Die Recherche beginnt dort, wo auch der Weg des Geldes beginnt: auf dem Berliner Straßenstrich im Bezirk Tempelhof-Schöneberg.
Vor einer Graffitiwand stehen mehrere junge Frauen am Straßenrand, in Skinny Jeans oder kurzen Shorts. Manche in Grüppchen, rauchen und kichern. Andere wiederum sind alleine unterwegs, die Fußsohle gegen eine Wohnwand gedrückt, an der sie lehnen, schauen sie auf ihr Smartphone. Aber alle warten sie. Auf Freier.
Einer von ihnen ist Dirk. Ein bulliger Typ, das dunkle Vorderhaar seitlich gegelt, ein Tattoo am Unterarm. Er kommt öfters zur Kurfürstenstraße und will offen sprechen.
„Man kriegt, was man möchte. Die Dienste werden angeboten, also kann ich die auch unbedenklich in Anspruch nehmen“, sagt er. „Das ist ja wie jeder andere Dienst auch. Früher war es wesentlich teurer, muss man sagen. Das ist so in die Dumpingrichtung gegangen. Man kann oral oder so für 10, 20 Euro kriegen. Und die schnelle Nummer ist dann auch für 20 bis 30 Euro bedient.“
"Fast günstiger als ein Mittagessen"
Jeden Tag nehmen in Deutschland mehr als eine Million Männer sexuelle Dienstleistungen in Anspruch, so das Bundesfamilienministerium. Die Kunden: Kollegen, Nachbarn, Ehemann mit Kindersitz im Auto, vielleicht der eigene Partner.
Ein blauer Chevrolet Aveo hält am Straßenrand. Eine junge Asiatin beugt sich auf die heruntergelassene Beifahrerscheibe hinab. Sie reden kurz. Dann steigt der Freier aus. Ein junger Mann, der seinen Arm um den Hals der Frau legt. Die beiden machen ein Selfie.
Sex zu Dumpingpreisen: "Die schnelle Nummer“ ist für 20 bis 30 Euro zu haben, erzählt Freier Dirk. (gestellte Szene)© Steph Ketelhut / Argon Verlag AVE GmbH
„Meistens ist das auch wie beim Essen oder im Restaurant. Man läuft daran vorbei und hat eigentlich keinen Hunger. Aber man sieht so ein tolles Angebot und sieht, da kostet jetzt das ganze Menü mit Pommes und Burger und Cola, quasi das ganze Paket, kostet jetzt nur noch zehn Euro. Und in dem Fall hier 20 Euro", sagt Dirk.
Das ist fast günstiger als ein Mittagessen für die schnelle Nummer. Und dann zack, ist man schon mittendrin. Also es ist ja wie das alte Tauschmittelgeschäft: Früher gab es wahrscheinlich Goldmünzen und nächstes Mal nehme ich einfach eine Tüte Brot mit. Vielleicht klappt das ja auch.
Dirk, Freier
Trotz der Dumpingpreise sprudeln die Einnahmen mit dem Sex in Deutschland. 14 Milliarden Euro werden pro Jahr umgesetzt nach vorsichtigen Schätzungen. Die meisten sind nicht freiwillig hier für ihren Job. Das sehe man den Frauen auch an, gibt Dirk zu.
Auf die Frage, ob er ein Problem damit hat, antwortet er: „Das kann ich nicht ändern. Das war schon immer so, das ist so und das wird wahrscheinlich immer so sein.“
Werbung mit "exotischen Schönheiten"
Sex mit einer Zwangsprostituierten. Das ist seit 2016 eine Straftat. Aber Verstöße werden kaum verfolgt. Durch Corona ist die Prostitution beinahe unsichtbar geworden. Das Geschäft mit ihr wird zunehmend virtuell und Corona hat die Entwicklung rasant beschleunigt.
Überall im Netz finden sich Angebote sogenannter „exotischer Schönheiten“, wie sie im Internet angepriesen werden. Andere Überschriften lauten: „Afrikanerin absolut tabulos“. Besonders auf afrikanische Prostituierte scheinen es viele Freier abgesehen zu haben.
