Zwei Sekunden für die Ewigkeit

Von Tom Noga |
Genau 35 Meter liegen zwischen dem Felsvorsprung und der vier Meter breiten, mit Wasser gefüllten Schlucht. Einmal täglich stürzt sich der Mexikaner Eligio Álvarez, auch genannt Cuadrito, in die Tiefe - für eine handvoll Dollar, die Touristen ihm für den riskanten Sprung zahlen. Klippenspringer wie er und seine Kollegen leben gefährlich - einmal wäre Cuadrito fast gestorben.
"Das ist etwas, das du nie vergisst. Wie die erste Freundin, die vergisst du auch nie. Den ersten Sprung hat man immer hundert Prozent vor Augen. Diese Freude, dass du endlich von ganz oben springst, und gleichzeitig die Angst angesichts der Höhe."

Eligio Álvarez lächelt: Er trägt braune Shorts, Badelatschen und ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift "Clavadistas Profesionales de La Quebrada de Acapulco" - professionelle Klippenspringer in Acapulco. Seine Freunde nennen ihn Cuadrito. Das passt zu seiner Figur: Er ist muskulös und fast so breit wie hoch. Und doch leitet sich der Spitzname von seinem Vater ab, den sie El Cuadro genannt haben.

"Meine Kumpel haben mich ermutigt: Spring, Cuadrito, das ist ein schönes Gefühl vor all den Leuten hier! Du bist so jung, das ist der Knüller, du wirst zum Star! Ich war vierzehn und alle sagten mir, dass ich es drauf habe. Ich bekam Gänsehaut, die Kälte zog durch den ganzen Körper, keine Ahnung, ob vor Angst oder aus Freude. Die anderthalb oder zwei Sekunden in der Luft kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Ich spannte meinen Körper an, tauchte ins Wasser ein. Und als ich wieder hochkam, war ich beschwingt, als hätte ich einen Gipfel erklommen."

Da oben, Cuadrito deutet auf ein Felsenplateau, von dort ist er gesprungen. Eine blaue Gebetsäule steht darauf, zu Ehren der Jungfrau von Guadelupe, einer Marienerscheinung aus dem 16. Jahrhundert, die in Mexiko als Nationalheilige verehrt wird. Der Felsen fällt senkrecht ab, 35 Meter tief in die Quebrada, eine enge Schlucht. Unten ist sie nur vier Meter breit.

Eine in die Klippen gehauene Treppe führt in weiten Bögen hinunter auf eine Aussichtsplattform, direkt gegenüber dem Felsen. Oben an der Treppe ein weißes Kassenhäuschen. Ein Schild informiert über die nächsten Shows der "Todesspringer" – so jedenfalls werden sie in der Reiseliteratur verklärt. Täglich mittags um halb eins sowie abends zwischen halb acht und halb elf jeweils zur halben Stunde stürzen sie sich hinab.

Sprünge nach Stundenplan - das sieht geschäftsmäßig aus. Aber Cuadrito ist nervös. Er trippelt von einem Bein aufs andere.

"Ich bin jetzt seit acht Monaten nicht mehr gesprungen. Beim letzten Mal bin ich mit der Brust aufgeschlagen und habe einen Herzstillstand erlitten, deshalb musste ich so lange pausieren. Das einzige, woran ich mich erinnere ist, wie ich absprang. Beim Aufprall aufs Wasser habe ich das Bewusstsein verloren. Danach lag ich acht Tage auf der Intensivstation, drei davon ohne Bewusstsein."

Am Kassenhäuschen der clavadistas ist es rummelig geworden. Fliegende Händler bieten T-Shirts, Sombreros, Badetücher an und allerlei Souvenirs. An Ständen gibt es Getränke und Eis und für den kleinen Hunger zwischendurch perros calientes – Hot Dogs. Reiseführer in weißen Hosen und knallbunten, so genannten Acapulco-Hemden karren im Minutentakt Touristen von den Kreuzfahrtschiffen heran, die unten im Hafen vor Anker liegen.

35 Pesos kostet der Eintritt pro Person, rund drei Euro. Brav reihen sich die Touristen - sie sind meist älteren Semesters - vor dem Kassenhäuschen auf. Zwei Mittdreißiger versuchen sich im Gedränge durchzumogeln. Ein Clavadista weist sie zurück. "Mein Bruder José", sagt Cuadrito, "genannt El Cuchillo", das Messer.

"Sieh mal, mein Vater hat die Saat ausgestreut, und jetzt sind da mein Bruder, seine Tochter und eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Neffen - die Enkel von El Cuadro, alle sind Klippenspringer. Die meisten von uns kommen aus dem Barrio de la Adovería, da oben, drei Straßenblöcke entfernt. Die alten Klippenspringer kamen alle vor dort. Sie hatten Kinder und Enkel. Diese Saat trägt heute Früchte."

