Sprecherin und Sprecher: Eva Meckbach und Mirko Böttcher
Ton: Hermann Leppich
Regie: Beatrix Ackers
Redaktion: Jana Wuttke
Zweifel an der Dunklen Materie
Macht Dunkle Materie den Großteil der Materie in dem hier dargestellten Galaxienhaufen aus? Das ist bisher zumindest noch die gängige Theorie. Doch es regen sich Zweifel. © picture alliance / Zoonar / Irina Dmitrienko / NASA
Müssen wir das Universum neu denken?
29:29 Minuten
Seit etwa 40 Jahren glauben die meisten Astronomen, dass der Kosmos zum Großteil aus Dunkler Materie besteht. Doch trotz aufwendiger Suche mit Teilchenbeschleunigern ließ sich die nicht finden. Vielleicht jagt die Forschung einem Phantom nach.
Der Weltraum. Unendliche Weiten. In einer klaren Nacht fernab künstlicher Lichtquellen funkeln rund 6000 Sterne am Firmament – dazu einige Planeten und der Mond. In Fernrohren zeigen sich Milliarden von Sternen, dazu zahllose Gasnebel und Galaxien.
Doch ahnen die Astronominnen und Astronomen bereits in den 1930er-Jahren, dass das beobachtbare Universum keineswegs alles ist. Einer von ihnen ist der Schweizer Astronom Fritz Zwicky, der damals mit einem Teleskop in Kalifornien die Bewegung weit entfernter Galaxien im Sternbild Coma Berenices untersuchte.
„Um die Geschwindigkeiten der Galaxien im Coma-Haufen zu erklären, müsste die mittlere Dichte vierhundertmal größer sein als auf Grund der Beobachtung leuchtender Materie abgeleitet“, sagte Zwicky. „Überraschenderweise ist dort dunkle Materie wohl in sehr viel größerer Dichte vorhanden als leuchtende Materie.“ Zwicky äußerte erstmals die Vermutung, dass es im Weltall sehr viel mehr gibt, als die Fachleute mit ihren Teleskopen zu sehen bekommen. Seine Arbeit wird erst belächelt, dann vergessen.
Mehr als 30 Jahre später erkennt die Astronomin Vera Rubin, dass sich die Bewegung von Galaxien wie der Milchstraße allein mit der Anziehungskraft der leuchtenden Materie nicht erklären lässt. Die Idee der Dunklen Materie gewinnt an Unterstützung. Inzwischen gehört dieses geheimnisvolle Substrat für die meisten zum Standard-Inventar des Universums.
„Dunkle Materie ist eine ganz neue Form der Materie. Der größte Teil des materiellen Universums besteht aus etwas anderem als den uns vertrauten Atomen“, erklärt Michael Turner, Grandseigneur der Kosmologie von der Universität von Chicago. Nicht erloschene Sterne, schwarze Planeten oder kalte Staubwolken vermuten die Theoretiker hinter den unsichtbaren Massen, sondern bislang unbekannte Partikel. Diese zu finden, obliegt jetzt den Elementarteilchenphysikern, die fieberhaft nach diesen dunklen Teilchen suchen.
Rechnung mit der großen Unbekannten
Die Astronomen dagegen können mit der Dunklen Materie arbeiten, ohne genau zu wissen, woraus sie besteht. Einer der weltweit führenden Experten auf diesem Gebiet ist Volker Springel, Direktor am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching. Er und sein Team stellen nach, wie aus dem Einheitsbrei von Materie und Strahlung kurz nach dem Urknall das heute hoch strukturierte Universum geworden ist – mit Galaxien, Sternen und großen Leerräumen.
