Zwei rätselhafte Machtmenschen
Masha Gessen zeigt in ihrem Buch, was Wladimir Putin so mächtig hat werden lassen. Um das unbändige Bestreben, Besitz anzuhäufen, geht es auch in dem Werk von Viktor Timtschenko, der Michail Chodorkowskij als reichsten Mann Russlands porträtiert.
Es sind zwei Bücher über zwei Feinde: Putin und Chodorkowski. Und beide Autoren mögen den Menschen nicht, den sie da porträtieren; aus gutem Grund.
Moskau, eine zehnspurige Straße ins Zentrum. Hohe Häuser links und rechts. Eine der am meisten befahrenen Straßen Moskaus. Doch kein Auto fährt. Selbst die Busse halten am Straßenrand. Ein Polizeiauto kommt, dann tritt erneut Ruhe ein.
Doch nicht lang. Rot und blau blinken die Polizeiautos. Schwarze Limousinen, getönte Scheiben. Manchmal sind es zehn, manchmal auch mehr Autos. Ständig wechseln sie die Fahrspur. Noch mehr Polizeiwagen. In einem der Autos sitzt Wladimir Putin.
Kaum ist Putin vorbei, quellen aus den Nebenstraßen hunderte Autos, quälen sich durch den Stau. Putins Weg ins Zentrum Moskaus ist einer der am besten bewachte der Welt. Und ausgerechnet hier sollte eine Bombe explodieren. Die angeblichen Attentäter präsentierte das staatlich kontrollierte Fernsehen pünktlich wenige Tage vor der Präsidentenwahl. Ein Irrtum, wie sich hinterher heraus stellte.
Die Mächtigen in Russland schrecken vor nichts zurück, um die Macht zu behalten, schreibt Masha Gessen in ihrem Buch über Wladimir Putin:
"Die simple und offenkundige Wahrheit ist, dass Putins Russland ein Land ist, in dem politische Gegner und unbequeme Kritiker häufig ermordet werden. Zumindest manchmal kommt der Befehl zum Mord direkt aus dem Büro des Präsidenten." (S. 282)
Detailliert den Spuren der Mordbefehle zu folgen, ist die Stärke dieses guten Buches: vom Tod des ehemaligen St. Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak, über die Attentate auf die Journalisten Anna Politkowskaja und Juri Schtschekotschichin, bis zum Giftanschlag auf den ehemaligen KGB-Agenten Alexander Litwinenko in London.
Oder die schrecklichen Ereignisse, die Putin halfen, seine Macht zu verfestigen, wie die Geiselnahme im Musiktheater Nord-Ost, die Geiselnahme in der Schule von Beslan, die Anschläge auf die Wohnhäuser in Moskau oder in der Metro.
Oft war die russisch-amerikanische Journalistin selbst am Ort, das gibt ihren Schilderungen Authentizität und macht sie glaubwürdig. Und sie zeigt, wie ein brutaler Antiterrorkampf der Sicherheitsbehörden Opfer gefährdet, die es zu schützen galt – so damals in der Schule von Beslan.
"Die Terroristen gerieten in Panik und versuchten, das Leben der Geiseln zu retten. Sie trieben alle, die sich noch selbst bewegen konnten, in der Schulcafeteria zusammen, die vor dem unmittelbaren Beschuss abgeschirmt war. Sie drängten jene, die in der Sporthalle blieben, sich an die Fenster zu stellen und den russischen Soldaten zu zeigen, dass der Raum voller Geiseln war und dass sie auf Frauen und Kinder feuerten. Die Russen indes setzten weiterhin Sturmgewehre und Flammenwerfer ein." (S.271)
Wladimir Putin ist ein Gewächs dieses Sicherheitsapparates, des allgegenwärtigen russischen Geheimdienstes. Im KGB und mit seiner Hilfe machte er Karriere, wurde in der Umgebung von Boris Jelzin platziert, schließlich dessen Nachfolger als Präsident.
Recherchen in Russland sind immer ein Problem. Auch Masha Gessen leidet darunter und thematisiert, dass sie nie weiß, welchen Mythen sie aufsitzt, anstatt sie zu entlarven. Ihre Abrechnung mit dem alten und neuen Präsidenten aber kommt zur rechten Zeit.