In Foren tauschen sie sich aus. Sie fragen: Wo ist es am günstigsten? Welche Frauen gehen am weitesten? Im Internet gibt es eine Spur zu einer jungen Nigerianerin. Sie bleibt anonym und wählt den Namen Blessing für sich, möchte aber reden.
Eine hügelige Waldlandschaft zieht an der Autobahn vorbei. Blessing lebt in einer süddeutschen Kleinstadt und hat jahrelang in verschiedenen europäischen Ländern als Prostituierte gearbeitet. Jetzt will sie aussteigen. Seitdem ist ihr Leben in Gefahr, wie sie sagt. Deshalb ist Blessing bei Bekannten untergekommen.
Sie steht im oberen Stockwerk eines Einfamilienhauses und schließt die aus Holz verarbeiteten Fensterläden für das Interview. Die junge Frau sitzt auf ihrem Bett im Zimmer, ein großer Teddybär ihr gegenüber, auf dem Nachttisch liegt eine Bibel. Ihre langen schwarzen Haare fallen immer wieder nach vorn, so als wollten sie Blessing verstecken und schützen.
Blessing hat alle Kontakte ins Milieu abgebrochen
„Seitdem das alles passiert ist, habe ich wirklich Angst, riesige Angst. Ich bekomme viele Anrufe, von deutschen Nummern, von italienischen Nummern, sogar von französischen Nummern. Ich bekomme viele Drohungen: Wenn ich der Polizei oder irgendjemandem in Europa etwas erzähle, werde ich sterben“, erzählt sie.
Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann. Wenn meine Eltern aus Afrika anrufen – vor allem meine Mama – kann ich ihnen nicht erzählen, was ich hier durchmache. All die Dinge, die ich sehe, die Dinge, die ich erlebe. Das ist hart, das macht mich kaputt.
Blessing, Aussteigerin
Sie versucht, alle Kontakte ins Milieu abzubrechen. Doch das ist schwer. Die eigene Vergangenheit begleitet sie wie ein Schatten. Im Gespräch erzählt sie von ihrem früheren Arbeitsalltag.
Blessing und die anderen Frauen gingen um neun Uhr abends aus dem Haus und nahmen einen Bus, der sie zum Straßenstrich brachte. „Manchmal hatte ich vielleicht vier, manchmal fünf Männer. Manchmal sogar mehr. Manchmal auch nur zwei. Es war jeden Tag anders“. erzählt sie.
"Der Voodoo-Priester hat die Macht über mich"
Doch die ganze Zeit über wusste Blessing für sich: Diese Art von Leben hatte sie sich nicht gewünscht. Aber eine Wahl, so sagt sie, hatte sie nicht. „Ich musste es tun. Ich habe einen Schwur geleistet: Sie haben meine Schamhaare, meine Unterhose, meine Fingernägel und mein Blut, Blut von meiner Zunge. Alle diese Dinge können sie gegen mich benutzen. Der Voodoo-Priester hat die Macht über mich“, sagt sie.
Martialische Voodoo-Rituale sind eine gängige Methode der Menschenhändler, um junge Frauen aus Westafrika unter ihre Kontrolle zu bringen. In einer angsteinflößenden Zeremonie wird den Opfern klargemacht, dass sie von nun alle Forderungen der Menschenhändler befolgen müssen. Dabei werden die Frauen mit einem angeblichen Voodoo-Zauber belegt.
Ihnen wird gedroht, dass ihnen oder ihren Familien etwas Schlimmes passiert, sollten sie sich nicht an die Abmachung halten. Das wird später auch Blessings Familie bestätigen. Aus Furcht vor dem Schwur will Blessing nichts über die Hinterleute verraten. Später leitet sie aber Audio-Messages weiter: Drohbotschaften, die sie von einer mutmaßlichen Menschenhändlerin bekommen hat.
Ein Ex-Polizist aus Nigeria übersetzt
Vorbei an einer hügeligen Landschaft aus vorbeiziehenden Windrädern und Wäldern führen die Recherchen tiefer in die bayerische Provinz. Hier lebt ein ehemaliges Mitglied der nigerianischen Polizei, ein verdeckter Ermittler im Menschenhändler-Milieu.