In seine virtuellen Würfel von einigen hundert Millionen Lichtjahren Kantenlänge packt er die Materiemischung, die die Welt bedeutet. „Das sind so etwa fünf Sechstel Dunkle Materie, ein Sechstel normale Materie. Dann haben wir noch die Dunkle Energie, eine besonders mysteriöse Komponente, die zu einer beschleunigten Expansion des Universums führt. Das ist die Mischung, die man braucht, die großräumige Struktur im Universum zu erklären.“
Die dunkle Supermacht im Universum
Die treibende Kraft zur Bildung der Strukturen im Kosmos ist die Schwerkraft – und da dominiert die Dunkle Materie. Sie lässt sich – jedenfalls bisher – weder in den Beschleunigern nachweisen noch mit Teleskopen im All direkt beobachten. Sie leuchtet nicht, sie strahlt nicht und sie absorbiert kein Licht – doch sie hat eine fundamentale Eigenschaft: Sie zieht an. Die Dunkle Materie verrät sich indirekt, durch ihre Schwerkraft, die auf die leuchtenden Sterne und Galaxien wirkt.
Sie ist die dunkle Supermacht im Universum, prägt den Gang der kosmischen Geschichte. Springel zeigt eine Computersimulation auf einem Superrechner: die Entstehung der Milchstraßengalaxie. "Das hat kurz nach dem Urknall angefangen. Oben rechts sehen Sie die Zeitskala. Der Film läuft über 13,5 Milliarden Jahre, aber für uns dauert es nur zwei Minuten, bis die Milchstraße dann entstanden ist.“
Auf dem Bildschirm vor Volker Springel vollzieht sich rasant die kosmische Entwicklung. Aus der himmlischen Ursuppe kurz nach dem Urknall formt sich wie von Geisterhand ein feines Netz voll roter, gelber, grüner und blauer Linien und Knoten. Die Farben geben an, wie viel Energie in ihnen steckt.
„Wir sehen die sehr feine filigrane Struktur der Dunklen Materie am Anfang“, beschreibt Springel. Dann entstehen zunächst sehr kleine Klümpchen aus Dunkler Materie, die weitere Masse aus ihrer Umgebung anziehen. „Die ziehen sich gegenseitig an, verschmelzen miteinander und bilden in der Mitte diese Protogalaxie, der Kern einer Galaxie, die später die Milchstraße sein wird.“ Ein sehr dynamischer Prozess sei das. „Es entsteht jetzt diese kollektive Wolke aus Dunkler Materie, in deren Zentrum die Sterne entstehen.“
Die Situation ist vertrackt: In den Modellen spielt die Dunkle Materie eine überragende Rolle. Sie erklärt gut das heutige Aussehen des Kosmos – und die sichtbaren Sterne, Nebel und Galaxien scheinen nur so etwas wie die Schaumkronen auf dem Meer der dunklen Materie zu sein. Doch niemand weiß, woraus diese ominöse Substanz besteht – und ob sie überhaupt existiert.
Sag mir, wo die Teilchen sind!
Die Elementarteilchenphysik hat viel erreicht: Ihr Standardmodell erklärt, woraus ein Apfel besteht oder warum die Sonne scheint, wie radioaktive Kerne zerfallen oder Galaxien erstrahlen. Doch die Theorie bleibt unvollendet, bedauert Andreas Ringwald, Physiker am Forschungszentrum DESY in Hamburg. "Wir wissen ja, dass die Materie im Universum zu 85 Prozent aus etwas besteht, was man im Standardmodell nicht beschreiben kann. Das Standardmodell kann die Wechselwirkung der bekannten Teilchen beschreiben, aber es gibt wohl unbekannte Teilchen, die wir zurzeit noch nicht fassen können."
Was für ein Wechselbad der Gefühle: Vor zehn Jahren bejubelten die Physiker die Entdeckung des Higgs-Teilchens, dessen Existenz das Standardmodell vorhergesagt hatte. Die nobelpreisgekrönte Entdeckung scheint die populäre Theorie triumphal zu bestätigen.
Doch längst macht sich Ernüchterung breit. Das liegt vor allem an dem, was der Large Hadron Collider (LHC) nicht entdeckt hat. Der Teilchenbeschleuniger in Genf, der größte seiner Art, blickt seit Jahren wie ein Supermikroskop ins Innere der Materie, findet aber keine weiteren Teilchen.
