Zwei Jahre nach den Ausschreitungen

Wie Kunst und Kultur die Stimmung in Chemnitz verändern

14:01 Minuten
Chemnitz will Kulturhauptstadt werden. Seit der Bewerbung verändert sich die Stimmung in der Stadt.
Chemnitz will Kulturhauptstadt werden. Seit der Bewerbung verändert sich die Stimmung in der Stadt. © www.imago-images.de
Von Thilo Schmidt |
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Im August 2018 marschierten in Chemnitz Rechtsextremisten zusammen mit ganz normalen Bürgern auf, Migranten wurden gejagt, Restaurants angegriffen. Nun will Chemnitz Europäische Kulturhauptstadt werden. Eine Bewerbung, die der Stadt guttut.
Ende August 2018: Eine aufgebrachte Menge jagt über mehrere Tage Migranten durch Chemnitz, greift Journalisten und Polizisten an. Darunter Neonazis und Aktivisten aus dem rechtsextremen Spektrum.
Ausgelöst wurden die Krawalle durch den Tod des 35-jährigen Daniel Hillig, der in einer Auseinandersetzung mit zwei Flüchtlingen erstochen wurde. Daraufhin mobilisierten rechtsextreme Gruppen bundesweit zu Protesten und Ausschreitungen. Ein jüdisches Restaurant wird überfallen, ein paar Wochen später zwei persische Restaurants. Ein türkisches Restaurant brennt nach einem Anschlag vollständig aus.
Am Abend des 7. Oktober 2018 betreten drei Männer das persische Restaurant „Safran“. Masoud Hashemi heißt sie herzlich willkommen, aber die Männer zeigen den Hitlergruß und zertrümmern die Einrichtung. Einer rammt Hashemi ein Knie in den Bauch, er fällt mit dem Kopf gegen die Heizung. Der Iraner erleidet einen Schädelbruch, manche Wunde ist bis heute nicht verheilt.
Seinem Kopf gehe es viel besser, sagt Masoud Hashemi. Er habe keine Angst. Die Polizei kontrolliere sein Restaurant, das bedeute für ihn Sicherheit. „Und auch alle meine Nachbarinnen und Nachbarn: Die sind eine große Hilfe für mich.“

Die Bundeskanzlerin als Überraschungsgast

Die Täter werden nicht gefasst. Immerhin, eine Welle der Solidarität erfasst Hashemi. Und auch dies passiert im Restaurant Safran, an einem Sonntag im März 2019: „Ein Mann und eine Frau kamen, und haben gesagt, sie möchten einen Tisch reservieren, für zehn Personen“, erzählt Masoud Hashemi. „Ich habe gedacht, einfach Gäste.“ Aber dann habe sich ein sehr muskulöser Mann das Restaurant angeschaut. Masoud Hashemi fragte sich, was los sei.
Zwei Stunden später betreten die zehn Gäste das Restaurant. Darunter: Barbara Ludwig, die Oberbürgermeisterin, Ministerpräsident Michael Kretschmer und – Angela Merkel.
Das sei eine Überraschung gewesen, erinnert sich Hashemi. Seine Gäste, die da waren, seien plötzlich sehr aufgeregt gewesen, fast ein bisschen geschockt. „Und dann hab ich zur Tür gesehen: Ach, Frau Merkel!“ Auch er sei dann etwas geschockt gewesen.
Aber, erzählt er: „Sehr nett, wir haben uns umarmt, und sie hat mir noch gesagt, das tut mir wirklich leid, dieses Thema. Sie haben da zwei Stunden gesessen, und gegessen, persisches Essen, und gesagt: ‚Lecker!‘ Wir haben viel erzählt, das hat mir große Sicherheit gegeben. Und mein Herz ist ganz ruhig.“
Masoud Hashemi vor einem Foto mit der Bundeskanzlerin und weiteren Personen in seinem Restaurant.
In Masoud Hashemis iranischem Restaurant speiste die Kanzlerin samt Entourage – es war von Neonazis attackiert worden.© Nasser Hashemi
Ruhe eingekehrt ist in Chemnitz indes nicht. Personen aus dem Umfeld der AfD und der rechtsextremen Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ rufen regelmäßig zu „Spaziergängen“ durch die Innenstadt auf. Unangemeldet, ohne Abstand und Mundschutz. Und längst laufen auch Coronaleugner mit. Jedoch: Es sind kaum mehr als zwei Dutzend Spaziergänger, die jeden Montag auf dem Marktplatz im Kreis laufen. Das Bündnis „Aufstehen gegen Rassismus“ reagiert mit – angemeldeten – Mahnwachen.