70 Mitglieder zählt die Vereinigung der Klippenspringer. Der jüngste ist 16, der älteste über 60. Die Alten sind nicht mehr aktiv, sie schieben aber Dienst an der Kasse oder im Büro der Organisation oder verkaufen vor und nach den Shows Fotos an Touristen. "Länger als bis Ende 30, Anfang 40 springt kaum einer", sagt Cuadrito. Ausnahmen wie Ricardo, der gerade neben dem Kassenhäuschen Dehnübungen macht, bestätigen die Regel. Ricardo ist 44, trägt einen Clark-Gable-Bart und strahlt aus dunklen, fast schwarzen Augen.

Ricardo: "Ich habe immer gute Laune, auch wenn bei mir zu Hause alles drunter und drüber geht. Egal."

Dabei hat er Gründe genug, nicht so gut drauf zu sein. Seine Frau ist ausgezogen, sie hat Ricardos Leidenschaft fürs Springen nie geteilt. Und dann hat er einen Monat pausieren müssen: geplatztes Trommelfell, die Standardverletzung der Klippenspringer.

Heute ist er zum ersten Mal wieder dabei - und ähnlich nervös wie Cuadrito. Mit dem Glatzkopf Kevin und Nando, einem Schlacks mit geölten Haaren und narbigem Gesicht, bilden sie das Team für die ersten beiden Shows des Abends. Nando war schon heute Mittag dabei und bei zwei außerplanmäßigen Shows am Nachmittag. Damit kommen die Klippenspringer heute auf insgesamt sieben Veranstaltungen.

"Das ist wenig, manchmal geht es von morgens bis abends, je nachdem wie viele Kreuzfahrtschiffe kommen."

Die clavadistas ziehen sich um. Dann bahnen sich Cudarito, Kevin und Nando ihren Weg durch die rund 150 Zuschauer hinunter zur Aussichtsplattform. Strahler tauchen die Schlucht in gleißendes Licht. Links auf dem offenen Meer dümpeln zwei Yachten, rechts auf der Landseite thront das Hotel El Mirador, früher eine Nobelherberge mit einem der mondänsten Nachtclubs der Welt, dem La Perla. Teddy Stauffer, ein Schweizer Swing-Musiker und Playboy, hat es gegründet und jahrelang gemanagt. Das La Perla erstreckt sich über vier Terrassen, die meisten Tische an der Balustrade sind belegt. Wie die Logen in einem Opernhaus, die Tische schwach erleuchtet, die Gäste nur schemenhaft zu erkennen - so wirkt es aus der Schlucht.

Der Felsen, von dem sich die Klippenspringer stürzen, sieht von hier unten noch furchteinflößender aus: wie hoch doch 35 Meter sind. Und er ist nicht senkrecht, sondern hat tückische Vorsprünge - man muss sich kräftig abstoßen, will man sich nicht daran verletzen.

"Permiso!" - Cuadrito bittet ein paar Zuschauer zur Seite, klettert über die Brüstung der Aussichtsplattform und hechtet kopfüber ins Wasser - aus immerhin sieben, acht Metern Höhe.

Nando und Kevin folgen. Sie schwimmen durch die Bucht und erklimmen die Felswand bis zu einem Sockel, vielleicht zehn Meter unter der Gebetsäule. Dort oben steht plötzlich Ricardo - es gibt also noch einen anderen Weg hinauf auf den Felsen. Ein Raunen geht durchs Publikum. Auf ein Zeichen Ricardos wird im La Perla ein Band abgespielt, das im Getose der Wellen kaum zu verstehen ist.

Kevin hebt den Arm. Alle Blicke richten sich auf ihn. Er breitet die Arme aus, wippt kurz in den Zehen und springt ab, aus gut 25 Metern Höhe. El avión nennen sie diesen Sprung, das Flugzeug. Kurz bevor er ins Wasser eintaucht, ballt Kevin die Fäuste. Auch Cuadrito springt den el avión, Nando dagegen den Salto mortale, einen Sprung mit doppelter Drehung. Alle drei klettern sofort nach der spektakulären Leistung aus dem Wasser und hasten an den Zuschauern vorbei, hinauf Richtung Kassenhäuschen.

