Martin Böttcher: Seit Jahren steigt der Wohnraum, der uns Deutschen pro Kopf zur Verfügung steht – allerdings hauptsächlich, weil es immer mehr Singlehaushalte gibt. Familien hingegen haben Probleme, großzügige Wohnungen zu finden. Doch statt in günstigere Viertel oder aufs Land abzuwandern, arrangieren sich Familien zunehmend mit ihren kleinen Wohnungen, auch um das lieb gewordene soziale Umfeld zu behalten. Matthias Finger hat sich das Phänomen angeschaut.
In großen Städten steigen die Mieten und die Immobilienpreise. Eine Strategie dagegen ist, sich mit kleinen Wohnungen abzufinden: also zusammenzurücken. Früher wurde sowas mit niederem sozialen Status assoziiert. Ist das Verhalten heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen?
Wenn der Platz für den Nachwuchs fehlt
Matthias Finger: Ja, oder zumindest denken die Leute viel mehr darüber nach. Sie versuchen gerade Eltern mehr aus ihren Wohnungen herauszuholen. Die merken, wenn sie zu viele Kinder haben – was in einer Zweiraumwohnung schon beim ersten Würmchen der Fall sein kann: Ups, wir haben ja gar keinen Platz für ein Kinderzimmer.
Die einfachste Lösung ist: Das Elternschlafzimmer wird zum Kinderzimmer. Und die Eltern? Ziehen auf die Wohnzimmercouch. Neu ist das nicht: Ich bin auch so aufgewachsen – mit meiner Mutter in einer Zweiraumwohnung im Ost-Plattenbau. Aber mittlerweile gibt es zum Glück clevere Alternativen. Zum Beispiel wäre da diese Möglichkeit: Die Küche ins Wohnzimmer verlegen.
Martin Böttcher: Wie, die Küche ins Wohnzimmer verlegen? Da muss doch umgebaut werden. Geht das denn so einfach?
Matthias Finger: In den meisten Fällen ist der Aufwand überschaubar, meint Innenarchitektin Julia. Sie bietet unter anderem Platz sparende Konzepte an und könnte allein von den Umbauten leben, so groß ist die Nachfrage. In ihrer eigenen Wohnung hat sie das – natürlich – auch umgesetzt: Zusammen mit ihrer Tochter Belenn wohnt sie für eine unschlagbar günstige Miete im komplett ausverkauften Prenzlauer Berg auf 47 Quadratmetern. Normalerweise verfügt jeder einzelne Deutsche rein statistisch über so viel Wohnfläche.
Autor: Jetzt sind wir hier vorm Kinderzimmer. Das war vorher die Küche, oder?
Julia: Genau, wenn man bei mir reinkommt, kommt man direkt in die Küche, daneben liegt das Bad und dann habe ich zwei nebeneinanderliegende Zimmer. Und da ich auch ein Kind hab und nicht immer mitspielen will, habe ich mir überlegt: Da ich das Wasser im Bad hab, kann ich egal zu welcher Seite raus. Ich habe sie in die Küche verfrachtet und die Küche in das Zimmer neben das Bad als offene Wohnküche mit Esszimmer.
Martin Böttcher: Heißt: Die Tochter hat in der ehemalige Küche ihr Reich? Und das Wohnzimmer von Mami Julia wurde zur Wohnküche?
Matthias Finger: Ja. Wohnküchen sind mittlerweile hip. Und vor dem ominösen Fisch, der beim Braten alles vollstinkt, hat auch keiner mehr Angst.
Martin Böttcher: Aber so ein Umbau kostet auch Geld. Warum sollte ich für Baumaßnahmen Geld ausgeben, wenn ich nur miete und mir die Wohnung gar nicht gehört?
Matthias Finger: Weil du in deinem Kiez bleiben und viel Geld sparen willst – so paradox sich das anhört.
Julia: Also ich denke, wenn man sich die Mietpreisentwicklung anguckt, dann ist der finanzielle Aufwand definitiv gerechtfertigt, weil er nicht wirklich hoch ist für das, was man im Zweifel an Umzugskosten und wesentlich mehr Miete in einer neuen Wohnung bezahlen würde.
Matthias Finger: So ein Umbau kostet ein paar tausend Euro. Peanuts, denn neu vermietete Wohnungen sind bei steigenden Preisen viel teurer als das, was man vor ein paar Jahren gemietet hat. Für ein Zimmer mehr, zahlt man schnell das Doppelte.
Strom und Gas müssen verlegt werden
Martin Böttcher: Ja gut, aber hier werden Versorgungseinrichtungen und die Nutzung der Räume geändert. Das ist doch sehr aufwendig?
Matthias Finger: Nein, Julia meint: alles nicht so schlimm. Wasser wird mit einem kleinen Durchbruch auf die Rückseite von Bad oder Küche, also in den Nebenraum, verlegt. Starkstromkabel für Elektroherde lassen sich problemlos – gut versteckt – durch die Wohnung ziehen.
