Filmkunst im Streaming-Zeitalter
Im Jahr 2024 sind wieder mehr Menschen in die Programmkinos gegangen als im Vorjahr. © imago / Köhn
Zurück in die Kinos!
![Ein voller Kinosaal Ein voller Kinosaal](https://bilder.deutschlandfunk.de/78/56/f1/21/7856f121-1a32-46ae-983d-86ec6928b93e/voller-kinosaal-102-1920x1080.jpg)
Programmkinos haben wieder etwas mehr Zulauf, auch jüngere Menschen haben öfter Lust auf einen Kinoabend. Warum ein Kinobesuch noch immer die beste Art ist, sich einen Film anzusehen.
Manchmal gibt es auch gute Nachrichten: So haben im letzten Jahr die Programmkinos in Deutschland verglichen mit dem Vorjahr mit einem Plus von über drei Prozent abgeschnitten. Zwar sind die Ticketverkäufe in Kinos insgesamt rückläufig, doch darunter leiden aktuell nur die großen Kinoketten. Das Interesse an Arthaus-Filmen und Filmklassikern hingegen wächst – aktuell vor allem unter Jüngeren.
In Kürze startet die Berlinale, ein Fest der Filmkunst und des Kinos. In legendären Berliner Lichtspielhäusern wie dem Kino Arsenal, dem Delphi oder dem Colosseum Filmtheater werden dann wieder Premieren großer und kleiner Filme gefeiert. Eine gute Gelegenheit, mal wieder eine Lanze fürs Kino zu brechen.
Die einzig wahre Traumfabrik
Ein Kinobesuch gleicht einem Ritual, das alle Sinne anspricht. Der Duft von frischem Popcorn, die Platzwahl, das Ausgehen der Lichter, das Verstummen der Gespräche und das Öffnen des Vorhangs sind Teile einer Inszenierung, die sich seit dem Beginn des Kinos kaum verändert hat.
Aus gutem Grund: Gemeinsam tauchen die Kinozuschauer ab in eine Welt aus Bildern und Klängen. Heimkino ist die LP, Kino das Livekonzert. Selbst der fetteste Bass eines Heimkino-Subwoofers massiert einem nicht so den Bauch wie die zahlreichen, bestens auf den jeweiligen Saal ausgesteuerten Lautsprecher im Kino. Und auch der tollste, auf die Wohnzimmerwand gerichtete 4k-HDR-Heim-Beamer ersetzt keine große Kinoleinwand.
Ein Besuch im Kino bedeutet volle Konzentration auf den Film. Und die Immersion ist nur dann vollkommen, wenn man während eines Films nicht gleichzeitig auf sein Handy starren oder mal eben auf Pause drücken kann, um sich ein Getränk aus dem Kühlschrank zu holen.
Auch neue Filme sind fürs Kino gemacht
Durch die Angebote der Streamingdienste sind die Unterschiede zwischen TV und Kino in den letzten Jahren immer mehr verschwommen. Die aufwändigen Produktionen, die heute bei Netflix, Disney Plus, Prime Video und Co. laufen, haben so gut wie nichts mehr mit den Fernsehfilmen der Vergangenheit gemein. Erfolgreiche Streamer-Serien wie „Squid Game“, „The Mandalorian“ oder „Yellowstone“ stehen Kinoproduktionen meist in nichts nach.
Vielleicht gerade deshalb machen große aktuelle Regisseurinnen und Regisseure wie Jordan Peele, Greta Gerwig oder Yorgos Lanthimos ihre Filme wieder explizit fürs Kino. Wenn Robert Eggers jeden Knopf im Kostüm der Jacke seiner Darsteller in „The Lighthouse“ auf ihre historische Authentizität prüft oder Ruben Östlund minutiös genau den Schneestaub einer Lawine in „Höhere Gewalt“ rekonstruiert, dann tun sie das nur aus einem Grund: für die Wirkung auf der großen Leinwand.
Gemeinsames Erleben
Von der freudigen Erregung bei Beginn des Films über den gemeinsamen Schreckmoment, das herzhafte Lachen oder das heimliche Wegwischen der Tränen: Ein Kinobesuch ist ein Moment des gemeinsamen Erlebens, der Empathie. Für etwa 90 Minuten teilt man sich einen Raum mit Wildfremden oder mit Freunden, im besten Fall immer mit Gleichgesinnten.
Christian Bräuer, Co-Geschäftsführer der Yorck-Kino GmbH, berichtet, dass immer mehr jüngere Menschen zu Sneak-Klassiker-Vorstellungen kommen. Zu den Filmklassikern zählen schon lange nicht mehr nur Werke aus den Vierzigern oder Fünfzigern, sondern auch modernere Klassiker wie „Blade Runner“, „In the Mood for Love“ oder „Pulp Fiction“.
„Viele Millennials lieben Arthouse und lieben Kino für dieses Gemeinschaftserlebnis. Es geht im Kino um das Zusammenkommen mit anderen Menschen – gerade in diesen speziellen Reihen – mit Menschen, die gleiche Leidenschaften und Interessen haben“, so Bräuer. „Gerade in einer Zeit voller Verunsicherung, Spannungen, Aggression und in einer Zeit, die bei allen Vorteilen der digitalen Medien auch eine gewisse Hektik hat. Wo sich Leute diese Räume suchen, der Entschleunigung und des Zusammenkommens.“
Im Kino kann man sich beim Besuch des Lieblingsfilms als Teil eines Zirkels von Eingeweihten fühlen. Vergleichbar ist damit wohl nur das Konzert der Lieblingsband im Club um die Ecke. Und der anschließende geplante oder spontane Austausch über den Film bei einem Wein oder Kaffee gehört für viele Kinobesucherinnen und -besucher unbedingt dazu.
