Zwei völlig verschiedene Existenzformen

Von Kirsten Serup-Bilfeldt |
Der 13. April 1986 war ein historischer Tag: Nie zuvor hatte das Oberhaupt der katholischen Kirche eine Synagoge betreten. Papst Johannes Paul II. war der erste, der öffentlich über diese Schwelle ging. An den Unterschieden beider Religionen hat sich dadurch nichts geändert.
"Hodu L’Adonaj Ki Tov, Ki Le olam hasdo yomar-na Yisroel..."

Mit den Worten des Psalmisten, der Gott dafür dankt, dass Seine Güte ewig währt, spricht das Oberhaupt der katholischen Christenheit in einer Synagoge ein hebräisches Gebet!

Es war schon eine kleine Sensation, die da weltweit Schlagzeilen machte. Denn wer Rom kennt, weiß, dass der Weg vom Vatikan bis zur Großen Synagoge nur ein paar hundert Meter weit ist. Und dennoch, so sagte am 13. April 1986 der römische Oberrabbiner Elio Toaff lächelnd beim Empfang seines hohen Gastes, habe Papst Johannes Paul II. eine Wegstrecke von mehr als zwei Jahrtausenden überbrückt.

Geholfen habe ihm dabei auch die Vorgeschichte dieser Geschichte, erzählt Professor Hans Hermann Henrix, Consultor der Vatikanischen Kommis-sion für die Beziehungen zum Judentum. Und diese Vorgeschichte habe mit dem sehr volksnahen Papst Johannes XXIII. zu tun:

"Es gehört zur Vorgeschichte, dass Johannes XXIII. auf einem Weg am Tempel vorbeikam und er befahl seinem Chauffeur: halt an. Und er ist auf die Gemeindemitglieder, die gerade aus der Synagoge kamen, vom Shabbat-Morgengottesdienst zugegangen und hat gesagt: Ich bin Giuseppe, Euer Bruder. Er bezog sich damit auf die alttestamentliche Geschichte von Joseph. Sein Geburtsvorname war Giuseppe..."

Wenig später begann mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und der Erklärung "Nostra Aetate" - also der Schrift über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen - etwas völlig Neues: der Versuch einer Verständigung mit dem jüdischen Volk, die Verurteilung des Anti-Judaismus der Kirche und die vorsichtige Revision theologischer Positionen, die in den vergangenen Jahrhunderten Nährboden zahlreicher Formen von Antisemitismus waren.
Johannes XXIII. hatte den Boden vorbereitet, den Johannes Paul II. beackern konnte:

"Niemandem entgeht, dass der anfängliche, grundsätzliche Unterschied in der Zustimmung der Katholiken zur Person und zur Lehre Jesu von Nazareth besteht, der ein Sohn eures Volkes ist, aus dem auch die Jungfrau Maria, die Apostel, Fundament und Säulen der Kirche und die Mehrzahl der Gläubigen der ersten christlichen Gemeinden stammen..."

Dabei ist der katholischen Kirche etwas Sensationelles gelungen: sie hat die Judenfeindschaft von oben und mit durchaus autoritären Mitteln bekämpft. Und hat - so paradox das klingen mag - mit antiaufklärerischen Maßnahmen ein Stück Aufklärung erzwungen. Hans Hermann Henrix:

"In der Regel ist die Theologie fortschrittlicher als das Lehramt. Hier haben wir im Blick auf die katholisch-jüdische Beziehung erlebt: der Papst ist der Vorläufer! Der Fortgeschrittene!"

Ganz ähnlich und mit Respekt für das Erreichte sieht das auch aus jüdischer Position Dr. Edna Brocke. Sie ist Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft "Christen und Juden" beim Zentralkomitee der Deutschen Katholiken, Mitherausgeberin der theologischen Zeitschrift "Kirche und Israel" und seit Jahren im christlich-jüdischen Dialog engagiert:

"Der Versuch eines theologischen Gesprächs von Christen mit Juden war zunächst mal ein Durchbruch: dass von christlicher Seite her die Anerkennung offenkundig wurde, dass man das jüdische Volk und die Religionsgemeinschaft Judentum beginnt, auf Augenhöhe zu achten. Dieser Beginn unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs und natürlich auch im Blick auf den Besuch des Papstes in der Römer Synagoge ist sicherlich ein Schritt nach vorne. Und auch die Tatsache, dass in gewissen theologischen Kreisen sehr viel sich geändert hat, ist unbestritten."