Wladimir Putin wird im Mai in das Amt zurückkehren, das er nur für eine Periode verlassen hat, weil die Verfassung das so vorschrieb. Die Aussicht auf sechs oder gar zwölf weitere Jahre unter Vladimir Putin brachte in diesem Winter bis zu 100.000 Menschen in Moskau auf die Straße. Bei klirrendem Frost.
"Putin ist ein Dieb", skandieren sie und fordern seine Verhaftung. Immer mit dabei Masha Gessen als Chronistin wie als Oppositionelle.
" ... eines ist aus heutiger Sicht klar: Sobald der Prozess begonnen hatte, war das System dem Untergang geweiht. Je mehr heiße Luft es in die Blase, in der es existierte, pumpte, desto anfälliger wurde es auch für den wachsenden Druck von außen. Genau das Gleiche geschieht jetzt. Es kann Monate oder Jahre dauern, aber die Putin-Blase wird platzen." (S.351)
Euphorisch war sie damals während der Demonstrationen. Und ihre Vorhersage am Ende des Buches ist noch davon beeinflusst, wirkt aber ran gestrickt. Dem Buch fehlt die Schlussfolgerung. Aber vielleicht ist sie gar nicht nötig, vielleicht reicht es, Putin selbst zu zuhören, wie er nach seiner Wiederwahl vor jubelnden Anhängern gesprochen hat.
Wladimir Putin: "Wir haben bewiesen, dass unsere Menschen unterscheiden können zwischen dem Willen zur Erneuerung und politischen Provokationen, die nur eine Aufgabe haben: Den russischen Staat zu zerstören und die Macht zu usurpieren. Wir rufen alle auf, sich um die Interessen unseres Volkes und unseres Vaterlandes zu vereinen. Ich habe euch versprochen, dass wir Siegen werden. Wir haben gesiegt. Ruhm Russland."
Wer ist Wladimir Putin? Und was hat ihn so mächtig werden lassen? Masha Gessen zieht scharfsinnige Schlüsse, die Lektüre schärft die Sinne. Sie enthüllt den"Mann ohne Gesicht" und hervortritt ein gewalttätiger Dieb.
"Ist das Chodorkowski zugestoßen? Ließ Putin ihn deswegen verhaften, weil er sein Unternehmen in Besitz nehmen wollte, nicht wegen einer politischen oder persönlichen Rivalität? Nicht nur. Putin steckte Chodorkowski aus dem gleichen Grund hinter Gitter, aus dem er Wahlen absagte oder Litwinenko umbringen ließ: In seinem anhaltenden Bestreben, das ganze Land in ein gigantisches Modell des KGB umzuwandeln, ist kein Platz für Dissidenten oder gar für unabhängige Akteure. Sie sind nämlich nicht zuletzt deshalb lästig, weil sie sich weigern, die Spielregeln der Mafia zu akzeptieren." (S. 325)
Um das unbändige Bestreben, Besitz anzuhäufen, geht es auch im Buch von Viktor Timtschenko. Er zeichnet die "Legenden, Mythen und andere Wahrheiten" über Michail Chodorkowskij nach, der es zum reichsten Mann Russlands brachte.
"Mich wunderte, dass alle Leute auf der Straße bestens über Chodorkowskij Bescheid wissen, und zwar Folgendes: Hier handelt es sich um eine juristische Farce, einen Schauprozess. Konkreter: Ein nicht ganz unbescholtener Geschäftsmann, der in den Jahren des wilden Kapitalismus zu Reichtum gekommen war, stellte sich dem mächtigen Mann Russlands Wladimir Putin in die Quere und muss dafür jetzt büßen." (S.10)
Und gegen diese öffentliche Meinung, gegen Publikum und Medien, tritt der Ökonom und Journalist Timtschenko an. Ihm geht es offensichtlich vor allem darum, sich mal richtig auszukotzen.