Der gigantische finanzielle Erfolg von „Barbie“ und „Oppenheimer“ 2023 oder aktuell des „Wicked“-Musicals hat vor allem damit zu tun, dass eine jüngere Generation das Kino wieder für sich entdeckt hat. Gerade nach der Pandemie boten diese Filme eine Möglichkeit für junge Menschen, eine gemeinsame Leidenschaft zu feiern.
Kinos erzählen selbst Geschichten
Ob das Casablanca in Nürnberg, die Schauburg in Karlsruhe oder das B-Movie in Hamburg: In Programmkinos atmet man förmlich Filmgeschichte. Von der Möblierung über die Auswahl an Speisen und Getränken bis hin zu den Postern und Aufstellern: Jedes Kino ist anders und hat seinen ganz eigenen Charakter.
Manche Kinos werden von einem Verein betrieben, andere gehören zu einer Kinokette, wieder andere sind in kommunaler Hand. So oder so: Die filmischen und gestalterischen Vorlieben der Betreiberinnen und Betreiber spiegeln sich in ihren Foyers und Sälen. Auch große Multiplexe setzen heute auf eigene, oft lokale Akzente.
![Kinosaal und Leinwand des Kino International in Berlin. Kinosaal und Leinwand des Kino International in Berlin.](https://bilder.deutschlandfunk.de/91/09/73/43/91097343-f55c-415c-b530-3d4f44183c4d/kino-international-berlin-102-1280xauto.jpg)
Der Saal des Kino International, erbaut 1963 in der damaligen DDR.© IMAGO / Emmanuele Contini / IMAGO / Emmanuele Contini
Geschützte Räume in turbulenten Zeiten
Während die mediale Entwicklung rasant voranschreitet und die Gesellschaft sich immer schneller verändert, hat sich an einem Kinobesuch seit hundert Jahren so gut wie nichts geändert. Im gleichen Maße, wie Kinos Orte der Neuentdeckung sind, sind sie auch Räume der Nostalgie. Sei es die sich niemals ändernde Werbung der lokalen Einzelhändler oder der Geschmack des einen Snacks, den man nur im Kino isst (Stichwort Eiskonfekt).
Kinosäle sind darüber hinaus oft safe spaces, zum Beispiel bei Filmgesprächen über kontroverse Themen in Dokumentar- oder Spielfilmen. Auch außerhalb von Filmfestivals laden die meisten Programmkinos Filmemacherinnen und -macher ein und bieten Reihen zu bestimmten gesellschaftlichen oder politischen Themen an. Das macht Programmkinos nicht nur zu einem lebendigen Teil der lokalen Kulturszene, sondern zu unabhängigen Orten für gesellschaftlichen Diskurs. Für Angehörige von Minderheiten sind Kinos auch Orte, an denen sie ihre Identität gemeinsam feiern können.
![Frontalansicht des Eingangs der Schauburg in Karlsruhe. Frontalansicht des Eingangs der Schauburg in Karlsruhe.](https://bilder.deutschlandfunk.de/15/ac/3c/37/15ac3c37-caed-4edc-a4c0-97a007982840/schauburg-karlsruhe-100-1280xauto.jpg)
Bekanntes Programmkino: die Schauburg in Karlsruhe.© picture alliance / ZB / Sascha Steinach
Abwechslung garantiert: die bunte deutsche Kinolandschaft
Vom „Filmcafé“ für Rentner mit Kaffee und Kuchen über Sneak Previews bis hin zur Reihe „Craft Club“, bei der mehrere Generationen zu romantischen Komödien wie „Harry und Sally“ bei halb gedimmten Saallichtern gemeinsam stricken: Landauf, landab bieten Programmkinos wöchentliche Veranstaltungen, kuratierte Filmreihen oder Filmgespräche an. Wer jetzt denkt, so etwas gebe es nur in Großstädten, der studiere mal das Programm seines Kleinstadtkinos.
Es gehört viel Leidenschaft, Selbstaufopferung und Durchhaltevermögen dazu, ein funktionierendes Kino zu betreiben, und reich wird man damit sowieso nicht. Viele Kinos sind auf Unterstützung und Förderung angewiesen. Dennoch bleibt die Anzahl recht stabil: In Deutschland gibt es über 1.700 Kinos, davon etwa 580 Programmkinos. Trotz eines alle Jahrzehnte immer wieder mal behaupteten "Kinosterbens" ist die Kinowelt in Deutschland also nach wie vor lebendig und enorm vielfältig.
Wer jetzt noch immer nicht überzeugt ist, der sollte sehen, welche aktuellen Filme alleine beim Erscheinen dieses Artikels hierzulande exklusiv im Kino laufen, darunter „Nosferatu“ von Robert Eggers, „Der Brutalist“ von Brady Corbet oder „Paddington in Peru“. Also: Raus aus dem Sofa und ab ins Kino!