Anschlag auf Lübcke in Chemnitz geplant?

Selbst die AfD, die jetzt, seitdem es wieder möglich ist, versucht habe, in Chemnitz eine öffentliche Veranstaltung zu machen, habe nicht mehr als 200 Leute auf die Straße gebracht, berichtet Gabriele Engelhardt von „Aufstehen gegen Rassismus“.
Der Bundestagsabgeordnete Stephan Brandner sei da gewesen, außerdem Ulrich Oehme, der Landeschef von Sachsen, der AfD-Vorsitzende in Sachsen, Jörg Urban, und Volker Dringenberg, Landtagsabgeordneter und Vorsitzender der Chemnitzer Stadtratsfraktion. „Das sind alles Flügel-Leute“ so Engelhardt. „Und wir mit unserer coronabedingt niedrigschwelligen Gegenmobilisierung, wir hatten genauso viele Leute, wenn nicht noch mehr, gegen die auf der Straße.“
Doch das sei kein Grund zur Entwarnung, sondern vielleicht nur die Ruhe vor dem Sturm. Es ist Pandemie, und im September ist Oberbürgermeisterwahl. Die Führungsfigur von „Pro Chemnitz“, Martin Kohlmann, tritt an, genau wie AfD-Mann Ulrich Oehme, der dem „Flügel“ zugerechnet wird.
Seit den Ausschreitungen vor zwei Jahren ist viel passiert in Chemnitz. Das alles hat, so sagt Gabriele Engelhardt, die Anständigen ein bisschen zusammengeschweißt. Doch es folgten die Anschläge von Hanau und Halle. Und der Mord an Walter Lübcke – der möglicherweise seinen Ursprung in Chemnitz hat. Am 1. September 2018.
„Da hatte ja ‘ne Woche drauf die AfD hier nach Chemnitz gerufen, Höcke war da, Kalbitz, der Herr Oehme stand in der ersten Reihe, gleich dahinter Lutz Bachmann von Pegida. Und da drunter war der Stephan Ernst, und sein Kumpel, der da auch Mittäter ist, im Fall Lübcke“, so Gabriele Engelhardt. „Die haben jetzt ausgesagt in der Gerichtsverhandlung, dass sie sich in Chemnitz radikalisiert haben. Und dass sie sozusagen auf dem Rückweg von der Demo in Chemnitz gesagt haben, wir müssen jetzt was tun.“

Widersprüche und Umbrüche

Chemnitz bewirbt sich als Europäische Kulturhauptstadt 2025. Es sind die Widersprüche in der Geschichte der Stadt und die Umbrüche der Gegenwart, mit denen sich Chemnitz empfiehlt. Schon die Bewerbung macht sich bemerkbar in der Stadt.
„Es ist ein kultureller Impuls für die Stadt“, sagt Maythem Jabar Adulhassan, der Migranten berät im Café International, einer Beratungsstelle von Caritas und Diakonie. „Es ist eine bunte Stadt, der Zusammenhalt miteinander und das demokratische Engagement in Chemnitz ist größer geworden.“
Vor anderthalb Jahren, als ich ihn das erste Mal besuchte, war er viel weniger optimistisch als heute. Migranten in der Beratungsstelle berichteten damals von latentem Alltagsrassismus und Anfeindungen.
Porträt von Maythem Jabar Abdulhassan vor einer Pinnwand
Maythem Jabar Abdulhassan hilft Migrantinnen und Migranten bei Behörden-Angelegenheiten.© Deutschlandradio / Thilo Schmidt
„Der August 2018 war sehr schlecht, besonders für Migranten und andere Kulturen in der Stadt.“ 2019 habe es ein bisschen nachgelassen. Seiner Meinung nach ist es viel besser geworden, seitdem sich die Stadt als Kulturhauptstadt 2025 bewirbt. „Und sie ist einen Schritt weiter. Es gibt so viele neue Projekte, kulturelle Impulse in die Stadtgesellschaft.“

