Zwei neue Bücher über Armut

Markige Skandalisierung gegen spröde Analyse

Auf einem Gehweg sitzt ein Mann in einer Decke. Vor ihm steht ein Becher. Ein Passant geht vorbei.
Die Armut in Deutschland nimmt zu © dpa / picture alliance / Paul Zinken
Von Ursula Weidenfeld |
Sie kennen sich aus mit Armut: Der eine leitet die Caritas, der andere den Paritätischen Wohlfahrtsverband. In ihren neuen Büchern nutzen Ulrich Schneider und Georg Cremer dieselben Zahlen - und ziehen doch ganz andere Schlüsse daraus.
Ulrich Schneider ist Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. 160.000 Mitarbeiter schaffen für die Mitgliedsverbände des Sozialverbands: vom Kinderschutzbund über die Interessenvertretung von Menschen mit Autismus bis hin zur Hannelore-Kohl-Stiftung. Sie alle kümmern sich um sozial Benachteiligte, um Arme, um Kranke.
Schneider ist ihr Lautsprecher. Er sitzt für sie in Talk-Shows und bearbeitet in ihrem Interesse die Sozialpolitiker in Berlin. Einmal im Jahr legt er für seinen Verband den Armutsbericht vor. Der Tenor ist immer derselbe: Die soziale Spaltung in Deutschland nimmt zu, die Mehrheitsgesellschaft lässt ihre Armen eiskalt im Elend verkommen.

Vermeintliche und echte Notstände

Jetzt hat er ein Buch geschrieben, weil ihm die Armut in Deutschland keine Ruhe lässt. Leidenschaftlich schreibt er gegen die Gleichgültigkeit gegenüber den sozialen Verhältnissen in Deutschland an. Wütend prangert er vermeintliche und echte Notstände an. Höhnisch begegnet er den Bemühungen der Politiker, mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Auf nahezu jeder Seite des Bandes "Kein Wohlstand für alle!? Wie sich Deutschland selbst zerlegt und was wir dagegen tun können" wird der verblendete Neoliberalismus der Herrschenden beklagt und mehr Umverteilung gefordert.
Armut, so sagt Schneider, ist nicht nur das Problem der 18 Prozent der tatsächlich Armen im Land, es ist auch das Problem der von Armut Bedrohten. 40 Prozent der Bevölkerung des Landes leben seiner Ansicht nach in großer Gefahr, arm zu werden. Der Staat, unterstellt Schneider, will daran nichts ändern. Er verweigere sich einer höheren Erbschaft- und Vermögensteuer, einer höheren Belastung der Reichen. Schneider ist der Linkspartei beigetreten. Sein Buch liest sich wie eine unendliche Bundestagsrede von Sahra Wagenknecht.

Dieselben Zahlen andere Schlüsse

Ganz anders dagegen ein Buch, das auf den ersten Blick viele Gemeinsamkeiten mit Schneiders Werk hat. "Armut in Deutschland" heißt es. Sein Autor ist Georg Cremer, ebenfalls Spitzenfunktionär eines Sozialverbandes. Auch ihm lässt die Armut in Deutschland keine Ruhe. Cremer leitet die Caritas mit nahezu 600.000 Mitarbeitern deutschlandweit. Er nutzt dieselben Zahlen wie Schneider, doch er zieht andere Schlüsse.
Statt die Armutskeule zu schwingen, plädiert Cremer dafür, sich auf die zu konzentrieren, die tatsächlich und dauerhaft arm sind. Statt den Sozialstaat in "folgenloser Empörung" zu beschimpfen, wirbt er für Befähigungsgerechtigkeit. Eine soziale Gesellschaft kümmere sich nicht nur materiell um ihre Armen. Sie sorge dafür, dass die von Armut Bedrohten ihr Potenzial entfalten können und ihrem Los entkommen. Sie schaue bei Armutsrisiken wie Bildungsferne früher hin und handle eher.
Markige Skandalisierung gegen spröde Analyse, Umverteilung von Geld gegen Neuverteilung von Chancen: Die beiden Bücher bezeichnen in ihrer Haltung, in der Analyse der Fakten und in ihren politischen Forderungen die gegensätzlichen Pole der aktuellen Armuts- und Ungleichheitsdebatte. Wo Schneider "Alarm" ruft und zur Revolution drängt, mahnt Cremer zu Zähigkeit und zum Marsch durch die Institutionen. Unterhaltsamer ist das von Ulrich Schneider. Realistischer ist das von Georg Cremer.

Ulrich Schneider: Kein Wohlstand für alle!? Wie sich Deutschland selber zerlegt und was wir dagegen tun können
224 Seiten, 18 Euro
Westend Verlag
Georg Cremer: Armut in Deutschland – Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?
271 Seiten, 16,95 Euro
C.H. Beck

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