"Es gab gute Vorschläge, wie man das Standardmodell erweitern könnte, um manche Fragen, mehr so theoretische Fragen zu beantworten“, sagt Andreas Ringwald. „Da gab es ganz viele Kandidaten, nämlich die supersymmetrischen Partner von den bekannten Teilchen. Die leichtesten supersymmetrischen Partner könnten die Dunkle Materie sein.“ Allerdings gebe es dafür keine Anzeichen aus dem Beschleuniger.
Die Idee der Supersymmetrie (Susy) ist verlockend: Nach dieser Theorie sollte jedes der bisher bekannten Teilchen noch einen Partner in einer Art Spiegelwelt haben. Susy war lange Zeit ein Liebling der Physik-Gemeinde – die Theorie soll nicht nur das Geheimnis der Dunklen Materie lüften, sondern auch sehr elegant den Weg zur Vereinheitlichung der vier Naturkräfte ebnen.
Die Schönheit der Theorien
Doch ob Neutralino, Chargino oder WIMP, das schwach wechselwirkende massive Teilchen: Diese und viele weitere vorhergesagte Partikel scheint es nicht zu geben oder sie haben ganz andere Eigenschaften als erwartet – jedenfalls lassen sie sich mit heutigen Experimenten nicht entdecken.
Kein Wunder, meint Sabine Hossenfelder. Die Physikerin, die in ihrer Doktorarbeit über Schwarze Löcher gearbeitet hat, ist am Institute for Advanced Studies in Frankfurt am Main tätig – und geht mit ihrer Zunft hart ins Gericht. "Das Problem ist, dass es in der Theorie-Entwicklung Zehntausende von falschen Vorhersagen gab“, sagt sie. Das Higgs-Teilchen, das gefunden wurde, ist eine Vorhersage aus den 60er-Jahren. Das hat auch gestimmt. Diese Vorhersage hatte mit diesen Schönheitskriterien gar nichts zu tun. Man hat erst danach angefangen, diese Schönheitskriterien zu benutzen und Vorhersagen zu machen, und es hat nicht funktioniert. Das funktioniert seit 40 Jahren nicht."
Schönheit in der Physik? Das mag etwas skurril klingen – und tatsächlich sind die Schönheitskriterien bei Teilchen und Theorien mehr als vage. Auch hier liegt die Schönheit im Auge oder Sinn des Betrachters – und ist durchaus Moden unterworfen.
Als „schön“ gilt eine Theorie, wenn sie nachvollziehbar ist und Vorhersagen macht, wenn sie Verbindungen herstellt, bekannte Phänomene auf eine gemeinsame Basis stellt und Beobachtungen erklärt. Doch diese Einfachheit und Schönheit von den Theorien sage erst einmal nichts darüber, ob sie die Natur adäquat beschreiben, so Hossenfelder. „Es ist natürlich schön, wenn eine Theorie einfach ist. Dann kann man damit leicht rechnen."
Jahrzehntelang galten Schönheit und Einfachheit bei vielen exzellenten Physikerinnen und Physikern als Leitlinien. Die Schönheit wurde fast zum Selbstzweck. Das Beharren auf bestimmten mathematischen Prinzipien mag aufgrund erster guter Erfahrungen bei der Entwicklung der Elementarteilchenphysik verständlich gewesen sein.
Doch es rächt sich, wenn sich die mathematischen Modelle zu weit von der Natur entfernen. Denn die Messungen decken die Mängel der Theorie gnadenlos auf, betont Sabine Hossenfelder. "Jetzt ist es meistens so, dass man bei der Entscheidung, was für ein Experiment man jetzt baut, berücksichtigt, was die Theoretiker denn denken, was jetzt getestet werden muss. Jetzt haben Sie das Problem, wenn Sie halt eine Theorie ausgearbeitet haben aufgrund sehr vager Kriterien, wie dass es halt einfach und natürlich ist, dann kriegen Sie nachher mit ihrem Experiment nur ein Nullresultat: Sie haben es nicht gefunden."
