Dichtung und Wahnsinn
17:53 Minuten
Wenige Dichter wurden über mehrere Jahrhunderte hinweg so aufmerksam gelesen und interpretiert, aber auch ideologisch vereinnahmt wie Friedrich Hölderlin. Rüdiger Safranski und Karl Heinz-Ott wagen dennoch den Versuch einer zeitgemäßen Annäherung.
Andrea Gerk: Zu seinen Lebzeiten war Friedrich Hölderlin ein verkanntes Genie, das sich, nachdem er mit Hegel und Schelling studiert hatte, als Hauslehrer durchschlug, für die Revolution begeisterte und schließlich ganze 36 Jahre in einer Turmstube seine ganz eigene Welt verdichtete. Nach seinem Tod wurde er verehrt und vereinnahmt wie kaum ein anderer Dichter. Herr Safranski, wie haben Sie es da geschafft, in dem Dickicht von Interpretationen noch einmal einen eigenen frischen Zugang zu schaffen?
Rüdiger Safranski: Das geht nur, wenn man selber schon mal einen Zugang hat. Ich habe die Gedichte von Hölderlin - einige von ihnen, die ich für die schönsten halte, die es in der deutschen Sprache gibt - schon früher auswendig gelernt. Und damit kann man in diesen Sprachkunstwerken herumgehen und bewohnt sie gewissermaßen. Insofern konnte ich auch diese ganze Wirkungsgeschichte gewissermaßen durchqueren. Ich habe versucht einen Tigersprung direkt zu Hölderlin zu machen - obwohl die Rezeptionsgeschichte unglaublich spannend ist. Das können wir auch gerade in dem Buch von Ott erfahren.
Schlüssel zum Hölderlin-Turm
Gerk: Herr Ott, Sie steigen auch ganz persönlich ein. "Tübinger Visionen" heißt das erste Kapitel, und das ist ja ganz konkret bei Ihnen: Sie hatten im Studium sogar den Schlüssel zum Hölderlin-Turm und Ihr erster Roman zitiert auch im Titel Hölderlin. Was haben Sie denn für Bilder im Kopf zu diesem Dichter?
Karl-Heinz Ott: Er ist mir in der Tat seit dem Studium sehr ans Herz gewachsen - was nicht heißt, dass man nicht ambivalente Gedanken und Gefühle dazu haben kann. Aber während des Studiums hatte ich in der Tat den Schlüssel zum Hölderlin-Turm und hatte dort am Wochenende immer Führungen gemacht. Da war ich natürlich auch ganz stolz drauf, weil ich nachts gelegentlich Gäste heimlich in den Turm führen konnte. Man musste sehr aufpassen und nicht groß eine Flasche Wein trinken. Das war alles sehr fein und ein bisschen aseptisch, aber der Stolz war natürlich schon da.
Gerk: Und hat man dort auch heimlich nachts Gedichte rezitiert?
Ott: Nein, es ging ein bisschen prosaischer zu.
Vom Geheimtipp zum Mythos
Gerk: Was denken Sie beide, warum gerade dieser Dichter über so eine lange Zeit mit so starkem Interesse betrachtet und gelesen wird? Es gab und gibt ja auch regelrechte Schlachten um die Deutungshoheit. Es gab zwei verschiedene große Ausgaben. Liegt das in seinem Werk begründet?
Safranski: Ich finde, er wird gar nicht mehr so viel gelesen. Das finde ich sogar ziemlich traurig. Aber Sie haben natürlich recht, er ist ungefähr um 1900 herum - auch veranlasst durch die George-Schule und so weiter - vom Geheimtipp zum Mythos aufgestiegen. Es gibt deswegen einen, wie man in Schwaben sagt, Heidenrespekt vor dem Hölderlin. Aber ich habe eben trotzdem nicht den Eindruck, dass das gedeckt ist von einer wirklich intensiven Lektüre im allgemeinen Publikum.
Es ist aber so, weil er so ein Mythos und eine solche Bedeutung hat, haben sich die ganze Philologie und die Deutungsprofis um ihn versammelt. Deswegen gibt es da auch unendlich verstiegene Arten, ihn zu interpretieren, weil es die Korrektur eines normalen Leseverhaltens nicht gibt. Das scheint mir das Problem zu sein.