"Es gibt allein im zweiten Prozess gegen Michail Chodorkowskij und seinen Kompagnon Platon Lebedew 188 Ordner mit Unterlagen. Doch welcher enthält Tatsachen oder Gewissheiten, wo verbergen sich Irreführungen, Ausreden, Lügen? Alles ist vermischt. Wahrheiten, Halbwahrheiten, Unwahrheiten. Suppe. Soljanka. Alles von gestern in einen Topf werfen, kräftig umrühren, fertig. Pfeffer und Salz geben Journalisten dazu." (S.19)
Sicher ist Michail Chodorkowski genauso rätselhaft wie Wladimir Putin. Der Diplomchemiker und Volkswirt stieg noch in der Sowjetunion über die Jugendorganisation Komsomol zum Generaldirektor einer genossenschaftlichen Bank auf, später wurde er Berater und Finanziers des damaligen Präsidenten Boris Jelzin.
Mitte der 90er-Jahre ersteigerte sein Institut annähernd die Hälfte der Aktien des Mineralölkonzerns Jukos - und zwar weit unter Marktwert. Das war nicht sauber, weil das Kreditinstitut selbst die Auktion durchführte. Der Deal jedoch blieb in den chaotischen 90er-Jahren in Russland folgenlos.
Man kann das gut und kurz erklären. Viktor Timtschenko macht das nicht.
"Es sind etwa 50 Gewaltdelikte, die böse Zungen dem Chodorkowskij-Konglomerat zuschreiben. Nur ein Bruchteil davon kam im Prozess gegen Pitschugin und Newslin zur Sprache und wurde höchstrichterlich bestätigt. Der Auftraggeber Pitschugins für all diese Verbrechen war Leonid Newslin, die rechte Hand Chodorkowskijs." (S. 28-29)
Man würde gern mehr erfahren. Denn die Geschichte um die angeblichen Mordaufträge wird oft vernachlässigt. Ob Michail Chodorkowskij selbst beteiligt war, ist nicht geklärt.
In Russland gibt es keine unabhängige Justiz. Das Verfahren gegen Chodorkowski war nicht fair. 200.000 Geschäftsleute sitzen derzeit zu Unrecht in Gefängnissen oder Lagern, schätzt das Sacharow-Zentrum. Chodorkowski sei nur der bekannteste, sagt Lena Kaluschskaja.
"Unser Gerichtssystem krankt insgesamt daran, dass keine rechtsstaatlichen Urteile gefällt werden. Das ist auf allen Ebenen so. Wir kennen nur nicht alle Fälle. Es gibt Präzedenzfälle, die wir bis ins einzelne studiert haben, weil alle Unterlagen im Internet waren. Daher wissen wir, wie genau es mit Chodorkowskij lief, wie mit den Wissenschaftlern, die als angebliche Spione verurteilt wurden. Das Ganze System ist so."
Das kann auch Viktor Timtschenko nicht übersehen. Er greift aber lieber die Kritiker der russischen Justiz an.
"Als einzige Möglichkeit bleibt, die verloren gegangenen Prozesse nachträglich zu delegitimieren, ihnen Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit abzusprechen: Die russischen Gerichte sind hörig. Der russische Staat ist korrupt. Die Untersuchungsrichter sind Schweine. Der Staatsanwalt ist ein Trottel. Der Ministerpräsident mischt sich ein. Wie kann man dort überhaupt ein gerechtes Urteil erwarten?" (S.30)
Doch selbst ein Oligarch mit Leichen im Keller hat Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren.
Timtschenko schreibt vieles, was man anderswo nicht liest. So weist er daraufhin, dass Chodorkowski von einer exzellenten PR-Maschine unterstützt wird. International vernetzt, spielt sie geschickt mit der Öffentlichkeit. Sie stilisiert Michail Chodorkowski zum einsamen Helden im Duell mit Wladimir Putin. Das hätte er ausführlicher darstellen können. Stattdessen polemisiert er, hadert mit einem Publikum, das seiner Ansicht nach nicht differenzieren kann.
Das Buch ist mit heißer Nadel gestrickt, sein Material schlecht aufbereitet und nur schwer lesbar. Schade, denn Viktor Timtschenko hat sein Thema durchdrungen. Ihm hätte ein aufmerksamer Lektor gut getan.