Kunst soll provozieren

Projekte, die Teilhabe ermöglichen, Impulse, die anregen. Ein DJ-Duo spielt am Schlossteich zum Tretbootkonzert. Straßenkonzerte. Begehungen. In einer Grünanlage im Zentrum sind zwei alte Straßenbahnen abgestellt, damit Bürger sie bemalen und besprühen. Leute bleiben stehen, schauen, diskutieren.
In sozialen Medien wird heftig diskutiert, was daran Kunst sei, Schrott in der Innenstadt abzustellen. Es funktioniert. Die vornehmste Aufgabe der Kunst: Sie regt an, provoziert. Für Abdulhassan ist klar: Jetzt passiert es einfach. Es ändert sich.
Eine kunterbunt bemalte und besprühte alte Straßenbahn im Chemnitzer Zentrum.
Auch das ist Kunst: eine ausrangierte Straßenbahn im Chemnitzer Zentrum – zum Bemalen.© Deutschlandradio / Thilo Schmidt
„Diese Tage, wir vergessen sie nie: 2018, was im August und im September passiert ist“, sagt er. „Aber das ist weniger geworden. Ich stelle mir vor: Chemnitz ist bunt. Chemnitz bleibt bunt. Neonazis können sich in Chemnitz nicht mehr legitimieren! Und Chemnitz hat gezeigt: Die demokratische Kultur ist die Mehrheit in Chemnitz!“

Nur ein Kritiker stellt sich dem Gespräch

Als ich vor anderthalb Jahren in Chemnitz war, sagten mir Migranten, sie haben sich zeitweise freitags, als „Pro Chemnitz“ aufmarschiert ist, nicht mehr in die Innenstadt getraut. Auf meine Reportage folgten Hörerzuschriften. Frank F. gab sich „empört“. Andreas R. erregte sich über „bestellten Propagandadreck“, den ich da abgeliefert hätte. Ich habe sie um ein Gespräch gebeten. Alle haben abgelehnt oder erst gar nicht reagiert.
„Freitags kann man nicht in die Innenstadt gehen, da finden Demonstrationen statt, das sind Behauptungen, die stimmen schlichtweg nicht“, sagt Peter Patt. „Und die haben auch nicht vor zwei Jahren gestimmt. Das erzeugt nach außen ein völlig falsches Bild von Chemnitz.“
Peter Patt ist der einzige, der auf mein Gesprächsangebot eingegangen ist. Der Landtagsabgeordnete der CDU, der vor 30 Jahren aus dem Westen nach Chemnitz gekommen war, hatte sich in einem Offenen Brief an Deutschlandradio gewendet. Man könne das vermittelte Bild über Chemnitz so nicht stehenlassen.

Die Kulturhauptstadt als Chance

„Ja, wir müssen dazu stehen, dass es das hier gegeben hat, und wir wollen das auch unterbinden, dass sowas wieder passiert – aber nein, diese Stadt ist nicht untergegangen, diese Stadt wird nicht von einem braunen Mob regiert, oder attackiert, jeden Tag; und unabhängig davon gibt es die Übergriffe jeden Tag in die andere Richtung genauso, leider“, so Patt. „Und jegliche Form von Übergriff, ob nun von Ausländern gegenüber Inländern oder Inländern gegenüber Ausländern, das geht nicht.“
„Trotzdem haben Migranten in Chemnitz Angst und erleben Alltagsrassismus, den Sie und den ich so gar nicht erleben können und gar nicht wissen können, wie das ist, angespuckt zu werden, im Café nicht bedient zu werden – können Sie das ein bisschen nachvollziehen?“ frage ich Peter Patt.
„Völlig richtig“, antwortet er. „Sowas kann nicht in Frage kommen. Und da muss sich der Staat auch schützend vor alle Bürger und Einwohner stellen. Und diese Sorge haben Sie in Leipzig-Connewitz anders herum, und die haben Sie in Berlin an vielen Stellen.“
Ihm sei es darum gegangen, ob das zu einer Stigmatisierung einer ganzen Stadt führen kann, sagt Patt. Wir reden noch eine ganze Weile weiter, vor der Kulisse von Kunstsammlung und Opernhaus. Ja, Chemnitz ist schön, aber damit ist es noch nicht getan. Und in einem sind sich – außer den Demagogen und Rassisten – vermutlich alle einig: Die Kulturhauptstadt ist eine Chance.
Ein Kunstwerk in Form einer Art unfertigen Brücke über eine Straße in Chemnitz.
„Wandelgang“ des niederländischen Künstlerkollektivs Observatorium: Das Werk ist Teil eines Kunstprojekts im öffentlichen Raum in Chemnitz.© imago images / Sylvio Dittrich
„Wir können doch nicht Kirchturmdenken machen“, sagt Peter Patt. „‘Unsere Kinder gehen weg – sag‘ ich: Ja, ist gut! Die sollen in die ganze Welt gehen. Sollen von Chemnitz berichten. Und wie schön, wenn sie zurückkommen oder wenn andere dafür kommen, weil die Kinder wiederum berichtet haben, wie schön es hier eigentlich ist.“
Dieses Kirchturmdenken könne nicht der Maßstab politischen Handelns sein. „Sondern das ist Offenheit. Offenheit, die dann auch zu einer Europäischen Kulturhauptstadt führen kann.“ Manche fragten sich, was das bringt. „Es bringt uns wirklich eine Offenheit und eine internationale Aufgeschlossenheit.“
Wie leicht hat es Kunst, hat es Neues in Chemnitz?
„Das ist sicher sehr schwer, wenn man sich die demografische Situation der Stadt Chemnitz mal vor Augen hält“, sagt Ecke Bauer. „Ist ja schon ein ziemliches Gefälle in Richtung Alter vorhanden.“ Der 61-Jährige ist Chemnitzer Urgestein, Musiker, bis zum vergangenen Jahr Stadtverordneter für die SPD.
Man müsse auch davon ausgehen, dass Kulturhauptstadt als Begriff auch oftmals missverstanden wird, sagt Bauer. „Viele Menschen stellen sich unter Kultur die übliche Kultur vor.“ Dabei wolle man ja gerade etwas Neues entwickeln: Kultur, die anregt, auch provoziert, Meinungen bildet.
„Sicherlich ist es strittig, ein Auto zu versenken. Aber auch das gehört mit dazu. Es geht um das Verstehen. Verstehen, was ist heutzutage Kultur, was gehört alles dazu. Vielfältigkeit, Provokation, und so weiter und sofort.“

