"Der Notstand erlaubt Dinge, die sonst unzulässig wären"
Bundeskanzlerin Angela Merkel gerät schwer in die Defensive - die CDU-Basis rebelliert gegen ihre Flüchtlingspolitik. Der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel spricht von Notstand und fordert von der Regierung, eine "Grenze der Unzumutbarkeit" zu definieren.
Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg, verlangt von der Regierung einen ehrlicheren Umgang mit dem Flüchtlingszustrom. Die Kapazitätsgrenzen Deutschlands seien im hohen Maß unbestimmt, betonte Merkel im Deutschlandradio Kultur. Die Obergrenze sei aber nicht eine "des absoluten Nichtmehrkönnens", sondern eine "Obergrenze der Unzumutbarkeit". Diese müsse von der Politik definiert werden. Das Asylrecht stoße derzeit an vielerlei Grenzen, sagte Merkel. Bei einem Notstand sei aber erlaubt, was im "Normalgang der Dinge" unzulässig wäre. "Wir werden wohl auch nicht darum herumkommen, (...) den Rechtsschutz der Flüchtlinge gegen Maßnahmen des Ausweisens und Abschiebens radikal einzuschränken", sagte er – zumindest für eine gewisse Zeit. "Und immer muss man dazu sagen: Klar, wir wissen, dass die regulären Standards anders auszusehen hätten, aber wir können die im Moment nicht mehr durchhalten."
Das Gespräch im Wortlaut:
Nana Brink: In den letzten Tagen versucht ja die Politik in Deutschland eine Antwort darauf zu geben, wie reagieren wir richtig auf die steigenden Flüchtlingszahlen. Man ist sich ja einig, zumindest in weiten Teilen der politischen Lager, diese anhaltend hohe Zahl kann das Land nicht lange verkraften. Das konnte man gestern auch ganz gut sehen, als die Kanzlerin ja an der Basis in Sachsen Rede und Antwort stehen musste und auch spürte, was da an Bedenken auf sie zukommt.
Nach Vorstellung der Union sollen ja Transitzonen an deutschen Grenzen eingerichtet werden, in denen dann im Eilverfahren über Asylanträge entschieden wird. Darüber und auch über eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge wird heute auch auf dem EU-Gipfel diskutiert und auch im Deutschen Bundestag. Alles politische Augenmerk liegt also auf dieser Frage. Reinhard Merkel ist Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Uni Hamburg. Ich grüße Sie!
Reinhard Merkel: Guten Morgen!
Brink: Thema im Bundestag: Deutschland will das Asylrecht ändern, also die Union will es. Darauf zielt der Vorschlag nach Einrichtung dieser sogenannten Transitzonen. Man versucht ja diejenigen herauszufiltern, deren Antrag keine Aussicht auf Erfolg hat. Stößt hier das deutsche Asylrecht an seine Grenzen?
Das deutsche Asylrecht stößt jetzt an seine Grenzen
Merkel: Ja, nun, in verschiedener Hinsicht kann man das sagen, sozusagen buchstäblich auch. Mit der Idee, Transitzonen an den Grenzen einzurichten, spielt man eine letzte notstandsähnliche Karte.
Die Sache ist aber so: Man muss tatsächlich die Frage, ob das funktionieren kann – die Bundeskanzlerin sagt ja gelegentlich, das kann nicht funktionieren, wir können keinen hohen Zaun um die Bundesrepublik ziehen – unterscheiden von der ganz anderen Frage, ob der Staat sich in dieser Krise als Staat behauptet.
Und selbstverständlich müssen auch Versuche unternommen werden, Instrumente einzusetzen, von denen man weiß, dass sie nur lückenhaft oder nur unzulänglich funktionieren. Zu sagen, das geht nicht, also machen wir gar nichts, geht überhaupt nicht. Das muss man tatsächlich betonen.
Brink: Also stimmen Sie zu, dass es wichtig ist, diese Transitzonen einzurichten?
Merkel: Wissen Sie, das hat etwas Unerfreuliches. Und die Oppositionsparteien deuten ja darauf. Aber wir befinden uns in einer Situation, in der für verschiedene Beteiligte, verschiedene Akteure in diesem ganzen schwierigen Spiel, Notstandsgrenzen erreicht werden, auch für die Flüchtlinge, auch für die Migranten.