Keine neuen Entdeckungen
Genauso ergeht es nun den Forschern mit dem viele Milliarden Euro teuren Teilchenbeschleuniger des CERN. Der hat das Higgs-Teilchen aufgespürt. Doch danach lief und lief er, ohne wirklich Neues zu entdecken.
Zwar wurde bisher nur ein Teil der Daten analysiert, die der Beschleuniger bis zum Ende seiner geplanten Laufzeit liefern soll, doch die Hoffnung schwindet, dass sich die ersehnten Teilchen noch zeigen werden. Susy steht vor dem Aus. „Das war es. Dann ist das Universum halt nicht schön“, meint dazu Sabine Hossenfelder.
"Ja, das könnte sein“, sagt Michael Krämer. „Wäre aber traurig." Für den Physikprofessor an der RWTH Aachen steckt damit die Forschung keineswegs in einer Sackgasse fest – wohl aber ist eine kritische Bestandsaufnahme gefragt. "Man muss dann auch an einem gewissen Punkt sagen, das war zwar schön ästhetisch, einfach und wunderbar, aber wir haben keine supersymmetrischen Teilchen gefunden. Da muss man eben in andere Richtungen schauen, nach links und nach rechts."
Am Ende zählen in der Naturwissenschaft die Ergebnisse. Theorien müssen Vorhersagen machen, die sich mit Experimenten überprüfen lassen. Bringen sie lange Zeit keine neuen Erkenntnisse, so müssen die Forscher die Augen offenhalten und neue Wege einschlagen.
Auch Michael Krämer sieht seine Disziplin am Scheideweg. Bisher habe es in der Elementarteilchenphysik immer ein Ziel gegeben: „Wir haben nach dem Topquark gesucht, nach Neutrinos gesucht, wir haben nach dem Higgs oder etwas ähnlichem gesucht. Wir wussten immer so ungefähr, wo wir das finden können. Entsprechend haben wir die Maschinen konstruiert, entsprechend haben wir die Experimente ausgelegt.“ Nun aber komme die Elementarteilchenphysik in eine Phase, wo explorativ gearbeitet werden müssen, genau wie die Astronomen. „Wir gucken mal in die Natur und schauen, was passiert. Da muss man sich echt gut überlegen, welche Maschine wollen wir da bauen. Diesen Prozess durchgehen wir gerade."
Rütteln an den Säulenheiligen der Physik
Jagen die Fachleute womöglich einem Phantom nach? Gibt es die Teilchen der Dunklen Materie vielleicht gar nicht? Dass die Anziehungskraft der leuchtenden Sterne und Galaxien nicht ausreicht, um die Abläufe im Kosmos zu erklären, lässt zwei mögliche Erklärungen zu.
„Dunkle Materie: Ist das jetzt wirklich ein Teilchen, das wir noch nicht entdeckt haben? Oder ist es wirklich eine Veränderung der Allgemeinen Relativitätstheorie? Das ist im Moment noch offen“, sagt Bruno Leibundgut.
Er blickt mit den Teleskopen von Europas Südsternwarte in Chile in die Weiten des Kosmos und sieht dabei immer wieder, dass im heutigen Weltbild irgendetwas nicht stimmt. Entweder gibt es, wie von Fritz Zwicky und Vera Rubin postuliert, unbekannte Dunkle Materie – oder die Anziehungskraft, die Gravitation, funktioniert anders als die meisten heute glauben.