Masha Gessen: Der Mann ohne Gesicht
Wladimir Putin - Eine Enthüllung
Piper Verlag München, März 2012
und
Viktor Timtschenko: Chodorkowskij
Legenden, Mythen und andere Wahrheiten
Herbig-Verlag München, März 2012
Moskau, eine zehnspurige Straße ins Zentrum. Hohe Häuser links und rechts. Eine der am meisten befahrenen Straßen Moskaus. Doch kein Auto fährt. Selbst die Busse halten am Straßenrand. Ein Polizeiauto kommt, dann tritt erneut Ruhe ein.
Doch nicht lang. Rot und blau blinken die Polizeiautos. Schwarze Limousinen, getönte Scheiben. Manchmal sind es zehn, manchmal auch mehr Autos. Ständig wechseln sie die Fahrspur. Noch mehr Polizeiwagen. In einem der Autos sitzt Wladimir Putin.
Kaum ist Putin vorbei, quellen aus den Nebenstraßen hunderte Autos, quälen sich durch den Stau. Putins Weg ins Zentrum Moskaus ist einer der am besten bewachte der Welt. Und ausgerechnet hier sollte eine Bombe explodieren. Die angeblichen Attentäter präsentierte das staatlich kontrollierte Fernsehen pünktlich wenige Tage vor der Präsidentenwahl. Ein Irrtum, wie sich hinterher heraus stellte.
Die Mächtigen in Russland schrecken vor nichts zurück, um die Macht zu behalten, schreibt Masha Gessen in ihrem Buch über Wladimir Putin:
"Die simple und offenkundige Wahrheit ist, dass Putins Russland ein Land ist, in dem politische Gegner und unbequeme Kritiker häufig ermordet werden. Zumindest manchmal kommt der Befehl zum Mord direkt aus dem Büro des Präsidenten." (S. 282)
Detailliert den Spuren der Mordbefehle zu folgen, ist die Stärke dieses guten Buches: vom Tod des ehemaligen St. Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak, über die Attentate auf die Journalisten Anna Politkowskaja und Juri Schtschekotschichin, bis zum Giftanschlag auf den ehemaligen KGB-Agenten Alexander Litwinenko in London.
Oder die schrecklichen Ereignisse, die Putin halfen, seine Macht zu verfestigen, wie die Geiselnahme im Musiktheater Nord-Ost, die Geiselnahme in der Schule von Beslan, die Anschläge auf die Wohnhäuser in Moskau oder in der Metro.
Oft war die russisch-amerikanische Journalistin selbst am Ort, das gibt ihren Schilderungen Authentizität und macht sie glaubwürdig. Und sie zeigt, wie ein brutaler Antiterrorkampf der Sicherheitsbehörden Opfer gefährdet, die es zu schützen galt – so damals in der Schule von Beslan.
"Die Terroristen gerieten in Panik und versuchten, das Leben der Geiseln zu retten. Sie trieben alle, die sich noch selbst bewegen konnten, in der Schulcafeteria zusammen, die vor dem unmittelbaren Beschuss abgeschirmt war. Sie drängten jene, die in der Sporthalle blieben, sich an die Fenster zu stellen und den russischen Soldaten zu zeigen, dass der Raum voller Geiseln war und dass sie auf Frauen und Kinder feuerten. Die Russen indes setzten weiterhin Sturmgewehre und Flammenwerfer ein." (S.271)
Wladimir Putin ist ein Gewächs dieses Sicherheitsapparates, des allgegenwärtigen russischen Geheimdienstes. Im KGB und mit seiner Hilfe machte er Karriere, wurde in der Umgebung von Boris Jelzin platziert, schließlich dessen Nachfolger als Präsident.
Recherchen in Russland sind immer ein Problem. Auch Masha Gessen leidet darunter und thematisiert, dass sie nie weiß, welchen Mythen sie aufsitzt, anstatt sie zu entlarven. Ihre Abrechnung mit dem alten und neuen Präsidenten aber kommt zur rechten Zeit.
Wladimir Putin wird im Mai in das Amt zurückkehren, das er nur für eine Periode verlassen hat, weil die Verfassung das so vorschrieb. Die Aussicht auf sechs oder gar zwölf weitere Jahre unter Vladimir Putin brachte in diesem Winter bis zu 100.000 Menschen in Moskau auf die Straße. Bei klirrendem Frost.