Wir haben den sozusagen einen menschenwürdigen Empfang zu bereiten, und das können wir irgendwann nicht mehr. Der Winter steht vor der Tür. Alle diese Fragen sind natürlich formuliert worden also auch im Hinblick auf die Flüchtlinge, aber selbstverständlich auch mit Blick auf die Grenzen der Kapazitäten der Bundesrepublik muss unbedingt versucht werden, etwas sozusagen an Kanalisierung, an Bremsen, an Lenkung dieses ganzen Zustroms von Menschen zu etablieren. Und deswegen ist das eine Maßnahme mit den Transitzonen, über die man sich überhaupt nicht freuen kann, die aber vermutlich notwendig wird.
Brink: Befürchten Sie denn als Jurist, dass da auch gewisse Standards aufgegeben werden? Wir sprechen ja von Eilverfahren, in kurzer Zeit soll darüber entschieden werden, was ja impliziert, dass vielleicht so etwas wie ein Widerspruchsrecht, was man ja normalerweise hat, wenn der Asylantrag abgelehnt wird, dass wir so was nicht leisten können dann? Oder billigend in Kauf nehmen?
"Wir werden nicht darum herumkommen, den Rechtsschutz einzuschränken"
Merkel: Ja, so kann man das vielleicht formulieren, aber wenn ich noch mal dieses Stichwort, das sozusagen aus der Rechtstheorie kommt, bemühen darf, das vom Notstand – Notstandslegitimationen haben das an sich, dass sie etwas erlauben, was im Normalgang der Dinge unzulässig wäre.
Wir werden wohl auch nicht darum herum kommen, sozusagen den Rechtsschutz der Flüchtlinge gegen Maßnahmen etwa des Ausweisens und Abschiebens radikal einzuschränken, jedenfalls zeitlich. Und immer muss man dazu sagen, klar, wir wissen, dass die Standards, die regulären Standards anders auszusehen hätten, aber wir können die im Moment nicht mehr durchhalten.
Brink: Aber ist es nicht auch Interpretationssache, ob wir an einen Notstand schon – ob das wirklich schon ein Notstand ist?
Merkel: Richtig. Sie haben Recht. Die Rede von den Grenzen der Kapazitäten der Bundesrepublik ist in einem hohen Maße unbestimmt. Das wird ja allen deutlich. Manche sagen, wir haben die noch nicht erreicht, andere sagen, welche Art Grenzen meint ihr denn? Eine absolute Obergrenze an Zahlen von Migranten, die hier hereingelassen werden können?
Wieder sozusagen rechtstheoretisch formuliert: Die Obergrenze ist nicht eine des absoluten Nicht-mehr-Könnens, des Überhaupt-nicht-mehr-Vorhandenseins von Raum und Wohnung und Möglichkeiten, sondern eine Obergrenze der Unzumutbarkeit. Und diese Grenze hat die Politik zu definieren.
Brink: Ich wollte gerade sagen, die muss also von der Regierung definiert werden, das verlangen Sie?
"Jeder der Beteiligten weiß, dass eine Grenze gezogen werden muss"
Merkel: Ja, wissen Sie, eigentlich ist das Sache des Gesetzgebers, aber eben in solchen Notstandssituationen darf das und muss das sogar die Regierung definieren, also die Exekutive, denn wir können jetzt auch nicht langwierige Verfahren durch den Bundestag in Gang setzen. Und diese Obergrenze der Unzumutbarkeit des weiteren Zustroms von Migranten muss im Hinblick auf alle Beteiligten, alle wesentlichen Akteure in diesem Spiel gezogen werden. Und dafür hat die Politik, hat die Regierung eine Zuständigkeit, eine Kompetenz, aber eben auch die Aufgabe. Sie müsste das jetzt deutlich formulieren.
Sie müsste also nicht – ich höre im Interview mit Sigmar Gabriel, dass er sagt: Lassen Sie uns jetzt nicht von so was reden, es geht darum, jetzt die Integration gelingen zu machen. Darum geht es auch. Aber es geht darum, die absolute Obergrenze der Unzumutbarkeit, um den Begriff noch mal zu bemühen, jedenfalls in die Diskussion zu stellen, als Regierung dann zu sagen, es ist unsere Aufgabe, diese Unzumutbarkeit zu definieren. Wir muten der deutschen Bevölkerung eine ganze Menge zu, und wir müssen ihr das zumuten, aber wir versuchen jetzt, die Obergrenze des Zumutbaren zu ziehen.
Mir fehlt die offene, transparente und ehrliche Diskussion darüber. Jeder der Beteiligten weiß, dass eine solche Grenze gezogen werden muss. Und man muss dann die Begriffe richtig verwenden und sagen, hier liegt die Grenze und wir ziehen sie jetzt, und wir nennen sie Unzumutbarkeit für alle Beteiligten.
Brink: Reinhard Merkel, Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Merkel!
Merkel: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.