Der Gedanke, dass die Relativitätstheorie – eine Art Säulenheilige der Physik – nicht die ganze Wahrheit ist, wäre vor zehn oder 20 Jahren noch so gut wie unvorstellbar gewesen. Auch Michael Krämer blickt etwas ernüchtert auf sein Fach. „Dunkle Materie war bisher immer das Standard-Paradigma. Die Suche war bisher erfolglos, muss man klar sagen. Es ist jetzt nicht konklusiv, dass es das nicht gibt. Aber, wenn man in einer bestimmten Richtung sucht und nichts findet, dann sollte man auch mal anfangen, nach links und rechts zu schauen, um auch Alternativen im Blick zu haben.“
Natürlich ist die Existenz der Dunklen Materie nicht widerlegt. Vielleicht hatte die Fachwelt bisher einfach Pech und hat nicht die richtigen Experimente gebaut, um die ersehnten Teilchen zu finden. Aber stur auf einer Theorie zu bestehen, für die es keinen Beobachtungsbefund in der Teilchenphysik gibt, hilft auch nicht.
Stimmt etwas mit der Schwerkraft nicht?
So widmen sich nun mehr und mehr Forscherinnen und Forscher der zweiten Möglichkeit, um die Bewegung der Sterne und Galaxien im All zu verstehen. Vielleicht stimmt etwas mit der altbekannten Schwerkraft nicht.
Pionier auf diesem Gebiet ist der israelische Physiker Mordehai Milgrom vom Weizmann-Institut in Rehovot. Er formulierte seine kühne Idee schon Anfang der 80er-Jahre.
„Ich bin schon lange anderer Ansicht als der ‚Mainstream‘ der Wissenschaft. Ich glaube nicht, dass es in Galaxien viel Dunkle Materie gibt. Vielmehr nutzen wir die falsche Physik. Die Bewegung der Galaxien lässt sich ganz einfach erklären, wenn wir die Gravitation etwas verändern, wenn also die Anziehungskraft etwas anders funktioniert als von Newton beschrieben.“
Mordehai Milgrom, in gewisser Weise ein Seelenverwandter von Fritz Zwicky, hat als junger Forscher die Dynamik von Galaxien untersucht. Ihn störte, dass nach der weit akzeptierten Theorie alle Galaxien in sehr ähnliche Wolken aus Dunkler Materie eingebettet sein sollten – während die Galaxien selbst sehr unterschiedlich aussehen.
So kam er auf die Idee, dass sich die Bewegung der Galaxien vielleicht auch anders erklären lässt als mit der Anziehungskraft hypothetischer Dunkler Materie. Er entwickelte eine alternative Theorie mit dem Namen MOND. Diese Abkürzung steht für Modifizierte Newtonsche Dynamik. „Galaxien bewegen sich – verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit – sehr langsam“, so Mordehai Milgrom. „Da braucht man keine Relativitätstheorie. Man muss nur die Newtonsche Mechanik sehr präzise anwenden und etwas anpassen. Die Grundidee ist, dass sich die Anziehungskraft zwischen den Himmelskörpern etwas ändert, wenn sie sehr schwach ist. Inzwischen gibt es auch relativistische Erweiterungen der Theorie, die man bei anderen Phänomenen braucht. Der Name MOND greift also zu kurz, ist aber hängen geblieben.“
In der MOND-Theorie ändert sich die Stärke der Gravitation mit dem Abstand der Massen, während in der Relativitätstheorie die Raumkrümmung entscheidend ist. In unserem Alltag spielt das keine Rolle, wohl aber am Rande von Galaxien und in den Weiten des Kosmos. Außer der MOND-Theorie gibt es inzwischen eine ganze Reihe alternativer Gravitationstheorien, wie die Fachleute das nennen.