Ein Informant aus Nigeria sagt, dass er selbst in Deutschland Angst vor den Mafiastrukturen hat.© Johannes Meier / Argon Verlag AVE
In dieser Geschichte nennt er sich Thomas, schwarze Kopfhörer im Nacken, die Hände in seiner schwarzen Regenjacke versteckt. Ein eher kleiner Mann mit braunen, warmen Augen. Die Kirchenglocke schlägt in der Nähe, ein märchenhafter Park, ein Bach zieht sich dadurch. Der perfekte Ort, um unsichtbar zu sein.
In diesem idyllischen Dorf lebt Thomas zurückgezogen. Nach massiven Drohungen ist er nach Deutschland geflüchtet und hat hier Asyl beantragt. Er soll die Nachrichten der Menschenhändler übersetzen.
„Das ist eine Madame, die über ihr Mädchen spricht“, erklärt er. „Es hört sich so an, als ob das Mädchen nicht mehr ihren Anteil an sie zahlen will. Sie sagt: Ich werde den Boys sagen, dass sie sich um sie kümmern sollen. Sie haben ihr Foto. Sie werden sie kriegen, sie wird nicht entkommen.“
In Europa schnappt die Schuldenfalle zu
Das Leben von Blessing hänge komplett von der Madame ab, erklärt er. Thomas hält das Smartphone in der Hand, bewegt es Richtung Ohr. Immer wieder stoppt er die Aufnahmen, um zu übersetzen. „Die Boys werden alles mit ihr machen, was die Madame sagt.“
Und so funktioniert das System: In Nigeria werden die jungen Frauen von einer sogenannten Madame, einer Art weiblichen Zuhälterin und ihren Komplizen, mit falschen Versprechungen angelockt. Die Kosten für die Schlepper auf der Reise legt die Madame aus und fordert später ein Vielfaches zurück.
Die Schuldenfalle schnappt zu. Durch einen Voodoo-Priester werden die Frauen zusätzlich eingeschüchtert. In Europa übt ein komplexes, mafiaähnliches Netzwerk Kontrolle über die Frauen aus. Sogenannte Boys machen die Opfer gefügig – oft auch mithilfe von Gewalt – und treiben das Geld ein
Auch Aussteigerinnen können den Netzwerken nur schwer entkommen, zumal diese oft auch die Familien in der Heimat der Frauen unter Druck setzen. Thomas scheint ernsthaft besorgt. Wie groß die Macht dieser Gruppen ist, hat er selbst erfahren müssen: Als seine Tarnung als verdeckter Ermittler in Nigeria aufflog.
Ein Spitzelnetzwerk wie bei der Stasi
„Alles hat mir auf einmal Angst gemacht: Ich dachte immer: Vielleicht plant die Person gerade etwas gegen mich“, erzählt er.
Das Beste in so einer Situation ist, wenn du einfach verschwindest. Jedenfalls, wenn du den nächsten Tag erleben willst. So habe ich Nigeria verlassen. Ich weiß aber, dass sie sogar in Deutschland Verbindungen haben. Sie sind überall. Auch hier in Europa, ihre Beziehungen reichen überall hin.
Thomas, Ex-Polizist aus Nigeria
Um mehr herauszufinden über diese geheimnisvollen Netzwerke geht es nach Zürich: internationale Finanzmetropole, eine der reichsten Städte der Welt – und gleichzeitig ein Hotspot für afrikanische Menschenhändler.
In einem Glaskasten im obersten Stockwerk in der Nähe vom Zürisee sitzt einer der renommiertesten Menschenhandelsexperten Europas: Stephan Fuchs. Ihn interessieren vor allem die Strukturen, die diese Gruppierungen aufbauen, um Kontrolle über die Frauen auszuüben.
„Das Wort Stasi ist sicher ein großes Wort, ein belastetes Wort in einem ganz anderen Zusammenhang“, sagt er. „Aber es kommt dem nahe, weil es ist ein Spitzelnetzwerk. Es ist ein Informationsnetzwerk, dem man nicht entkommen kann, auf keine Art und Weise“.