Gerk: Wie denken Sie darüber, Herr Ott, hat das vielleicht auch mit seinem Leben zu tun? Er war ja ein schöner, junger Mann mit zahlreichen Liebschaften. Dann kam der extreme Bruch, durch den er 36 Jahre verrückt, sag ich mal, im Tübinger Turmzimmer lebte. Legt der nahe, dass man da so starke Projektionen auf jemanden wirft?
Poesie im Wahnsinn
Ott: Ja, ich vermute auch, ganz wie Herr Safranski, dass oft gar nicht das Werk im Zentrum stand, sondern die Figur. Das fing schon zu seinen Lebzeiten an, spätestens seit der Turmzeit 1807, dass die schwäbischen Dichter – die Uhlands und die Kerners und die Schwabs und der Waiblinger – bei ihm mehr oder weniger ein und aus gingen oder ihn gelegentlich mal auf einen Spaziergang mitnahmen. Ins Zentrum rückte damals natürlich diese Figur, die, wie soll man sagen – später hat man bestritten, dass er wahnsinnig war –, aber dem man natürlich in seinem Wahnsinn auch göttliche dichterische Fähigkeiten zugesprochen hat.
Damals fing überhaupt erst dieser sogenannte romantische Geniekult an. Man konnte dann das Wesen des Dichters gar nicht mehr vom Gedicht trennen, das war sozusagen eins. Und man sieht schon bei Waiblinger in seiner kleinen Hölderlin-Biografie, die zwar im Titel lautet "Hölderlins Leben – Dichtung und Wahnsinn", dass dort aber von der Dichtung fast nicht die Rede ist.
Jakobiner, Republikaner, Revolutionär
Gerk: Er ist ja tatsächlich auf ganz unterschiedliche Weise ideologisch vereinnahmt worden – von den Nazis, die ihn vaterländisch interpretierten, bis zu den 68ern, die ihn als Revolutionär feierten. Inwiefern liegt das schon in ihm begründet und wo würden Sie ihn einordnen?
Safranski: Revolutionär: Er war nun tatsächlich ein sehr politischer Mensch. Er war ein Jakobiner, das ist natürlich ein weiter Begriff damals, er war ein Freund der Revolution, der Republik, er träumte auch von einer schwäbischen Republik und wurde dann von seinem Freund Sinclair später in eine Art Verschwörung hineingezogen – und ist ja dann sogar im Fadenkreuz der Polizei, der Staatssicherheit von Württemberg, gelandet. Also er war schon auch ein Republikaner, aber das verknüpfte sich bei ihm eben auch mit diesem religiös-poetischen Enthusiasmus. So würde ich das mal nennen.
Er hatte eine ganz besondere Art, Religion und Poesie miteinander zu verknüpfen. Das hing aber wiederum mit der Politik zusammen. Er wollte die verbrüderlichte und verschwesterlichte Menschengemeinschaft, die ganz dicht und unentfremdet, würden wir heute sagen, miteinander leben und in ihrem Leben große Augenblicke realisieren können. Also das gehört schon alles in den Hölderlin hinein: das Poetische, das Religiöse und das Politische.
Gerk: Herr Safranski, Sie haben es gerade schon angedeutet: dieses Gemisch aus Religion, Politik und Göttlichem in Hölderlins Jugend, in der er mit Hegel und Schelling zusammen studiert hat. Diese drei haben ja so eine innere Kirche gegründet. Was war das für eine Idee, was steckte dahinter?
Emazipation von der Philosophie
Safranski: Dieser Freundschaftsbund im Tübinger Stift ist mythenbegründet, aber es war wirklich eine heiße Angelegenheit zwischen den dreien. Und man kann auch sagen, diese drei gehören zum innersten Kern bei der Erfindung des deutschen Idealismus, das ist schon sehr, sehr prägend. Da geht es natürlich um diesen Schub, der damals von der Französischen Revolution ausgelöst wurde: Die Selbstmächtigkeit, dass das wieder an erster Stelle steht, dass die Fantasie, dass die Einbildungskraft, dass das überhaupt die Verhältnisse zum Tanzen bringen könnte. Dieser enthusiastische Geist 'Das schaffen wir, das machen wir' beseelte diese drei.