Stillstand in der Physik
Diese Ansätze erklären in der Tat einige Phänomene besser, als es Modelle mit Dunkler Materie können. So müsste nach dem Standardmodell unsere Milchstraße Tausende Begleitgalaxien haben – tatsächlich sind nur ein paar Dutzend bekannt. Dafür scheitern die neuen Theorien zum Beispiel daran, das Verschmelzen von Neutronensternen zu beschreiben oder die Entwicklung des Universums vom Urknall bis heute. „Ich betone immer, dass wir noch fast ganz am Anfang stehen“, sagt daher auch Milgrom. Es gebe noch immer große Lücken in der Theorie. „Wir müssen sie erweitern, um den Kosmos als Ganzes zu beschreiben. Ich hoffe, dass jetzt Leute aus anderen Bereichen und mit anderen technischen Fähigkeiten bei uns mitmachen und neue Ideen einbringen.“
Im Gegensatz zu früher finanzieren nun auch Forschungsorganisationen Projekte zur Verbesserung der alternativen Theorien. Michael Krämer blickt mit Freude und Spannung auf die Entwicklung der nächsten Jahre. Denn der gegenwärtige relative Stillstand der Physik wird wohl nur mit einem Durchbruch zu beenden sein: Entweder lassen sich doch noch Teilchen der Dunklen Materie aufspüren – oder es zeigt sich, dass die Gravitation tatsächlich anders wirkt als gedacht. „Das wäre eine sehr, sehr spannende Form von neuer Physik“, sagt Krämer. „Wenn diese Theorien der modifizierten Gravitation weiter ausgearbeitet werden, plausibel auch kosmologische Dinge erklären, dann wären die als Alternative zur Dunklen Materie auch attraktiv. Das hat dann indirekten Einfluss auf das, was wir in der Teilchenphysik untersuchen.“
James Webb und die frühen Schwarzen Löcher
Vielleicht liegen aber auch beide Lager falsch – und die Lösung ist überraschend einfach. Womöglich werden weder neue Teilchen noch Theorien gebraucht. Die Dunkle Materie könnte in lange bekannten Objekten stecken, die allerdings durchaus exotisch sind: in Schwarzen Löchern.
Der Name führt in die Irre. Schwarze Löcher sind nicht etwa nichts. Ganz im Gegenteil: Es sind die Körper im Kosmos, in denen die Materie so dicht konzentriert ist wie nirgendwo sonst. Ihre Anziehungskraft an der Oberfläche ist so stark, dass nichts entkommen kann, nicht einmal Licht.
Er sei immer auf der Jagd nach Schwarzen Löchern, sagt Günther Hasinger: einer der bedeutendsten Astrophysiker unserer Zeit – nach Stationen in Garching, Potsdam und Hawaii ist er derzeit Wissenschaftsdirektor der Europäischen Weltraumorganisation ESA.
Ihn beschäftigen vor allem extrem massereiche Schwarze Löcher im Zentrum großer Galaxien. „Wir wissen ziemlich genau, dass es schon Galaxien gegeben hat und auch Quasare, also Schwarze Löcher, ungefähr 800 bis 900 Millionen Jahre nach dem Urknall, schon ziemlich früh im Universum.“ Wie diese so schnell hätten entstehen können, dafür gebe es noch keine Erklärung. „Ein faszinierender, aber auch sehr spekulativer Gedanke ist, ob vielleicht die Schwarzen Löcher schon am Anfang da waren, die sogenannten primordialen Schwarzen Löcher. Das könnte James Webb vielleicht etwas erleuchten.“
Wir wissen nur wenig über das Universum
Nach gängiger Theorie entstehen Schwarze Löcher, wenn massereiche Sterne als Supernova explodieren und der Rest der Materie zu einem extrem kompakten Objekt zusammenstürzt. Nach einer Theorie aus den 60er-Jahren aber könnten sich schon innerhalb der ersten Sekunde nach dem Urknall Unmengen an Schwarzen Löchern gebildet haben – ganz spontan, ohne den Umweg über Sterne zu gehen.
Bisher ist das nur eine theoretische Spielerei. Doch das James Webb-Teleskop blickt so weit hinaus ins All wie kein Instrument zuvor und soll die ersten Sterne und Galaxien zeigen, die nach dem Urknall aufgeleuchtet sind – und womöglich erfasst es auch die großen Exemplare der ganz frühen Schwarzen Löcher.