Eine Ex-Prostituierte ermittelt verdeckt
Fuchs führt aktuell im Auftrag mehrerer europäischer Polizeibehörden eine Studie über die nigerianischen Netzwerke durch. Zusammen mit einer Kontaktperson plant er eine Undercover-Aktion im Rotlichtviertel. Mit Informantin Julia, deren echter Name ebenfalls ein anderer ist, hat Fuchs schon häufig zusammengearbeitet.
Die Nigerianerin war wie Blessing selbst Prostituierte und kennt die Szene. In einem Hotel bereitet sie sich auf die Aktion vor. Julia blickt in den Spiegel, zupft ihre schwarze Perücke mit dem breiten Pony zurecht, der ihre Augen einrahmt, und erzählt ihre Geschichte.
Eine Informantin taucht ins Nachtleben im Züricher Rotlichtviertel.© Steph Ketelhut / Argon Verlag AVE GmbH
„Ich bin mit dem Flüchtlingsboot nach Europa gekommen. Sie haben uns gerettet und an Land gebracht. Die ersten zwei Jahre sind ruhig verlaufen, dann haben sie mir offizielle Papiere ausgestellt. Kurz darauf hat mich jemand in die Schweiz gebracht und mich an seine Kontakte weitergereicht sozusagen. Das war es. Von da an habe ich auf der Straße gearbeitet“, sagt sie.
Mithilfe einer Opferorganisation schaffte Julia den Ausstieg. Jetzt nutzt sie ihr Insiderwissen im Kampf gegen die Menschenhändler. „Ein bisschen Sorgen mache ich mir schon“, sagt sie.
Aber es ist wichtig, dass die Welt sieht, in welchen Verhältnissen diese Frauen leben. Vielleicht kann ich sie dazu bekommen, sich mir anzuvertrauen. Sie haben immer Angst vor den Polizisten in Zivil, einer Afrikanerin werden sie sicherlich mehr vertrauen.
Julia, Aussteigerin
Mit verstecktem Aufnahmegerät unter ihrem Rollkragenpulli macht sich Julia auf den Weg ins Züricher Rotlichtviertel auf die Langstraße. Grelle Lichter in Rot, Blau oder Gelb beleuchten die dunklen Straßen.
40 Prostituierte auf vier Etagen
Julia kommt mit einer nigerianischen Prostituierten ins Gespräch. Sie erklärt sich tatsächlich bereit, Julia zu einem Haus zu führen, in dem sich die Prostituierte mit mehreren anderen afrikanischen Frauen ein Zimmer teilen muss.
Auf vier Etagen hausen hier mehr als 40 Prostituierte. An den Wänden schimmelt es, es stinkt nach Fäkalien und Zigarettenrauch. Die Frauen laufen in Unterwäsche oder Schlafkleidung durch die engen Räume. Wie bei einer Warteschlange im Klub stehen die Frauen auf den Gängen, dicht an dicht.
Die Frauen reden durcheinander. Sie erzählen, dass sie Geld brauchen. Dass das der Grund sei, warum sie hier arbeiten. Sie machen das, weil sie keinen anderen Ort haben. Mit dem Übertreten der Türschwelle lassen die Frauen in diesem sogenannten Zuhause ihre Privatsphäre hinter sich. Ein Ort des Elends – mitten in Zürich.
Diese Frauen hinterlassen keinen Schatten auf dem Zürcher Asphalt. Sie leben wie Eulen in der Dunkelheit, das Tageslicht erblicken sie kaum. Laut Stephan Fuchs gebe es so viele Geheimbünde in der Schweiz, deren Informanten jede einzelne Prostituierte überwachen. Ob sie zum Friseur gehe, in einen Afroladen, egal wohin.
Die nigerianischen Geheimbünde stellen Europas Sicherheitsbehörden schon länger vor ein Rätsel. Seit 2019 warnt der Bundesnachrichtendienst BND. Bereits nach knapp zehn Minuten bei den Frauen im Haus wird Julia gewarnt. Aufpasser sind über diese Undercover-Aktion informiert worden. Wenig später bricht sie die Aktion ab. Es wird zu gefährlich.