Aber dieses Wir, was da zusammen entstehen sollte, das war immer noch sehr religiös und republikanisch geprägt. Das sollte ein starkes, heißes Wir werden, und die Poesie sollte jetzt auch von Hölderlin her gesehen bei diesem Unternehmen eine ganz große Rolle spielen. Man muss aber auch sagen, dass Hölderlin, um letztlich ganz frei zu werden für seine Poesie, sich auch von der Philosophie emanzipieren musste. Das wollen heute so manche Philosophen, die sich dann über den Philosophen Hölderlin hermachen – was auch ganz schmeichelhaft und schön ist – manchmal nicht richtig wahrhaben. Hölderlin musste sich auch von der Philosophie emanzipieren, um für die Poesie ganz frei zu werden.
Gerk: Weil er auch diese Zerrissenheit der Welt, die bei Hegel ja zum Beispiel ganz deutlich wird, nicht ertragen konnte. Herr Ott, Sie zeigen das ja ganz deutlich und auch kritisch, dass sehr viel Projektionen in diesem ganzen Bild, das sich die drei oder auch Hölderlin insbesondere von der Antike gemacht haben, steckten. War so eine Rückwärtsgewandtheit, eine Sehnsucht nach alten Zeiten auch ein bisschen Zeitgeist?
Mythologie stiftet Gemeinschaft
Ott: Ja, das war im Schwange, da knüpfen Hölderlin und auch der frühe Hegel sowie Schelling an etwas an, was da ist – ich sage nur Winkelmann. Griechenland war das Inbild der herrlichen Jugendzeit und der Menschheit – heute müsste man dazusagen, der westlichen Menschheit –, und danach kam die Götternacht. Die Götternacht beginnt mit dem Christentum, kann man plusminus sagen. Es zerstört diese pantheistische Naturseeligkeit, und deshalb wünscht sich Hölderlin - anfangs natürlich alle drei Stiftler - eine Zeit zurück, von der sie sich erhoffen, dass sie einerseits nicht hinter die Aufklärung zurückfällt, dass andererseits aber wieder ein mythisches Bild sinnstiftend über die Welt gespannt wird. Und zwar deshalb, weil sie sagen, nicht jeder kann ein aufgeklärter Denker sein, aber wir alle müssen uns in etwas Gemeinschaftlichem finden.
Das Gemeinschaftliche kann im Grunde nur eine Mythologie bilden. Und zwar in dem Sinne, dass sie Bilder liefert und Geschichten und eben nicht nur ein abstraktes Denken. Ich sag es mal heutig: Habermas' Ideal vom herrschaftsfreien Dialog ist recht und gut, aber er bleibt relativ abstrakt - zumindest für den sogenannten einfachen Menschen. Und da denken eben die drei, das das nicht ausreicht, dass wir aufgeklärt sind, denn die Aufklärung an sich – man sieht es bei Kant – zertrennt alle Lebensbereiche und sagt, das gehört hierhin und das dorthin und nichts mehr hängt wirklich zusammen. Und das wollen sie überwinden durch eine erneute Mythologie.
Das Religiöse als Intensitätssteigerung
Safranski: Daran kann man gut anknüpfen. Ich würde da noch so einen anderen Dreh reinbringen, gerade was Hölderlin betrifft: Man muss sich auch noch mal ganz naiv fragen, was das denn eigentlich mit den Hölderlin’schen Göttern ist, die dann so eine Rolle spielen. Es ist tatsächlich so, dass sie alle damals die Antike verehrt haben – von Goethe und Schiller und so weiter. Man kann aber sagen, das ist vielleicht das Alleinstellungsmerkmal von Hölderlin war. Hölderlin war der Einzige, für den diese hinter der Antike stehende religiöse Haltung eine existenzielle Bedeutung hatte. Da hat er im Gegensatz zum Christentum Feuer gefangen.
Er sollte Pfarrer werden, war aber lebenslang auf der Flucht davor, irgendwann als Landpfarrer irgendwo zu enden. Seine religiöse Erfahrung würde ich so beschreiben: Das hat mit Monotheismus gar nichts zu tun. Man könnte sagen, das Göttliche ist momentan, ist plötzlich und es ist situationsbezogen. Wenn eine Freundschaft da ist, dann wohnt ein Gott da. Wenn eine Liebe da ist, dann wohnt ein Gott da. Wenn es einen starken Natureindruck gibt, dann ist da was Göttliches. Und deswegen gibt es auch die vielen Götter, weil gewissermaßen diese Götterbilder zuständig sind für diese Intensitätssteigerung.
