Und so machte Dick Ryon einen Deal mit dem Hollywood-Heini: Lynch durfte seine Serie drehen, aber er musste noch zusätzliches Filmmaterial produzieren: Lynch sollte die sterbende Holzfällertradition dokumentarisch festhalten. Er filmte die Mühle bevor sie Stück für Stück geschlossen wurde.
"Er war damit einverstanden, seine Kameras drei Tage lang überall in unserem Sägewerk aufzustellen, 24 Stunden am Tag, und historisch genau zu filmen, wie diese Mühlen arbeiten. Es war eine Win-Win-Situation für David Lynch und für die Mühlenbetreiber Weyerhaeuser."
Jetzt sind wir da, wo einst die riesige Sägemühle stand. Einem Twin Peaks Fan wie mir bricht dieser Anblick das Herz: Fast alle Gebäude sind abgerissen. Nur noch ein kläglicher Rest steht da, weil er denkmalgeschützt ist, ein Haus und ein Schornstein. Auf dem Brachland kreisen die Rennwagen einer Rallye-Fahrschule. Einige Fahrer kommen heran und hören belustigt zu, während Dick Ryon erzählt, wie er David Lynch das erste Mal traf. Der Regisseur sei wie ein echter Fernsehfuzzi mit wehendem Ledermantel in die Sägemühle gestürmt.
"Er läuft einen Steg entlang, der oben durch die Mühle führte und zeigt auf dies und das und dann bleibt er wie angewurzelt stehen und ruft 'Stopp!' Und die Leute hinter ihm stoppen und purzeln fast übereinander. Dann nimmt er einen tiefen Atemzug und sagt 'Riecht das Pinienholz!' Und ich sagte: 'Mister Lynch, das sind keine Pinien, das sind Tannen.' Er hatte jemanden dabei, der alles mitgeschrieben hat und er sagte zu ihm: 'Mach eine Notiz: Das sind Tannen!' Deshalb ist es dann so gekommen, dass Cooper in der Serie sagt 'Riechen sie nur diese Douglas-Tannen!' Aber David Lynch ist ein typischer Kalifornier, der denkt, dass alles Pinie ist, denn dort unten haben sie ja nur das. Naja, wie auch immer."
Mit seiner Korrektur also, die schon an Gotteslästerung grenzt, schaffte es Dick Ryon ins Drehbuch von Twin Peaks.
Überschneidungen zwischen Fiktion und Realität
Meine Zeit in Twin Peaks geht langsam zu Ende. An einem meiner letzten Tage ist das große "Mount Si Festival". Die Bewohner der Gegend feiern ihre Berge mit einer typischen amerikanischen Straßenparade. Für mich ist das eine letzte Gelegenheit, mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Ich treffe Tina McCollum. Etwas abseits vom Trubel erzählt sie mir, dass sie allen Ernstes wegen der Serie hier her gezogen ist.
"Ich denke, ich war fasziniert von den Bildern im Vorspann der Serie, dann auch die Musik, sie war eindringlich und verführerisch. Und als ich das erste Mal hierher kam, wollte ich die Landschaft einfach nur sehen. Und dann wusste ich, dass ich hier meine Kinder aufziehen will. Der erste Ort, an dem ich nach einem Haus Ausschau gehalten habe, war die Twin Peaks-Gegend. Das dritte Haus, das ich mir angeschaut habe, habe ich sofort gekauft. Und jetzt leben wir im Wald, das ist wirklich sehr typisch so wie es auch in der Serie ist. Mich hat es hier hergezogen wegen dem Grün und den Bäumen und den Bergen. Und wahrscheinlich sind es auch die Wolken. Die Wolken tun, was sie wollen. Sie sind magisch auf ihre eigene Art."
Aber Tina sieht noch mehr Überschneidungen zwischen Fiktion und Realität. Auch die Menschen hier wirken auf sie teilweise wie (aus) der Fernsehserie entsprungen.
"Ich würde sagen es gibt hier eine Menge Schrulligkeit, einzigartig, verglichen mit anderen Städten, in denen ich gelebt habe sind hier sehr viele verschiedene Persönlichkeiten, aber sie mischen sich sehr harmonisch. Das ist sehr wichtig, denke ich. Den Menschen ist es erlaubt, zu sein, wie sie sein wollen. Ich glaube wegen der Schönheit der Serie wollte ich sehen: Gibt es wirklich einen solchen Ort? Und David Lynch hat die Magie dieser Gegend eingefangen mit den Wolken und den Bergen und den Bäumen. Und ich wollte das sehen. Ich habe es gefunden, und hier bin ich also."
Tina lebt nun schon viele Jahre in ihrem realen Twin Peaks. Und genau wie Josh schafft sie es, mich dem Geheimnis dieses Ortes noch ein Stück näher zu bringen. Für mich steht jetzt fest: Es geht nicht darum, endgültig zu ergründen, ob es hier eine spezielle Energie gibt oder nicht. Es geht nicht darum, das rational zu erklären oder Beweise zu sammeln. Entweder man fühlt es, oder man fühlt es eben nicht. So einfach ist das.
"Entweder magst du es oder eben nicht. Wenn du Regen magst, Wolken und die Dunkelheit des Waldes genauso wie das Licht und seine Textur. Also ich war sofort total begeistert. Da gibt es also einerseits die Tiere, die faszinierende Tierwelt hier. Sie beobachten uns und wir bemerken nicht, dass sie da sind. Und dann ist da noch das Mysterium darum, was dort wohl sonst noch ist. Ist es Bigfoot? Sind es UFOs? Wer weiß. Aber es gibt hier etwas Magisches, Mystisches, das wirklich unbeschreiblich ist, man muss es einfach fühlen."
Man muss es einfach fühlen, hat Tina gesagt. Ja, ich habe es gefühlt, denke ich auf meinem Rückweg zum Flughafen nach Seattle. Twin Peaks ist real, für den, der sich darauf einlässt. Twin Peaks kann jeden ergreifen, der bereit ist, sich dieser Landschaft und dem Unerklärlichen hinzugeben. Das war und ist das Erfolgsgeheimnis der Fernsehserie, die 2017 nach über 25 Jahren weiter gehen – und sicher neue und alte Fans in ihren Bann ziehen wird.
Dieser Beitrag ist eine Wiederholung vom 6. März 2016.