Tagesumsatz allein in Zürich: 19.000 Euro
Am nächsten Tag wertet Experte Stephan Fuchs die Undercover-Operation gemeinsam mit der Informantin aus. Trotz des schnellen Abbruchs bringt ihnen die Aktion zahlreiche neue Erkenntnisse.
Experte Stephan Fuchs analysiert die Aktivitäten und Strukturen der nigerianischen Gruppierungen.© Steph Ketelhut / Argon Verlag AVE GmbH
Ein Trend, den die beiden sofort erkennen: Die Frauen werden immer jünger. Auch nach vielen Jahren ist für die Experten immer wieder verblüffend, wie viel Geld mit dem Leid der Frauen verdient wird.
Fuchs steht von seinem Stuhl auf. Seine eine Fensterseite ist mit Notizen tapeziert, es hängt ein Google-Maps-Ausschnitt von Zürichs Langstraße dabei. Mit Edding schreibt Fuchs Zahlen auf die Glasfront darauf und rechnet vor.
Die Polizei geht davon aus, dass wir täglich 150 Personen aus Nigeria hier auf der Langstraße haben. Prostituierte haben mir gesagt, dass sie konservativ geschätzt am Tag drei Freier haben. Jeweils vielleicht 40 bis 50 Franken.
Stephan Fuchs, Experte für Menschenhandel
Langsam fügen sich die einzelnen Teile zu einem Puzzle zusammen. 18.000 Schweizer Franken werden pro Tag mit der nigerianischen Prostitution gemacht, das sind rund 18.900 Euro – und das allein in Zürich.
Stephan Fuchs rechnet die letzte Summe zusammen, wie viel macht das auf ein Jahr gerechnet, auf 365 Tage, weil die Frauen jeden Tag arbeiten müssen? „Dann kommen wir doch auf ansehnliche 6,5 Millionen Franken.“
Die Menschenhändler infiltrieren mit dem Geld auch die Gesellschaft, erklärt Fuchs. Indem sie in Afrikashops, in Restaurants, natürlich auch in die Reisebranche und im Internethandel Geld zurück investieren. Was den Menschenhändlern bei der Geldwäsche hilft: In der Schweiz und auch in Deutschland kann man noch immer fast alles in bar bezahlen.
„Die Autos, die werden hier angekauft“, erzählt Fuchs. In Container verschifft und über Rotterdam ausgeschifft. „In Nigeria werden sie dann wieder mit Gewinn verkauft und so wäscht sich das Geld“.
Die erdrückende Last der Schulden
Zurück in der süddeutschen Provinz, im Zimmer von Blessing. Sie erzählt, dass sie ihre gesamten Einkünfte bei einem Geldeintreiber abgeben musste. Der Druck, zu zahlen, sei enorm gewesen. Blessing fährt sich immer wieder durchs Haar. Darüber zu sprechen, macht sie nervös.
„Einen festen Preis gibt es nicht. Man muss einfach Geld anschaffen. Selbst wenn man jemanden trifft, der nur zehn Euro für Sex zahlen will, lässt man sich manchmal darauf ein. Nur, um Geld präsentieren zu können. Natürlich muss man alles abgeben, nichts davon darfst du behalten, du kannst auch nichts verstecken. Du wirst am ganzen Körper durchsucht“, erzählt sie.
Blessing holt einen Stift und ein kariertes Blatt Papier. Sie schuldet den Menschenhändlern angeblich 35.000 Euro. Sie schreibt auf, welche Ausgaben sie hat und welche Einnahmen sie bekommt.
Von den Freiern erhält sie durchschnittlich 30 Euro. Davon werden ihr diverse Nebenkosten abgezogen. Die übrigen 15 Euro dienen der Schuldentilgung. Pro Tag muss Blessing etwa drei bis fünf Freier bedienen, sie verdient also durchschnittlich 120 Euro, kann davon aber nur 60 Euro zur Tilgung einsetzen. Der Rest geht direkt an die Menschenhändler.
So müsste Blessing etwa 2300 Mal mit fremden Männern bezahlten Sex haben, um ihre Schulden komplett zu begleichen. Wer sind die Hintermänner, die Blessing in die Schuldenfalle lockten? Um das herauszufinden, geht es nach Frankfurt am Main. Ein Informant hat Videomaterial eines mutmaßlichen Geldeintreibers.