„Wir wissen ja eigentlich nur sehr wenig vom Universum“, sagt Günther Hasinger. „Wir kennen von der gesamten Energiedichte mit nur etwa vier Prozent die Materie, aus der wir selbst bestehen. Dann wissen wir, dass es so etwas wie Dunkle Materie gibt, ungefähr 20 Prozent und der Rest ist Dunkle Energie. Aber sowohl von der Dunklen Materie als auch von der Dunklen Energie haben wir noch keinen blassen Schimmer, worum es sich dabei handelt. Wenn es primordiale Schwarze Löcher gäbe, dann wäre es sehr wahrscheinlich, dass die Dunkle Materie komplett aus primordialen Schwarzen Löchern besteht.“
Demnach sind gleich nach dem Urknall großen Mengen an Materie in Schwarzen Löchern ganz unterschiedlicher Größe verschwunden. Direkt zu sehen sind sie nur, wenn sie groß genug sind und Materie verschlingen, die kurz vor dem Sturz ins Schwarze Loch aufglüht. Die Unmenge an Schwarzen Löchern könnte mit ihrer kombinierten Anziehungskraft dem Kosmos ihren Stempel aufdrücken.
Hoffen auf James Webb
Sollte James Webb tatsächlich große Schwarze Löcher entdecken, die nur unmittelbar nach dem Urknall entstanden sein können, wäre das etwas für die Geschichtsbücher. Dann wären gleich zwei Probleme mit einem Schlag gelöst, so Hasinger. „Wir wüssten dann, was die Dunkle Materie ist, und wir wüssten, woher die frühen Schwarzen Löcher kommen, nämlich direkt aus dem Urknall. Wenn wir das beweisen könnten, würde das unser Verständnis des Entstehungsprozesses des Universums wirklich auf den Kopf stellen.“
Die Beobachtungen mit James Webb laufen – und vielleicht erschüttert es mit seinem Weitblick schon bald einige tragende Säulen der astronomischen Weltgebäudes. Das hat ohnehin schon beträchtliche Risse. Dass der Kosmos sich seit dem Urknall ausdehnt, ist für Fachleute eine Binsenweisheit. Aber zwei Messverfahren für das Tempo der Ausdehnung liefern sich widersprechende Ergebnisse, obwohl beide auf derselben Theorie beruhen.
Zum Standardmodell gehört neben der Dunklen Materie auch die noch rätselhaftere Dunkle Energie. Beobachtungen zeigen, dass sich das Universum offenbar immer schneller ausdehnt – angetrieben von etwas, das man etwas hilflos Dunkle Energie nennt.
„Bei der Dunklen Materie, bin ich mir ziemlich sicher, dass die wirklich existiert und es eine Substanz ist“, sagt Günther Hasinger. Bei der Dunklen Energie sei er sich dagegen immer noch nicht hundertprozentig sicher, ob es nicht doch einfach nur ein Unverständnis der jetzigen Erkenntnisse ist. „Es gibt einige Spannungen im kosmologischen Gebäude, ich könnte mir vorstellen: Wenn man primordiale Schwarze Löcher ganz am Anfang im Universum hat, dass das schon so viele Änderungen in den Modellen erfordert, dass vielleicht einige dieser Spannungen sich auflösen.“
Der (Alb-)Traum vom Multiversum
Nach der populärsten Variante der Urknall-Theorie hat sich der Kosmos unmittelbar nach dem Urknall in einem Sekundenbruchteil rasend schnell von mikroskopischer Größe etwa auf die Ausmaße der Erde aufgebläht, bevor die Ausdehnung im normalen Tempo weiterging. Fachleute sprechen von der Inflation. Nur so lässt sich nachvollziehen, dass das Universum in alle Richtungen in etwa gleich aussieht. Allerdings gibt es da einen gravierenden Haken, räumt Alan Guth ein, der Anfang der 80er-Jahre die Inflationstheorie aufgestellt hat.