Religiös ist bei Hölderlin die absolute Intensitätssteigerung im Moment. Deswegen war er davon überzeugt, dass die Poesie das Organ ist. In dem zerbrechlichen, filigranen Sprachkunstwerk lebt etwas von diesem Geist des gesteigerten Lebens in einzelnen Situationen. Die Aufklärung macht alles platt, sie nivelliert, sie entzaubert, wie man das später sagen wird. Und Hölderlin ist jemand, der die Poesie als Organ der Aufrechterhaltung eines intensiven Lebensgefühls versucht zu nutzen.
Gerk: Glauben Sie, dieser Funke springt heute noch auf heutige Leser über?
Safranski: Also es springt nur über, wenn es ein bisschen auf einen selbst übergesprungen ist. Das lässt sich nicht didaktisch herbeireden, man muss es spüren. Das ist wie bei der Musik, man muss da etwas hören. Wenn man dann aber etwas hört, dann wird man auch hineingezogen. Man muss einfach selbstbewusst sagen: Wer daran teilnehmen will, der ist herzlich eingeladen.
Die drei Stiftler prägen das Denken bis heute
Gerk: Herr Ott, am Ende Ihres Buches kehren Sie noch einmal in den Tübinger Stift zurück. Dort tauchen Geister und Gespenster auf, die gar keine Geister sind, sondern wie Sie sagen: eine Anwesenheit. Was ist denn anwesend, wenn man heute Hölderlins Gedichte liest?
Ott: Ich beziehe das ganz plastisch auf Tübingen, denn das ist ein kleiner, überschaubarer Universitätsort, der in den Gassen noch sehr mittelalterlich geprägt ist. Wenn man dort studiert hat – gut, ich muss sagen, das war in den 80er-Jahren, heutzutage ist die Uni vollkommen anders organisiert und viel verschulter, damals war das ja alles noch wirklich auch in gutem Sinne ein freierer Geist, der dort wehte, ein weniger auf Effizienz gerichteter Geist. Wenn man dort in diesen Gebäuden ist – in der alten Börse, wo Hölderlin ja leider damals im Klinikum war, das war ja keine Lehranstalt damals, und nebendran das Stift und im Hölderlin-Turm, da hat man doch den Eindruck, hier weht deren Geist. Da musste man gar nicht die Schriften in- und auswendig kennen, die sind einfach präsent in Tübingen.
Aber auch insgesamt ist es natürlich so gemeint, dass wir heute alle Diskussionen, die wir führen, im weitesten Sinne politisch, philosophisch, politologisch – gut, man kann natürlich auch alles auf Platon zurückführen –, ihren Kern in der damaligen Zeit haben. Und man kann das gar nicht überschätzen, was die drei Tübinger Stiftler Schelling, Hegel, Hölderlin damals gedacht haben. Diese Gedanken, auch wenn sie später auseinanderdriften bei diesen dreien, prägen doch bis heute das Denken.
Gerk: Haben Sie denn beide ein Lieblingsgedicht oder einen Lieblingsvers von Hölderlin, mit dem wir vielleicht auch das Gespräch beenden?
Safranski: Mein Lieblingsgedicht ist "Hälfte des Lebens". Mal sehen, ob ich das zusammenbekomme: "Mit gelben Birnen und voll wilder Rosen hängt das Land in den See, ihr holden Schwäne, und trunken von Küssen taucht ihr das Haupt ins heilignüchterne Wasser." Und dann: "Weh mir, wenn es Winter ist." Und dann geht es weiter: "Keine Sonne, und Schatten der Erde." Am Ende heißt es: "Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen." Das Gedicht bildet tatsächlich das Leben von Hölderlin ab – die poetische Trunkenheit in der ersten Hälfte des Lebens und im Tübinger Turm, "die Mauern stehn sprachlos und kalt" in der zweiten Hälfte des Lebens.
Gerk: Herr Ott, möchten Sie da noch etwas hinzufügen?
Ott: Ich hab mehrere sogenannten Lieblingsgedichte: die Ode "Heidelberg", den "Lebenslauf", aber ich zitiere vielleicht nur den allerletzten Vers aus der "Abendphantasie", der eigentlich ganz untypisch für Hölderlin ist, weil er fast schon etwas von einem kleinen Witz besitzt, nämlich: "Friedlich und heiter ist dann das Alter."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.