"Wir werden dich umbringen"
„Nimm das bloß nicht auf die leichte Schulter. Wir werden dich umbringen. Wenn ich dich sehe, werde ich dich mit einer Pistole erschießen.“ Thomas, der aus Nigeria geflüchtet ist und als verdeckter Ermittler im Menschenrechtsmilieu arbeitete, drückt auf einen Knopf seines Handys, richtet den Blick wieder auf.
„Man selbst glaubt vielleicht, dass man sich verstecken kann. Aber die ganze Familie kann sich ja nicht verstecken. Und das sind keine Spielchen, die meinen sowas ernst“, sagt er.
Er erzählt, dass nicht nur die Opfer Angst haben. Es gebe sogar Polizisten und Politiker – also eigentlich diejenigen, die die Menschenrechtsverletzungen bekämpfen sollten – die Angst haben. Die Täter machen sich das sogenannte Hawala-System zunutze. Auf Arabisch heißt Hawala wechseln oder überweisen.
Das System funktioniert so: Der Geldeintreiber in Deutschland möchte Geld an seinen Komplizen in Nigeria schicken. Eine eingeweihte Bankerin nimmt das Geld entgegen und informiert ihren Kollegen in Nigeria. Dort holt sich dann ein Komplize das Geld ab, in dem er oder sie sich mit einem vorher vereinbarten Passwort ausweist.
Die Hawala-Banker untereinander gleichen ihre Schulden durch gegenseitige Transfers oder den Schmuggel mit Schmuck, Gold oder Luxusautos immer wieder aus. Eine mutmaßliche Menschenhändlerin, die auch in Blessings Fall verwickelt sein soll, lebt in Nigeria. Genauer gesagt: im Süden des Landes – Benin City.
80 Prozent der Opfer kommen aus Benin-City
In der Eingangshalle des kleinen Flughafens wartet mit einem breiten Lächeln Solomon Okoduwa. Er leitet eine Organisation, die Menschenhändlern das Handwerk legen will. Denn die Polizei ist hier selten eine Hilfe.
Die meisten nigerianischen Menschenhandelsopfer kommen aus Benin City im Süden des Landes.© Allen Onyige / Argon Verlag AVE GmbH
Benin City ist eine der gefährlichsten Städte Nigerias. Schmale Straßen aus Lehm führen durch eine Gegend, in der sich Autos und Menschen tummeln. Bunte Sonnenschirme, die in den Boden gestampft sind und vor selbstaufgebauten Ständen stehen, wechseln sich ab mit großen asphaltierten Straßen, grünen Parks und neugebauten Villen.
Mehr als 80 Prozent der nigerianischen Menschenhandelsopfer kommen aus dieser Region. Außerdem ist die Stadt eines der Zentren von Nigerias Schattenwirtschaft – berüchtigt für seine Hawala-Agenten, Hinterhof-Banker und Geldwäscher.
Der Privatermittler Solomon Okoduwa hat bereits einen Zeugen identifiziert. Es handelt sich dabei um Blessings Bruder Festus. Er hat wahrscheinlich Informationen, die zu der Frau führen können, die Blessing und andere Frauen erpresst.
Über ruckelige Straßen führt der Weg zu Blessings Bruder Festus. Er wartet in einem armen Vorort der Stadt. Eine ländliche Gegend. Hier stehen unverputzte Häuser, weiße Wäsche, die in der schwülen Luft versucht zu trocknen. Ein Hahn kräht im Hintergrund.
Von der Prostituierten zur Madame
Festus steht im Hinterhaus und wischt sich mit einem Lappen den Schweiß von der Stirn. Er ist nervös.
„Wir alle in der Familie hatten keine Ahnung, dass meine Schwester nach Europa wollte. Später hat sie uns erzählt, dass ihr eine Frau dabei geholfen hat. Sie hätte vorher einfach mit jemanden sprechen sollen! Seit sie 2019 weggegangen ist, haben wir nur Ärger. Diese Frau hat Schläger auf uns angesetzt. Sie haben uns schon mehrmals hier bedroht“, erzählt er.
