Zwangsadoption in Großbritannien

Wenn der Staat ein Kind wegnimmt

Ein vierjähriges Mädchen beim Kneten
Ein vierjähriges Mädchen beim Kneten © picture alliance / Benjamin Beytekin
Von Andreas Boueke |
In Großbritannien kann angeordnet werden, dass ein Kind per Zwangsadoption in einer anderen Familie aufwächst. Zurück bleiben oft völlig hilflose Eltern. Manche von ihnen finden Unterstützung bei der anglikanischen Kirche. Aber wie gut kann sie helfen?
Eine rostige Schubkarre voller Unkraut. Michael French, Seelsorger einer anglikanischen Gemeinde in Südengland, schiebt Gartenabfälle zum Komposthaufen.
"Dies ist so eine Art verwunschener Garten. Das Stück Land gehört der Kirche von England. Hierher kommen Menschen, die ein wenig Ruhe und Frieden suchen. Andere brauchen Unterstützung und Ermutigung auf ihrem Weg zurück ins Leben."
An manchen Tagen kommen über zwei Dutzend Menschen, die sich um den Garten kümmern. Die wenigsten sind Kirchgänger, aber Michael French freut sich über jeden, der sich hier wohlfühlt.
Eine der emsigen Gärtnerinnen ist eine junge, blonde Frau, die Ruhe sucht, denn seit einigen Monaten erlebt sie einen nicht enden wollenden Albtraum.
"Meine Tochter war mir aus den Armen gerutscht und hat sich den Kopf gestoßen. Daraufhin sind wir zum Arzt ins Krankenhaus gegangen. Dort hat die Verletzung am Kopf offenbar Alarmglocken ausgelöst. Jedenfalls bekam ich wenig später einen Anruf, ob ich zurück in die Klinik kommen könnte. Ich ging also zurück, ohne zu ahnen, dass von da an alles anders sein würde. Mir wurde gesagt, es gebe Zweifel daran, dass ich meiner kleinen Tochter die notwendige Sicherheit geben könne. Sie machten mehrere Röntgenuntersuchungen. Dabei wurde eine Verletzung am Arm festgestellt. Ich war außer mir vor Schreck."

"Die Eltern werden vom System überrollt und das Baby wird ihnen weggenommen"

Neben der jungen Frau kniet ein muskulöser Mann mit kurz geschorenem Haar im Schatten der Kirche. Sein Name ist Warren. Er ist Psychologe und hat viel Erfahrung im Umgang mit staatlichen Behörden. Er kennt die Abläufe.
"Wenn du dein Baby ins Krankenhaus bringst und dort jemand den Eindruck hat, das Kind könnte bewusst verletzt worden sein, ohne dass du eine Erklärung für die Verletzung parat hast, dann wird der Kinderschutzdienst hinzu gezogen. Die Eltern werden vom System überrollt und das Baby wird ihnen weggenommen."
Die Beamten in der zuständigen Behörde wollen nicht öffentlich über den Fall sprechen. Aber ihre Haltung ist bekannt. In Großbritannien werden Kinder, die womöglich in Gefahr schweben, vernachlässigt oder misshandelt zu werden, von ihren leiblichen Eltern getrennt. Anders als in anderen europäischen Ländern wird das Kind häufig sehr schnell ohne das Einverständnis der leiblichen Eltern zur Adoption freigegeben. Die Argumentation der staatlichen Behörden lautet, nur so könne das Kind zuverlässig aus der potentiell gefährlichen Situation herausgeholt werden. Der Seelsorger Michael French hat kein Verständnis für diese Politik:
"Aus Sicht der Kirche macht es keinen Sinn, die Eltern anzuklagen. Stattdessen müssten sie Unterstützungsangebote bekommen. Ihnen sollte geholfen werden, ihre Kinder aufzuziehen."