"Putin ist ein Dieb", skandieren sie und fordern seine Verhaftung. Immer mit dabei Masha Gessen als Chronistin wie als Oppositionelle.
" ... eines ist aus heutiger Sicht klar: Sobald der Prozess begonnen hatte, war das System dem Untergang geweiht. Je mehr heiße Luft es in die Blase, in der es existierte, pumpte, desto anfälliger wurde es auch für den wachsenden Druck von außen. Genau das Gleiche geschieht jetzt. Es kann Monate oder Jahre dauern, aber die Putin-Blase wird platzen." (S.351)
Euphorisch war sie damals während der Demonstrationen. Und ihre Vorhersage am Ende des Buches ist noch davon beeinflusst, wirkt aber ran gestrickt. Dem Buch fehlt die Schlussfolgerung. Aber vielleicht ist sie gar nicht nötig, vielleicht reicht es, Putin selbst zu zuhören, wie er nach seiner Wiederwahl vor jubelnden Anhängern gesprochen hat.
Wladimir Putin: "Wir haben bewiesen, dass unsere Menschen unterscheiden können zwischen dem Willen zur Erneuerung und politischen Provokationen, die nur eine Aufgabe haben: Den russischen Staat zu zerstören und die Macht zu usurpieren. Wir rufen alle auf, sich um die Interessen unseres Volkes und unseres Vaterlandes zu vereinen. Ich habe euch versprochen, dass wir Siegen werden. Wir haben gesiegt. Ruhm Russland."
Wer ist Wladimir Putin? Und was hat ihn so mächtig werden lassen? Masha Gessen zieht scharfsinnige Schlüsse, die Lektüre schärft die Sinne. Sie enthüllt den"Mann ohne Gesicht" und hervortritt ein gewalttätiger Dieb.
"Ist das Chodorkowski zugestoßen? Ließ Putin ihn deswegen verhaften, weil er sein Unternehmen in Besitz nehmen wollte, nicht wegen einer politischen oder persönlichen Rivalität? Nicht nur. Putin steckte Chodorkowski aus dem gleichen Grund hinter Gitter, aus dem er Wahlen absagte oder Litwinenko umbringen ließ: In seinem anhaltenden Bestreben, das ganze Land in ein gigantisches Modell des KGB umzuwandeln, ist kein Platz für Dissidenten oder gar für unabhängige Akteure. Sie sind nämlich nicht zuletzt deshalb lästig, weil sie sich weigern, die Spielregeln der Mafia zu akzeptieren." (S. 325)
Um das unbändige Bestreben, Besitz anzuhäufen, geht es auch im Buch von Viktor Timtschenko. Er zeichnet die "Legenden, Mythen und andere Wahrheiten" über Michail Chodorkowskij nach, der es zum reichsten Mann Russlands brachte.
"Mich wunderte, dass alle Leute auf der Straße bestens über Chodorkowskij Bescheid wissen, und zwar Folgendes: Hier handelt es sich um eine juristische Farce, einen Schauprozess. Konkreter: Ein nicht ganz unbescholtener Geschäftsmann, der in den Jahren des wilden Kapitalismus zu Reichtum gekommen war, stellte sich dem mächtigen Mann Russlands Wladimir Putin in die Quere und muss dafür jetzt büßen." (S.10)
Und gegen diese öffentliche Meinung, gegen Publikum und Medien, tritt der Ökonom und Journalist Timtschenko an. Ihm geht es offensichtlich vor allem darum, sich mal richtig auszukotzen.
"Es gibt allein im zweiten Prozess gegen Michail Chodorkowskij und seinen Kompagnon Platon Lebedew 188 Ordner mit Unterlagen. Doch welcher enthält Tatsachen oder Gewissheiten, wo verbergen sich Irreführungen, Ausreden, Lügen? Alles ist vermischt. Wahrheiten, Halbwahrheiten, Unwahrheiten. Suppe. Soljanka. Alles von gestern in einen Topf werfen, kräftig umrühren, fertig. Pfeffer und Salz geben Journalisten dazu." (S.19)
Sicher ist Michail Chodorkowski genauso rätselhaft wie Wladimir Putin. Der Diplomchemiker und Volkswirt stieg noch in der Sowjetunion über die Jugendorganisation Komsomol zum Generaldirektor einer genossenschaftlichen Bank auf, später wurde er Berater und Finanziers des damaligen Präsidenten Boris Jelzin.