Erst letzte Woche sind wieder acht Männer vorbeigekommen. Sie wollten offenbar meinen Vater töten. Gott sei Dank war er nicht zu Hause. Ich habe alles aus einem Versteck beobachtet. Sie haben eine Notiz hinterlassen. Auf dem Zettel stand.: Wenn meine Schwester die Schulden bei der Madame nicht abbezahlt, werden sie meinen Vater töten. Seitdem kamen schon wieder neue Drohungen und wir schlafen kaum noch.
Festus, Blessings Bruder
Momentan baut die verdächtige Madame ein paar Kilometer von Festus Familie entfernt in der Stadt eine pompöse Villa, vermutlich mit den Einnahmen von seiner Schwester Blessing und anderen Opfern.
Als der Informant Solomon Okoduwa den Hinweis bekommt, dass eine der identifizierten Personen genau zu Blessings Beschreibung der Frau passe, ist diese bereits aktenkundig. Die Person wurde laut Polizei bereits mehrfach beschuldigt, mutmaßliche Menschenhandelsopfer zu bedrohen.
Auf der Baustelle angekommen, ist die Polizei bereits da. Aus dem Türrahmen tritt eine gut gekleidete Frau: eine Madame. Nicht selten waren Madames früher einmal selbst Prostituierte und haben sich im Laufe vieler Jahre mit Intelligenz und Skrupellosigkeit hochgearbeitet vom Opfer zur Täterin. Die Polizistin bringt die Verdächtige zum Polizeiauto und will sie mitnehmen zu einem Verhör. Besonders optimistisch scheint die Ermittlerin jedoch nicht zu sein.
Die Frau ist bereits aktenkundig: Eine mutmaßliche Menschenhändlerin wird von der Polizei abgeführt.© Allen Onyige / Argon Verlag AVE GmbH
Sie ist frustriert über das System, sagt: „Wenn wir später entdecken, dass es da Verbindungen zwischen den Menschenhändlern und der Polizei oder der Armee gibt, sie womöglich sogar miteinander verwandt sind – dann ziehen wir uns ganz schnell zurück. Sonst sind sie ganz schnell hinter dir her. Das habe ich alles schon erlebt!“
Eine Ermittlerin, die offen erzählt, dass Verfahren eingestellt werden, wenn Verdächtige gute Kontakte haben oder wenn es für die Polizei zu gefährlich wird: Das Geld mit der Zwangsprostitution scheint diesen Ort zu einem quasi gesetzlosen Raum zu machen.
Der Freier schiebt die Schuld auf das System
Am nächsten Tag steht Privatermittler Solomon in der Tür. Auch er scheint trotz des Erfolgs nicht zufrieden. Die Verdächtige sei wahrscheinlich Teil eines viel größeren Netzwerks. Und die Bereitschaft der Behörden, gestern so schnell zu handeln – für Solomon hat sie auch mit der Anwesenheit von uns Reportern zu tun.
Die Spuren des schmutzigen Geldes führen uns am Ende unserer Recherche dorthin zurück, wo sie begonnen hat: nach Deutschland. In Berlin steht Dirk, der Freier, auf der Straße und wird mit der gesamten Recherche konfrontiert. Was sagt er zu den Ergebnissen? Schließlich ist es die Nachfrage von Männern wie ihm, die den kriminellen Gruppen ihre Millionengewinne bescheren.
Ob es ihm wohl etwas ausmache, mit einer Frau Sex zu haben, die vorher so etwas durchgemacht hat? Und er so ein System stützt? „Ob ich das nun als Kunde mache oder ein anderer“, sagt er nur und, dass ihm Schicksale wie das von Blessing zwar nicht egal seien, er aber auch nicht verhindern könne, dass das System so ist, wie es ist.
Blessings Albtraum – vielleicht macht er Männer wie Dirk zumindest nachdenklich. Für Blessing aber ist er noch lange nicht vorbei. Aus Nigeria kommt eine Nachricht. Die mutmaßliche Menschenhändlerin ist wieder auf freiem Fuß. Inzwischen hat Blessing sogar neue Drohungen bekommen und einen Abschiebungsbescheid der Ausländerbehörde.