Über 5000 nationale Adoptionen im Jahr 2015

Die junge Frau bekam keine Hilfe. Sie wurde sofort von ihrem Kind getrennt. Es war der erste Schritt in Richtung einer Zwangsadoption. In keinem anderen Land der Europäischen Union wäre ein so schnelles Verfahren möglich. Offiziellen Angaben zufolge wurden 2015 in England über 5000 nationale Adoptionen durchgeführt. In mindestens einem Viertel der Fälle geschah das ohne Einverständnis der leiblichen Eltern. Sie dürfen ihre Kinder danach nicht mehr sehen und nichts über ihr Leben erfahren. Michael French meint, die anglikanische Kirche könne alternative Wege aufzeigen:
"Wir wollen unterstützen und helfen, wenn es Probleme bei der Kindererziehung gibt. Falls du es mal nicht schaffst, dein Kind zu betreuen, dann übernimmt die Gemeinschaft, bis es dir wieder besser geht. Zum Beispiel leiden manche Mütter nach der Geburt unter schwerem posttraumatischem Stress. Aber nach einiger Zeit sind sie wieder in der Spur. Es macht doch keinen Sinn, einer solchen Mutter ihr Kind wegzunehmen, und es in Adoption zu geben!"
Aber die anglikanische Kirche sollte sich auch politisch engagieren, fordert die junge Mutter:
"Die Kirche hat einen großen gesellschaftlichen Einfluss. Wenn sie die Situation wirklich ernst nähme, dann würde sie ihre Position laut und öffentlich vertreten, um etwas zu erreichen."
Michael French hat Verständnis für diese Kritik. Er vermutet, das Alltagsengagement in den Gemeinden versperre oft den Blick auf die größeren Zusammenhänge.
"Wenn sich die Kirche auf ein solches Thema einlässt, dann bewegt sie sich meist sehr schnell in Richtung karitativer Hilfe. Aber das verengt die Sicht. Das Engagement passt sich der Agenda des Staates an. Es geht ja auch um die Finanzierung. So verliert man das eigentliche Motiv aus den Augen. Plötzlich entspricht das Ziel vor allem den Finanzierungsanforderungen. Wir als Kirche sind zwar schnell dabei, zehn Pfund für ein karitatives Projekt aufzubringen, aber wir nehmen uns oft nicht die Zeit für ehrliches Engagement."
Der Psychologe Warren ist der Meinung, die anglikanische Kirche könne dazu beitragen, besonders gravierende Ungerechtigkeiten zu vermeiden.
"Kann man sagen, dass die Kirche diesen jungen Müttern gegenüber versagt? Ich persönlich würde so weit gehen zu sagen, dass die Kirche in solchen Fällen versagt hat. Sie müsste eine aktivere Rolle in der Hilfe für die Mütter spielen. Zum Beispiel sollte es nie vorkommen, dass eine Mutter ihr Kind für immer verliert, weil sie an postnataler Depression leidet."

Die betroffenen Eltern werden allein gelassen mit ihrer Trauer

Statistisch gesehen holen die britischen Sozialdienste alle zwanzig Minuten ein Kind aus seiner Familie. Das sind deutlich mehr als in anderen Ländern Europas. Wer bei öffentlichen Behörden um ein Interview zu dieser Thematik bittet, läuft ins Leere, obwohl die Mitarbeiter dort zu den ersten Leidtragenden der Entwicklung gehören. Seit 2006 hat die britische Regierung die finanzielle Ausstattung der öffentlichen Sozialämter immer weiter reduziert. Die betroffenen Eltern werden allein gelassen mit ihrer Trauer, ihrem Schmerz, ihrer Wut.
Kirchliche Angebote wie das Gartenprojekt hält Warren zwar für wichtig, aber eigentlich meint er, umfassendere Hilfe sei notwendig. Deshalb bemüht er sich auch um eine Stärkung der Position der leiblichen Eltern in der juristischen Auseinandersetzung. Denn manchmal braucht es nur ein wenig juristische Beratung und kompetente Begleitung, damit eine Mutter ihr Kind nicht ganz verliert.
"Ich glaube, in meinem Fall war der entscheidende Unterschied, dass ich plötzlich jemanden hatte, der sich mit Familienrecht auskennt. An dem Tag, an dem mich Warren ins Gericht begleitet hat, reagierten die Leute dort sehr unsicher. Es gefiel ihnen nicht, dass er mich unterstützt hat. Es war schon sonderbar - zuvor erschienen mir diese Leute so einschüchternd und mächtig. Es ist sein Verdienst, dass die Dinge heute ganz anders aussehen. Der Richter hat entschieden, dass Verwandte von mir meine Tochter aufnehmen dürfen. Dort kann ich sie sehen. Sie wurde nicht zur Adoption freigegeben."
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