Zwei deutsche Frauen in türkischer Haft

Konstruierte Vorwürfe gegen Mutter und Tochter

23:56 Minuten
Gönül Örs (l.) und ihre Mutter Hozan Canê lächeln in die Kamera
Inhaftiert in zwei verschiedenen Gefängnissen in der Türkei: Hozan Canê (re.) und ihre Tochter Gönül Örs. © Gönül Örs
Agit Keser und Doğan Akhanlı im Gespräch mit Isabella Kolar · 05.11.2019
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Sechs Jahre und drei Monate: Zu dieser Haftstrafe wurde die deutsche kurdischstämmige Sängerin Hozan Canê in der Türkei verurteilt. Seit zwei Monaten sitzt ihre Tochter Gönül Örs nun ebenfalls in einem türkischen Gefängnis. Warum?
Gönül Örs, eine 36-jährige Sozialwissenschaftlerin, kämpfte vor einem Jahr an allen Fronten für ihre im Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy inhaftierte Mutter Hozan Canê. Inzwischen sitzt sie selbst in der Türkei in Untersuchungshaft. Nachdem ihre Mutter wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden war, sagte Gönül Örs in der Weltzeit vom 12. Dezember 2018:

"Es ist nicht nur meine Mutter, die ungerecht verurteilt worden ist, es sind so viele Menschen in der Türkei, so viele Journalisten, so viele Künstler, so viele Abgeordnete, die seit Monaten, Jahren, grundlos hinter den Gittern sitzen und weiterhin auch auf ihre Verhandlungen sogar warten. Dieses Urteil werde ich nicht akzeptieren und das wird kein Mensch, der halbwegs logisch denkt, akzeptieren können. Ich werde weiterhin für meine Mutter kämpfen – und nicht nur für meine Mutter, für alle zu Unrecht inhaftierten Personen. Es tut mir leid, dass meine Stimme gerade zittert. Obwohl ich mit so einer Ungerechtigkeit gerechnet hatte, hatte ich trotzdem diese Hoffnung, dass das doch anders ausgehen würde."

Porträt von Hozan Canê
Hozan Canê sitzt seit Juni 2018 in Istanbul im Gefängnis.© Gönül Örs
Nach Auskunft eines Cousins von Gönül Örs, Agit Keser, bekommt die 49-jährige Hozan Canê derzeit Medikamente unbekannter Herkunft, auch die Familie sei darüber nicht informiert. Genau wie ihre Tochter dürfe sie nur einmal die Woche zehn Minuten lang telefonieren. Alle Telefonate aus dem Gefängnis würden abgehört, so Keser, so dass seine Cousine und seine Tante dort auch nicht offen reden könnten.
Hozan Canê und Gönül Örs sitzen zwar beide im Großraum Istanbul ein, aber nicht im selben Gefängnis, was von der Familie als zusätzliche Schikane empfunden wird.

Verlust der Erinnerung durch Medikamente?

Hozan Canê gehe es gesundheitlich schlecht, sie könne sich an nichts mehr erinnern und habe sich ihre jahrzehntelang sorgfältig gepflegten langen Haare abgeschnitten, was Besorgnis bei denen auslöse, die sie gut kennen. Nachdem die erste Berufung gegen ihr Urteil abgelehnt worden sei und die zweite bislang ergebnislos verliefe, versuche man nun, sagt Agit Keser, sie so schnell wie möglich herauszuholen - mit Hilfe des Auswärtigen Amtes und der Deutschen Botschaft in Ankara sowie des Generalkonsulats in Istanbul. Doch trotz monatelanger Bemühungen sei bis jetzt nichts passiert.
Agit Keser steht vor dem Eingang des Auswärtigen Amtes in Berlin.
Agit Keser ist der Cousin von Gönül Örs und der Neffe von Hozan Canê. Er hält den Kontakt zu ihnen im Gefängnis und drängt die deutschen Behörden, etwas zu unternehmen. © Privat
Hozan Canê wurde unter anderem deshalb verurteilt, weil sie einen Film über das tragische Schicksal der Jesiden in Syrien gedreht hatte. Dabei kursierten auch Fotos mit Waffen auf Facebook. Ihrer Tochter wird vorgeworfen, in einem kurdischen Zusammenhang im Jahr 2012 für die Kaperung eines Schiffs auf dem Rhein in Köln verantwortlich zu sein. "Ein juristisch nicht haltbarer Vorwurf", sagt Keser, das sei reine Willkür. Im Moment ist aber unklar, was Gönül Örs als mögliche Anklage erwartet, da ihre Anwältin seit zwei Monaten keine Akteneinsicht bekommt.
Die Autorin Claudia Kuhland hat Gönül Örs seit langem mit der Kamera begleitet, auch bei Gönüls letzter Reise in Richtung Türkei, von der diese nicht mehr wiederkam. In der ARD-Sendung "ttt titel thesen temperamente" hat sie im September davon berichtet.

Ein Exempel statuieren, um abzuschrecken

Was ist der Grund für diese Art der Verfolgung zweier deutscher Frauen in der Türkei, dem Herrschaftsbereich von Präsident Erdoğan? Agit Keser glaubt, dass es sich um einen Einschüchterungsversuch handelt. Da die Sängerin Hozan Canê in ihrer Community sehr berühmt ist, solle an ihr und ihrer Familie ein Exempel statuiert werden, um anderen potenziellen Kritikern Angst einzujagen.
Doğan Akhanlı bei der Einweihung des Denkmals für den Genozid an der armenischen Bevölkerung in Köln.
"Nur öffentlicher Druck kann helfen", sagt Doğan Akhanlı, ein Schriftsteller mit Hafterfahrung in der Türkei.© WDR / Herby Sachs / version-foto.de
Angesichts des Nordsyrien-Konflikts und des deutschen Interesses am Flüchtlingspakt mit der Türkei sind die Aussichten auf eine Freilassung der beiden Frauen derzeit nicht allzu groß, sagt der türkischstämmige Kölner Autor Doğan Akhanlı, der selbst politischer Gefangener in der Türkei war. Er hat sich gemeinsam mit Gönül Örs, als sie noch frei war, für ihre Mutter eingesetzt und hat Briefkontakt mit Hozan Canê.

Nur öffentlicher Druck kann helfen

Akhanlı hat im August in Weimar die Goethe-Medaille, die Auszeichnung des Goethe-Instituts für seinen Einsatz für die deutsche Sprache und die Völkerverständigung verliehen bekommen und hat sie Hozan Canê gewidmet, weil sie – so sagt er "wie zehntausende andere Menschen Opfer staatlicher Willkür und Arroganz in der Türkei geworden ist". Er glaubt, dass die Tatsache, dass die beiden Frauen Kurdinnen sind, ein großer Nachteil für die Möglichkeit einer Freilassung sei, denn die Diskriminierung der Kurden habe in der Türkei Tradition. Nur öffentlicher Druck könne hier helfen.
Deshalb organisiert Agit Keser verschiedene Mahnwachen für seine Verwandten, für Hozan Canê und für Gönül Örs, und ruft zum Einsatz für die beiden inhaftierten Frauen auf.

Die erste Mahnwache findet am Mittwoch, dem 6. November 2019, zwischen 12 und 16 Uhr vor dem türkischen Konsulat in Hürth bei Köln (Luxemburger Str. 285, 50354 Hürth) statt. In Berlin ist eine Mahnwache im Dezember geplant.

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