„Es wird diskutiert, auf allen Ebenen“

Im Schlossteich ragt ein alter Skoda halb aus dem Wasser. Versenkt hat ihn ein Künstler im Rahmen der Kulturhauptstadt-Bewerbung.
Ein bis zum Dach versenkter Skoda in einem Teich in Chemnitz.
Kunstwerk im Chemnitzer Schlossteich: Es wurde allerdings bereits Opfer von Vandalismus.© imago images / Sylvio Dittrich
Vor einigen Tagen wurde das Auto demoliert. Scheiben sind geborsten, das Blech verbeult. Voraus gingen Kommentare in den sozialen Medien: „Steuergelder versenkt“, „Umweltdelikt“, „Schmierentheater“. Aber eben auch: Diskussionen, aus denen – vielleicht – ein Miteinander entsteht.
„Ich würde meinen, die Stadt hat sich in dem Sinne gewandelt, dass es ein besseres Miteinander gibt, auch mit der Bürgerschaft, es wird mehr diskutiert, auf allen Ebenen“, resümiert Ecke Bauer. „Und dieser Negativ-Touch haftet natürlich der Stadt Chemnitz noch an, wird aber sicherlich durch diese vielen Initiativen der Bevölkerung, der Stadtführung, Institutionen, freien Kulturträger doch einer ziemlichen Wandlung unterworfen.“
Ecke Bauer, Chemnitzer Urgestein, Musiker, ehemaliger SPD-Stadtverordneter
Ecke Bauer, Chemnitzer Urgestein, Musiker und ehemaliger SPD-Stadtverordneter: Er warnt, dass der Begriff „Kultur“ missverstanden werden könnte.© Deutschlandradio / Thilo Schmidt
Es gab einen langen Schlafzustand in Chemnitz, sagt Ecke Bauer. Jetzt ist Aufbruch und Neuorientierung.
Gabriele Engelhardt von „Aufstehen gegen Rassismus“ fügt hinzu: „Wir haben ja hier ganz viele diverse Gruppen der Zivilgesellschaft, die sich für Geflüchtete einsetzen, für das Zusammenleben mit Behinderten, für Schwule und Lesben, die in breitester Form die gesamte Stadtgesellschaft einbeziehen.“ Aber man erfahre zu wenig davon. „Und ich denke, die Darstellung der Vielfalt, die hinter den Fenstern, hinter den Türen hier stattfindet, das muss einfach mehr raus. Und ich denke, in einem Kulturhauptstadtbewerbungs-Prozess wird auch vieles davon jetzt langsam sichtbar.“
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