Nun richten sich alle Blicke auf Ricardo ganz oben. Noch einmal Dehnen und Strecken. Er küsst die Marienfigur, bekreuzigt sich und nimmt an der Felskante Aufstellung. Ein, zwei Minuten steht er bewegungslos über dem Abgrund. Totale Anspannung. Ricardo breitet die Arme aus und stößt sich ab. El avión. Für den Bruchteil einer Sekunde schwebt er waagerecht in der Luft – wie ein Raubvogel über der Quebarada. Dann schießt er im Steilflug hinab und taucht ins Wasser ein.

Die Zuschauer sind wohlig entsetzt. Ein gewisser Nervenkitzel bleibt, auch wenn jeder weiß, dass wahrscheinlich alles glatt läuft. Und so ist es: Ricardos Kopf taucht in den Wellen auf. Auch Ricardo hat es eilig, kaum dass er aus dem Wasser ist.

"Perfekt. Jetzt bin ich entspannt, es ist gut gegangen."

Er nimmt zwei, drei Stufen auf einmal. Zuschauer klatschen, als er an ihnen vorbei läuft. "Ihr seid tapfere Männer", lobt einer, ein anderer bittet um ein Foto. "Oben gerne", wimmelt Ricardo ihn ab. Am Kassenhäuschen steht Kevin mit einem Plastikbeutel in der Hand. Auch Ricardo greift sich einen.

"Ich hoffe, die Show hat Ihnen gefallen", ruft er, "wir würden uns über ein Trinkgeld freuen." Kevin setzt noch einen drauf: "Die Klippenspringer haben überlebt und bitten um Trinkgeld."

Die beiden stehen mitten auf der Treppe. Eine gute Position, niemand kommt ohne Blickkontakt an ihnen vorbei. Und kaum jemand verweigert sich der Aufforderung.

Hinter den clavadistas warten schon die fliegenden Händler. "T-Shirts, señora?" Eine Amerikanerin kauft gleich drei. Das hätte sie nicht tun sollen, denn nun ist sie von den anderen Händlern umringt. Eine abwehrende Geste, dann beschleunigt sie ihren Schritt und rettete sich in ein Taxi.

Nando und Cuadrito bitten derweil die Gäste aus dem La Perla um Trinkgeld. Auch im Nachtclub werden 35 Pesos Eintritt verlangt, auch dieses Geld geht an die Organisation der Klippenspringer. An der Kasse steht ein kräftiger Mann mit lockigen Haaren, einen Schreibblock in der Hand und einen Ticker, wie Stewardessen ihn zum Zählen der Passagiere vor dem Abflug verwenden. Ángel David, stellt Cuadrito vor.

David: "Ich überwache den Eingang des Hotels und passe auf, dass die Leute Eintritt zahlen, dass das Hotel tatsächlich vier Personen abrechnet, wenn vier rein gehen, und nicht zwei. Und dass sie uns für den Verzehr der Gäste korrekt bezahlen, davon bekommen wir nämlich fünfzehn Prozent. Darauf passe ich auf."

Pause zwischen zwei Shows. Cuadrito und Ángel David setzen sich auf eine Rattan-Couch in der Lobby. Die Polster sind zerschlissen, die Bar geschlossen. Unten im La Perla tritt eine Sängerin auf, zur Musik vom Band. Über der Rezeption zeigen vier Uhren die Zeit in Mexiko City, New York, Tokio und Paris an - alle gehen falsch.

Cuadrito: "Als es gebaut wurde, hatte dieses Hotel fünf Sterne, mittlerweile hat es einen verloren. Na ja, drei Sterne wären wohl angebrachter."

Cuadrito und Ángel David sind 36, beide sind schon als Kinder von den Felsen der Quebrada gesprungen. Nicht von ganz oben natürlich, aber schon aus zehn Metern und mehr. Beide stammen aus Klippenspringerfamilien, nur war es bei Ángel David der Stiefvater, der ihn als kleinen Jungen zum ersten Mal in die Schlucht mitgenommen hat.

Heute sind sie selbst Familienväter, beide haben zwei Kinder. Ob sie die Tradition fortsetzen werden? Cuadrito nickt, Ángel David dagegen schüttelt den Kopf. Seine Frau hat sich nie mit seiner Leidenschaft anfreunden können und ist strikt dagegen, dass sein Ältester auch Clavadista wird. "Zu gefährlich, sagt sie" - Ángel David lächelt verlegen.

David: "Ich habe Löcher in den Trommelfellen, auf dem rechten Ohr höre ich kaum noch etwas. Wenn ich zu Hause fernsehe, sagen alle, dass ich leiser machen soll. Für mich ist diese Lautstärke normal, für andere zu hoch. Ich habe Probleme mit den Augen, mit einem Arm, mit dem Rücken. Von allem etwas, nichts wirklich Schlimmes, aber es beeinträchtigt mich. Ich hatte schwere Brüche, Verletzungen am Hals, jede Menge. Aber das ist die Sache wert."

