Zwei Begriffe mit unklarem Inhalt

Linke Politik, rechte Politik

Zwei Pfeile, die nach rechts und links zeigen
Was ist politisch links, was rechts? © imago
Von Sieglinde Geisel |
Was der Kern von rechter oder linker Politik ist, darüber gab es kaum je Einigkeit. Gerade heute scheinen sich die beiden Begriffe aber in besonders verwirrender Weise zu verändern, in manchen Hinsichten sogar den Platz zu tauschen, meint Essayistin und Reporterin Sieglinde Geisel.
Zur Zeit der französischen Revolution wurden die räumlichen Begriffe "rechts" und "links" auf einmal politisch aufgeladen. In der französischen Nationalversammlung war der Fall noch klar: Auf der linken Seite saß die Revolution, auf der rechten die Monarchie. Die einen wollten, dass sich alles ändert, die anderen wollten, dass alles bleibt, wie es ist. Später saß links der Kommunismus, rechts der Kapitalismus. Denn was als progressiv gilt und was als konservativ, ändert sich mit jeder Epoche.

Rollentausch der Begriffe

Die periodisch wiederkehrende Krise der Begriffe spiegelt daher jeweils eine gesellschaftliche Krise. Meist ist es die Linke, die sich neu definieren muss. Sie begeht dabei unweigerlich Verrat an ihren Idealen: Immer gibt es ein "linkes Projekt", das aufgegeben wird, zum Beispiel von jenen, die den Marsch durch die Institutionen antreten und zu Kompromissen gezwungen sind, wie seinerzeit die Achtundsechziger.
Die Rechte hat es leichter, denn sie braucht kein Projekt. Sie projiziert keine Zukunft, sondern will das Bestehende bewahren. Ihre Krise äußert sich darin, dass sie in eine mythisch verklärte Vergangenheit zurück möchte.
Derzeit sind wir mitten in einem solchen Rollentausch. Allerdings scheint es, als würden die beiden Lager nicht nur ihre Inhalte tauschen, sondern auch die Seite. Die Linke wird auf einmal als staatstragend empfunden – vulgo "Elite" –, während die Rechte sich als "Alternative" definiert. Der Protest gegen das Bestehende kommt von rechts, während die Linke sich gezwungen sieht, ihre Werte zu verteidigen: Demokratie, Pluralismus, Aufklärung. Die Linke ist konservativ, während die Rechte utopisch denkt, mit dem Wort "Heimat" als Kampfbegriff. Sitzt also die Revolution heute rechts und das Establishment links?

Epochaler Wandel

Die Verwirrung der Begriffe spiegelt einen Epochenwandel, den wir noch kaum begriffen haben. Digitalisierung, die Erwärmung der Erde, globale Geldströme, Migration – mit klassischem Rechts-Links-Denken ist den Phänomenen des 21. Jahrhunderts nicht beizukommen. Zweihundert Jahre nach der Geburt von Karl Marx erkennen wir, dass seine Begriffe unsere Welt nicht mehr beschreiben: Statt in "Großbürgertum" und "Proletariat" teilt sich die moderne Gesellschaft in Kosmopoliten und Verwurzelte, in jene, die eine offene, und jene, die eine geschlossene Gesellschaft wollen. Nicht mehr der Besitz ist ausschlaggebend für die politische Orientierung, sondern die Geisteshaltung: Nicht mehr das Sein bestimmt das Bewusstsein, sondern umgekehrt.
"Framing" ist das Stichwort unserer Tage: Es bezeichnet die unbewussten Überzeugungen, nach denen wir unsere Welt ordnen. Sehe ich die Welt als einen Ort des Überflusses, neige ich zur Kooperation mit anderen – nicht, weil ich der bessere Mensch bin, sondern weil ich davon ausgehe, dass dies meinen Interessen dient. Betrachte ich die Welt dagegen als einen Ort des Mangels, sind die anderen meine Konkurrenten, denn im Wettkampf um knappe Ressourcen handle ich gegen meine Interessen, wenn ich mit den anderen teile. Ob ich mich von Migration bedroht oder bereichert fühle, hängt unter anderem mit solchen Annahmen zusammen.

Links die Zuversichtlichen, rechts die Besorgten

Demnach könnte man sagen: Links sitzen in unserer Nationalversammlung die Zuversichtlichen und rechts die Besorgten. Links ist, wer eine offene Gesellschaft will, an das Gute im Anderen glaubt und ihn willkommen heißt. Rechts ist, wer die Grenzen schließen will, lieber mit dem Schlechten im Anderen rechnet und nicht in die Gutmenschenfalle tappen will. Die Begriffe, mit denen sich das neue Links und das neue Rechts fassen lassen, haben wir noch nicht gefunden.
Vielleicht brauchen wir auch keine neuen Worte, denn die Sprache lässt uns in ihrer Weisheit mit ihrer Links-Rechts-Metapher alle Freiheiten: Rechts und links sind räumliche Begriffe. Gerade weil sie keinen politischen Inhalt haben, können wir sie nach Belieben mit neuen Inhalten aufladen.

Sieglinde Geisel, 1965 im schweizerischen Rüti/ZH geboren, studierte in Zürich Germanistik und Theologie. 1988 zog sie als Journalistin nach Berlin-Kreuzberg, von 1994-98 war sie Kulturkorrespondentin der NZZ in New York, von 1999 bis 2016 in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene Medien als Literaturkritikerin, Essayistin und Reporterin. An der FU Berlin hat sie einen Lehrauftrag für Literaturkritik, an der Universität St. Gallen gibt sie Schreibworkshops für Doktoranden. Buchpublikationen: "Irrfahrer und Weltenbummler. Wie das Reisen uns verändert" (2008) und "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille" (2010).

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