Autor: Und wie verlegt man Gas in einen anderen Raum?
Julia: Guck mal hier oben. Das sind einfach diese Kupferrohre. Auch mit einem Loch durch die Wand. Kann man rüberziehen. Bitte nicht selber machen.
Matthias Finger: Die sehen auch ganz cool aus. So ein Umbau dauert maximal ein, zwei Tage und der Vermieter müsste theoretisch zustimmen. Man kann aber auch einfach machen und schlimmstenfalls alles wieder zurückbauen – ebenfalls ohne großen Aufwand.
Martin Böttcher: Zu zweit auf 47 Quadratmetern – da kommt man sich nahe. Fühlen sich die beiden da wohl?
Matthias Finger: Ja. Jeder hat seinen Bereich: Das Kind lebt in der alten Küche. Julia residiert in einem kombinierten Wohn- und Schlafzimmer mit großem Durchbruch hin zur Wohnküche. Sie liebt das luftige Lebensgefühl.
Martin Böttcher: Das heißt aber: Nur das Kind hat wirklich ein eignes Zimmer. Julia hält sich praktisch immer in Gemeinschaftsräumen auf? Stört sie das nicht?
Matthias Finger: Nein. Jeder hat andere Bedürfnisse. Aber klar ist: Beengtes Wohnen kann, wie konstanter Lärm, ein Stressor sein und krank machen. Psychologin Barbara Perfahl meint, wir benötigen Rückzugsorte.
Barbara Perfahl: In einer Welt, in der man massiv Informationszufluss ausgesetzt ist, braucht man ein bisschen Rückzug. Aber auch: Habe ich einen Raum, der mir gehört und den ich selber gestalten kann, wie es meinen Bedürfnissen entspricht? Das wird dann schwierig. Was man jetzt auch oft hat ist, dass die Eltern keinen persönlichen Raum mehr haben.
Matthias Finger: Julia sagt aber wörtlich: "Wenn jemand seinen Partner nicht mag", dann findet sie eine Lösung, um abgeschlossene Räume zu schaffen. Mit rückbaubaren Trockenbauwänden geht viel – in jeder Wohnung, für wenig Geld.
Kuschlig wie im Hobbithaus
Martin Böttcher: Was macht denn das kompakte Wohnen mit unseren Beziehungen? Hast du da etwas herausgefunden?
Matthias Finger: Ja, ich habe mit Karo gesprochen. Die wohnt mit ihrem Freund Franz, beide sind 33, und der fünfjährigen Tochter Annouk in Berlin-Neukölln – ebenfalls in einer Zweiraumwohnung. Und die drei haben sich für folgende Variante entschieden: Durch Hochbetten mehr Wohnraum schaffen.
Ins Schlafzimmer haben sie ein riesiges Hochbett gezimmert, das über die gesamte Breite und fast die komplette Länge des Raumes geht. Darunter befindet sich Annouks Kinderzimmer. Karo nennt das kuschelig – wie im Hobbithaus.
Autor: Wir kommen jetzt hier ins Schlafzimmer. Da habt ihr einen kleinen Raum abgetrennt, wo eine Leiter hochgeht und hier geht es durch eine Tür ins Kinderzimmer?
Karo: Genau. Dazu muss man sagen, dass ist primär ein Kinderzimmer. Und wir haben eine Ebene eingezogen und auch eine Trennwand. Wir schlafen über dem Kinderzimmer und sie hat auch ein Bett in ihrem Kinderzimmer.
Autor: Wenn wir jetzt hier die Leiter hochkrabbeln zu eurem Bett. Könnt ihr denn abends im Bett Videos gucken. Oder wie ist das geräuschmäßig? Die Tochter kann alles hören was passiert?
Karo: Ja gut, nachts schläft sie ja. Das ist jetzt nicht das Problem.
Martin Böttcher: Ein gemeinsames Schlafzimmer für drei Personen ist ungewöhnlich. Andererseits passiert in Schlafzimmern tagsüber nicht viel. Ist das in kleinen Wohnungen verschenkter Raum, der anderweitig genutzt werden kann?
Matthias Finger: Richtig. So ein Hochbett ermöglicht eine dritte Raumsparvariante: Zimmer zu verschiedenen Tageszeiten unterschiedlich nutzen. Das Kind spielt den ganzen Tag in dem Zimmer. Nur nachts klettern die Eltern nach oben in ihren abgetrennten Bereich – da wird nicht gespielt. Ein eigenes Zimmer vermisst Karo nicht.
Autor: Ihr lebt zu dritt auf 57 Quadratmetern. Geht man sich da nicht manchmal auf den Geist?
Karo: Manchmal schon, aber das würde man in einer größeren Wohnung auch. Das liegt dann eher an einem anderen Thema.
Enge kann Beziehungen gefährden
Martin Böttcher: Aber auch hier: Schlafzimmer und Wohnzimmer sind Gemeinschaftsräume. Karo und Franz haben keine Rückzugsorte. Hat das Auswirkungen auf die Beziehung?