Cuadrito: "Jeder von uns geht ein hohes Risiko ein, fast alle haben Löcher im Trommelfell. Beim Sprung erreichen wir Geschwindigkeiten von 80, 90 Stundenkilometern, und wenn wir ins Wasser eintauchen ist das wie der Aufprall auf eine zehn Zentimeter dicke Eisschicht."

Cuadrito hat sich das Schlüsselbein gebrochen, die Schulter, beide Handgelenke und drei Finger, als er die Faust beim Eintritt ins Wasser einmal auch nur leicht geöffnet hatte. Von Schürfwunden, Prellungen oder Quetschungen nicht zu reden, auch nicht von den Beulen, wenn man nicht genug Spannung in den Körper bringt und es einem die Arme gegen den Kopf schlägt. El Cuchillo, sein Bruder, hat mal mit der Schläfe das Riff rasiert. Helfer haben ihn ohnmächtig aus dem Wasser gezogen, zur Erinnerung hat er eine Narbe. Cuadrito nimmt mit den Zeigefingern Maß: Gut fünfzehn Zentimeter ist sie lang. Oder Raúl García, der vor ein paar Jahren verstorbene Veteran. Der ist noch mit über 70 gesprungen, selbst als er schon unheilbar krank war. "Parkinson, vermutlich gibt es da einen Zusammenhang", mutmaßt Cuadrito.

Immer wieder kommt es in der Quebrada zu tödlichen Unfällen. Letztes Jahr hat es einen Mann aus Los Angeles erwischt, angetrunken hat er sich auf eine Wette eingelassen. Aber von den professionellen Klippenspringern aus Acapulco hat noch keiner seine Passion mit dem Leben bezahlt. "Wir kennen die Schlucht in und auswendig", sagt Cuadrito, "und wissen jederzeit, was wir tun."

"Wir versuchen, frei im Kopf zu werden, um die Angst zu beherrschen. Angst hast du immer, das hört nie auf - wir können nur versuchen, sie zu beherrschen. Einfach nicht daran denken, was passieren könnte, sondern hoffen, dass alles gut geht. Das Wasser dort unten ist nur viereinhalb Meter tief. Und der Trick ist, den Sprung mit den Wellen zu synchronisieren und sofort nach dem Eintritt ins Wasser eine Wende zu machen, um den Felsen unter Wasser auszuweichen und dann so schnell wie möglich aufzutauchen."

Einen, maximal zwei Sprünge absolviert Cuadrito pro Tag. Früher ist er bis zu sechs Mal gesprungen - wie Nando heute. Aber der ist ja auch zehn Jahre jünger. Längst ist aus dem reinen Spaß auch Arbeit geworden. Alle Mitglieder der Vereinigung beziehen ein monatliches Fixum. Funktionäre wie Cuadrito, der als secretario de actos für die Organisation der Shows und die Einteilung der Springer verantwortlich ist, erhalten ein zusätzliches Gehalt. Hinzu kommen die Trinkgelder: Sie werden unter den Springern jeder Show aufgeteilt.

"Das Geld reicht, um davon zu leben, aber nicht im Luxus wie andere Künstler. Das ist wie eine normale Arbeit."

Die zweite Show, diesmal mit Cuadrito als Hauptspringer. Er steht auf und schaut hinaus aufs Meer. Ein, zwei Minuten, um sich zu sammeln. Dann geht er durch die Außenanlagen des Hotels. Es besteht aus rund hundert Bungalows, die wie Waben in den Klippen kleben.

Hinter einer Bungalow-Reihe führt eine von Gummibäumen überwucherte Steintreppe in die Klippen. Von der Aussichtplattform unten in der Schlucht und dem Nachtclub ist sie nicht sichtbar.

Cuadrito öffnet ein verrostetes Tor und steigt über ein paar Felsbrocken hinunter zur Gebetsäule zu Ehren der Jungfrau von Guadelupe. Deren Rahmen ist gespickt mit Glühbirnen, sie leuchten in allen erdenklichen Farben. Die Kulisse ist gigantisch, vom La Perla über die Menschenmenge auf der Aussichtplattform bis hinüber zur Straße, die sich auf der anderen Seite der Bucht einen Hügel hinauf streckt. Dort parkt ein Bus hinter dem anderen. An der Leitplanke stehen Schaulustige, sie sehen sich das Spektakel von weitem und vor allem gratis an.

Ein Blick von der Absprungstelle hinunter in die Quebrada. Unten schlagen die Wellen wütend an die Felsen. Ein dunkler Abgrund - kaum vorstellbar, dass Menschen hier freiwillig hinab springen.