Die neuen Positionen im Verhältnis zu den Juden lassen sich in drei Kernthesen zusammenfassen: die Anerkennung der Angewiesenheit des Christentums auf das Judentum als seine Wurzel, die Absage an die These, Juden seien Gottesmörder und die Anerkennung des ungekündigten Bundes, den Gott am Sinai mit Israel geschlossen hat. Es war eine Abkehr von all dem, was die Kirche über viele Jahrhunderte gepredigt und gelehrt hatte.

Und doch wäre es blauäugig, Irritationen, Missklänge und Rückfälle, die im katholisch-jüdischen Verhältnis immer wieder aufscheinen, zu ignorieren. Wie denn auch, ist doch das Sündenregister der Kirche gegenüber den Juden lang. Rund 1500 Jahre christlicher Anti-Judaismus bereiteten das Terrain, auf dem die Nationalsozialisten ihren Massenmord begehen konnten. Mitschuldig am jüdischen Schicksal wurde die Kirche nicht nur durch ihr Schweigen, sondern auch durch ihr jahrhundertelanges judenfeindliches Reden.

Konflikte gab es auch in jüngster Zeit. Etwa den um die Karmelschwestern, die ausgerechnet in Auschwitz ein Kloster errichten wollten. Oder den um die Selig- und Heiligsprechung der geborenen Jüdin Edith Stein. Und den um eine mögliche Heiligsprechung des wegen seiner Rolle im Dritten Reich umstrittenen Papstes Pius XII. Enttäuschung auf jüdischer Seite machte sich auch nach der Wahl Benedikts XVI. breit; vielleicht gerade weil die Vorbehalte gegen diesen Papst zunächst geringer waren als die gegen seinen polnischen Vorgänger, der aus einem Land mit erheblicher antisemitischer Tradition kam. Hans Hermann Henrix:

"Interessanterweise hat es nach der Wahl im April 2005 anfangs bei den jüdischen Sachwaltern des Dialogs keine so große Skepsis gegeben wie nach der Wahl von Johannes Paul II. Das rührte aus ihrer Kenntnis der Persönlichkeit von Benedikt her. Sie hatten wahrgenommen, dass Benedikt als Kardinal Ratzinger maßgeblich am Zustandekommen des Grundlagenvertrages zwischen dem Apostolischen Stuhl und dem Staat Israel mitgewirkt hat. Aber dann fiel eben halt der schwere Raureif mit der Karfreitagsfürbitte für die Juden 2008 und der Aufhebung der Exkommunikation der Pius-Bruderschaft."

Und doch bleiben für Christen Identitätsprobleme. Eines liegt darin, dass ihre Bibel eine "zweigeteilte" Schrift darstellt, deren erster Teil die Heilige Schrift einer anderen Religion ist. So können Juden ihr Judentum leben, ohne sich theologisch mit dem Christentum auseinanderzusetzen. Christen jedoch müssen sich zwangsläufig mit dem Judentum als Wurzel ihres Glaubens befassen. Überdies ist das Judentum eine "Seinsgemeinschaft", beinhaltet also immer die Zugehörigkeit zu Volk und Religion, während das Christentum eine Gemeinschaft der Glaubenden ist. In diesen "Asymmetrien" sieht Edna Brocke ein theologisches Grundproblem:

"Die Interdependenz zwischen dem jüdischen Volk und dem Gott Israels ist nicht auflösbar durch einen Glauben an Jesus. Das ist eine Asymmetrie. Sie ist und bleibt konstitutiv und die Frage ist natürlich theologisch, wie kann man trotz der Erkenntnis, dass sie konstitutiv ist, dennoch ein Gespräch miteinander suchen, wo man auf Augenhöhe miteinander konferiert. Die Fortexistenz des jüdischen Volkes ist ja deswegen die bleibende Herausforderung für das Christentum, weil das Judentum ist und bleibt eine Seinsgemeinschaft, das Christentum ist eine Glaubensgemeinschaft. Und das sind zwei völlig verschiedene Identitätsformen oder Existenzformen, die man nicht zusammenführen kann."

Das katholisch-jüdische Verhältnis bleibt wohl auch ein Vierteljahrhundert nach dem Besuch des Papstes in der römischen Synagoge eine Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe, zwischen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, zwischen Teilhabe und Aneignung, zwischen Brücken und Grenzen.
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