Matthias Finger: Karo scheint da ziemlich robust. Aber natürlich kann Enge Beziehungen gefährden, sagt Psychologin Barbara Perfahl.
Barbara Perfahl: Es gibt Konflikte um den Raum, es gibt Konflikte um den Tagesablauf. Es gibt Konflikte darum, dass immer Zeugs rumliegt und man fühlt sich von den Sachen der anderen irgendwie eingeengt. Das fördert Konflikte. Und Konflikte sind wiederum Stressoren. Das belastet wirklich auch die Beziehungen.
Martin Böttcher: Karo merkt da nichts davon?
Matthias Finger: Na zumindest hat sie nichts erwähnt. Ihr kompaktes Leben hat sie bewusst gewählt.
Karo: Ich find einfach schön, sich nicht auszubreiten auf 100 Quadratmetern. Je mehr Platz man hat, umso mehr Dinge schafft man auch an.
Matthias Finger: Und um so mehr muss man saubermachen! Günstiges wohnen in einem netten Kiez hat eben mittlerweile seinen Preis – nicht nur materiell: So müssen auch Karos Klamotten in eine einzige Kommode passen. Und hunderte Bücher hat sie für ein kompaktes Leben verschenkt.
Karo: Was man noch dazusagen muss ist, dass die Wohnung extrem günstig ist. Die hat noch eine Superkaltmiete, weil wir auch einmal im Jahr lange reisen. Mindestens einen Monat sind wir weg oder sogar öfter. Dann haben wir auch noch einen Garten in Strausberg, der nicht so ganz günstig ist. Das alles könnten wir nicht machen, wenn wir eine Kaltmiete von 1200 Euro hätten. So teuer sind bei uns im Haus sanierte Dreiraumwohnungen.
Matthias Finger: Vielleicht hat Karos Lebensmodell auch mit ihre Ostsozialisierung zu tun. Sie war zwar erst drei, als die Mauer fiel, aber in der DDR war das Leben auf engem Raum eher Normalität und dürfte zumindest ihre Eltern geprägt haben. Also von meinen Freunden haben viele mit ihren Geschwistern bis zum Auszug in einem Zimmer gewohnt. Als Einzelkind ist mir das erspart geblieben. Im Wohnheim war ich später mal mit drei anderen Jungs auf einer Bude. Das fand ich extrem nervig: Einfach nie allein zu sein.
Martin Böttcher: Das Leben auf wenigen Quadratmetern ist also möglich. Das kennen wir auch – noch verschärfter – vom Hörensagen von Städten wie Paris, Tokio oder New York. Da nähern wir uns vielleicht an.
Ehemals öffentliche Tätigkeiten wandern ins Private
Matthias Finger: Vermutlich. Wenn alle in die Städte ziehen, ist doch klar, dass in den Zentren irgendwann kein Platz mehr ist. Doch auch klimatechnisch kann es so nicht weitergehen: Großzügige Altbauwohnungen haben eine viel schlechtere Ökobilanz als kleine Appartements. Frank Trentmann ist Historiker an der University of London und hat das Buch "Die Herrschaft der Dinge" geschrieben. Für ihn ist Wohnen eine Form des Konsums: Ehemals öffentlich verrichtete Tätigkeiten wandern ins Private ab, wie Wäschewaschen in der gemeinsamen Waschküche.
Frank Trentmann: Wenn jeder in der eigenen Wohnung eine eigene Küche, eine eigene Waschmaschine, einen eigenen Trockner erwartet, dann hat das riesige Folgen für das Klima. Aber es gibt durchaus die Möglichkeit, dass Menschen sich entschließen, mehr gemeinschaftlich zu wohnen und nicht, wie in den letzten 20 Jahren, darauf pochen in einer großen Wohnung weiterleben zu dürfen.
Martin Böttcher: Die Shareconomy, die auf eine bessere kollektive Nutzung vorhandener Ressourcen zielt, ist also gar nicht so neu. In vielen Städten gab es früher Nachtschläfer-Arrangements: Wenn der eine von der Nachtschicht kam, machte der andere das Bett frei. So was bleibt uns erspart?
Matthias Finger: Ja klar, beim Clusterwohnen, zum Beispiel, werden um einen zentralen Wohn- und Kochbereich mehrere kleine Wohneinheiten mit Miniküchen gruppiert. Diese Wohnform ist besonders bei alleinstehenden Eltern beliebt. In Mehrgenerationenhäusern tauschen die Leute Wohnungen entsprechend der Lebensphase. Und die Moderne hat auch viele schöne Ideen wie modulares Wohnen hinterlassen. Da wächst, schwindet oder teilt sich der Wohnraum durch justierbare Zwischenwände. Wenn es nicht nur um pure Größe, sondern auch um intelligente Nutzung von Wohnraum geht, dann wird alles gut.
Martin Böttcher: Für die Zukunft gibt es hier wohl noch Diskussionsbedarf. Und Nutzungskonzepte für kleine Wohnungen werden weiterhin gefragt bleiben.