Mitte der 90er-Jahre ersteigerte sein Institut annähernd die Hälfte der Aktien des Mineralölkonzerns Jukos - und zwar weit unter Marktwert. Das war nicht sauber, weil das Kreditinstitut selbst die Auktion durchführte. Der Deal jedoch blieb in den chaotischen 90er-Jahren in Russland folgenlos.
Man kann das gut und kurz erklären. Viktor Timtschenko macht das nicht.
"Es sind etwa 50 Gewaltdelikte, die böse Zungen dem Chodorkowskij-Konglomerat zuschreiben. Nur ein Bruchteil davon kam im Prozess gegen Pitschugin und Newslin zur Sprache und wurde höchstrichterlich bestätigt. Der Auftraggeber Pitschugins für all diese Verbrechen war Leonid Newslin, die rechte Hand Chodorkowskijs." (S. 28-29)
Man würde gern mehr erfahren. Denn die Geschichte um die angeblichen Mordaufträge wird oft vernachlässigt. Ob Michail Chodorkowskij selbst beteiligt war, ist nicht geklärt.
In Russland gibt es keine unabhängige Justiz. Das Verfahren gegen Chodorkowski war nicht fair. 200.000 Geschäftsleute sitzen derzeit zu Unrecht in Gefängnissen oder Lagern, schätzt das Sacharow-Zentrum. Chodorkowski sei nur der bekannteste, sagt Lena Kaluschskaja.
"Unser Gerichtssystem krankt insgesamt daran, dass keine rechtsstaatlichen Urteile gefällt werden. Das ist auf allen Ebenen so. Wir kennen nur nicht alle Fälle. Es gibt Präzedenzfälle, die wir bis ins einzelne studiert haben, weil alle Unterlagen im Internet waren. Daher wissen wir, wie genau es mit Chodorkowskij lief, wie mit den Wissenschaftlern, die als angebliche Spione verurteilt wurden. Das Ganze System ist so."
Das kann auch Viktor Timtschenko nicht übersehen. Er greift aber lieber die Kritiker der russischen Justiz an.
"Als einzige Möglichkeit bleibt, die verloren gegangenen Prozesse nachträglich zu delegitimieren, ihnen Rechtstaatlichkeit und Gerechtigkeit abzusprechen: Die russischen Gerichte sind hörig. Der russische Staat ist korrupt. Die Untersuchungsrichter sind Schweine. Der Staatsanwalt ist ein Trottel. Der Ministerpräsident mischt sich ein. Wie kann man dort überhaupt ein gerechtes Urteil erwarten?" (S.30)
Doch selbst ein Oligarch mit Leichen im Keller hat Anspruch auf ein rechtsstaatliches Verfahren.
Timtschenko schreibt vieles, was man anderswo nicht liest. So weist er daraufhin, dass Chodorkowski von einer exzellenten PR-Maschine unterstützt wird. International vernetzt, spielt sie geschickt mit der Öffentlichkeit. Sie stilisiert Michail Chodorkowski zum einsamen Helden im Duell mit Wladimir Putin. Das hätte er ausführlicher darstellen können. Stattdessen polemisiert er, hadert mit einem Publikum, das seiner Ansicht nach nicht differenzieren kann.
Das Buch ist mit heißer Nadel gestrickt, sein Material schlecht aufbereitet und nur schwer lesbar. Schade, denn Viktor Timtschenko hat sein Thema durchdrungen. Ihm hätte ein aufmerksamer Lektor gut getan.
Masha Gessen: Der Mann ohne Gesicht
Wladimir Putin - Eine Enthüllung
Piper Verlag München, März 2012
und
Viktor Timtschenko: Chodorkowskij
Legenden, Mythen und andere Wahrheiten
Herbig-Verlag München, März 2012