Der weltberühmte Klippensprung, erzählt eine Frauenstimme, geht zurück auf eine alte Tradition. Fischer, deren Netze sich im Riff der Quebrada verfangen hatten, sind hinunter gesprungen, um sie zu lösen. Daraus ist 1934 eine Mutprobe für junge Männer geworden. Der Schweizer Teddy Stauffer hat die clavadistas schließlich Anfang der 1950er Jahre als Attraktion fürs La Perla verpflichtet, seinen Nachtclub.

Während die Frauenstimme weiter erzählt, von legendären Klippenspringern wie Raúl García und der Álvarez-Familie, macht sich Cuadrito warm. Rumpfbeugen, Liegestütz, Hampelmänner. Zwischen den Übungen geht er immer wieder vor zur Kante und schaut hinunter. Sein Gesicht ist maskenhaft.

Diesmal ist Ricardo als erster dran. Vom Sockel aus "nur" 25 Metern. Nando und Kevin klettern die Wand hoch und klatschen Cuadrito ab. Dann steigen sie wieder ab und springen synchron, die holandesa, einen anderthalbfachen Rückwärtssalto.

Alle Augen richten sich nun auf Cuadrito. Er kniet vor der Marienfigur nieder, verharrt eine Minute im Gebet, bekreuzigt sich und küsst sie. Ein, zwei, drei, vier, fünf mal. Man merkt, wie schwer ihm dieser Moment fällt. Cuadrito geht zur Kante, strafft den Körper, breitet die Arme aus - und springt.

Eine halbe Stunde später. Ángel David sitzt wieder im Eingang des Hotels und zählt Gäste. Reiseführer karren Touristen heran, Händlern wuseln umher. Die bisherigen Shows des Abends? Er schaut auf seinen Schreibblock.

"Mal sehen, 90, 100 Leute insgesamt, pro Show also rund 50. Eine gute Nacht."

Cuadrito gesellt sich zu ihm, zufrieden mit seinem Sprung, glücklich, dass es wieder einmal gut gegangen ist. Er zählt seinen Anteil am Trinkgeld, 80 Dollar und 300 Pesos - umgerechnet etwas mehr als 70 Euro. Cuadrito runzelt die Stirn.

"Früher hatte das Hotel 400, 500, manchmal sogar 600 Gäste. Heute sind es 200, wenn’s hoch kommt 300. Seit Jahren verliert Acapulco Besucher, und unser Anteil an den Eintrittsgeldern geht Jahr für Jahr um 30 Prozent zurück. Uns fehlen direkte Flüge aus den USA, vor allem aber aus Europa, denn von dort kommt kaum noch jemand."

Die Zukunft? Cuadrito ist pessimistisch. Überall auf der Welt kriselt es, auch in Mexiko. Und vor allem in den USA. Die Dollar sitzen den Zuschauern nicht mehr so locker in der Tasche. Aber sich deshalb einen anderen Job suchen? Darüber hat Cuadrito noch nicht einmal den Bruchteil einer Sekunde nachgedacht.

"Mit der Zeit werden wir alle süchtig nach Adrenalin. Wir können nicht mehr ohne die Angst, die wir vor dem Sprung haben, leben."

David: "Klar sind wir so etwas wie Adrenalinjunkies. Aber nicht nur. Du spürst Angst, Lust, so ein Kribbeln in den Zehen und im Magen. Aber wenn du springst, ist das alles weg. Du stößt dich ab, bist in der Luft - und spürst absolut nichts. Ich weiß auch nicht, warum."

Cuadrito und Ángel David gehen auf die Terrasse neben dem Kassenhäuschen und sehen sich die dritte Show des Abends an, das Springen mit Signalfeuer. Helfer haben einen Stapel mit Zeitungspapier in den Klippen errichtet. Nun wird das Flutlicht ausgeschaltet und der Stapel angezündet. Und in der letzten Show des Abends um halb elf stürzt sich der Hauptspringer mit einer brennenden Fackel in jeder Hand in die stockdunkle Quebrada.

Früher hat Ángel David das auch gemacht, aber seine Frau hat ihm das Verspechen abgerungen, auf den Fackelsprung zu verzichten und nur an einer Show pro Woche teilzunehmen. Cuadrito dagegen ist diese Woche noch drei Mal dran. Ab nächster, spätestens übernächster Woche, wenn er wieder die alte Sicherheit hat, wird er jeden Tag dort oben auf dem Felsen stehen. Für nächsten Sonntag jedenfalls hat er sich für den Fackelsprung eingeteilt.