Das Merkwürdigste an der Dunklen Energie sei, dass es so wenig davon gebe, betont der Wissenschaftler vom renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT). Wenn man theoretisch abschätzt, wie viel Dunkle Energie es im Kosmos geben sollte, erhält man nämlich ein erstaunliches Ergebnis. „Nach der Vorhersage müsste es von der Dunklen Energie 120 Größenordnungen mehr geben als tatsächlich zu beobachten sind.“
120 Größenordnungen heißt: Eine 1 mit 120 Nullen. Um diesen Faktor ist die gemessene Dunkle Energie kleiner als der vorhergesagte Wert. Von natürlicher Erklärung, von Schönheit oder Einfachheit ist hier wahrlich nicht die Rede. Doch zu süß schmeckt die Theorie der kosmischen Inflation, zu verführerisch ist ihre mathematische Eleganz, zu beherrschend ist sie seit vielen Jahren, als dass die Astronomen von ihr lassen wollten.
So wird kreativ an der Inflation herumgebastelt, um die, wie manche Kritiker spotten, schlechteste Vorhersage aller Zeiten zu umschiffen. Alan Guth hat in seiner Theorie bereits einen Lösungsweg ausgemacht: Die Inflationstheorie sage voraus, dass es nicht nur ein Universum geben sollte. Derselbe Mechanismus, der unser Universum hat entstehen lassen, sollte viele weitere Universen hervorbringen – unendlich viele. „Zudem gibt es nach der Stringtheorie, die viele für die grundlegendste Art halten, unsere Welt zu erklären, nicht nur eine Dunkle Energie, sondern etwa zehn hoch 500. Das ist eine 1 mit 500 Nullen. Eine verrückte Zahl. In diesem Multiversum würde es jede einzelne Art der Dunkle Energie geben. Menschen, die über die Dunkle Energie nachdenken, entstehen aber nur dann, wenn die Energie sehr klein ist.“
Die neue Sache mit dem Multiversum: Sabine Hossenfelder kann über diese Argumentationen nur den Kopf schütteln. „Ich halte das alles nicht mehr für Wissenschaft“, sagt sie. Denn was in all den parallelen Welten des Multiversums vor sich gehen könnte, ist prinzipiell nicht zu sehen – darüber lässt sich lediglich spekulieren. Den Astronomen bleibt nur, in unserem Universum nach Hinweisen auf Inflation und Co. Ausschau zu halten. Metaphysik und Philosophie helfen dabei kaum weiter.
Kosmologen irren oft…
Kosmologen irren oft, doch nie quält sie ein Zweifel: So spottete einst der russische Kosmologe Jakob Zeldovich – auch mehr als 30 Jahre nach seinem Tod ist diese Kritik noch sehr aktuell. Dunkle Materie und Dunkle Energie prägen offenbar den Kosmos, haben aus dem Brei aus Materie und Strahlung kurz nach dem Urknall einen hoch strukturierten Kosmos geformt, haben Sterne, Planeten, Milchstraßen und Galaxienhaufen entstehen lassen – und sind doch bisher nicht zu fassen.
Damit steht unsere Vorstellung vom Aufbau des Universums auf einem sehr schwachen Fundament. „Ich glaube, die Leute haben es sich zu gemütlich gemacht. Das hat alles irgendwie schön gepasst. Aber, dass das wirklich das ultimative Modell sein soll, hat überhaupt niemand gesagt“, meint Bruno Leibundgut.
Der Schweizer Astronom mahnt zu etwas mehr Demut. Das aktuelle Weltmodell mag mathematisch leidlich funktionieren, muss bei 95 Prozent des Universums aber passen. So populär die Standardtheorie mit Dunkler Materie, Dunkler Energie et cetera auch ist – von Präzisionskosmologie, wie manche schwärmen, kann für ihn sicher keine Rede sein. „Es ist eigentlich anmaßend, dass man das Gefühl hat, man hat das ultimative kosmologische Modell gefunden“, so Leibundgut. „Das war vor 20 Jahren nicht so. Das war vor 50 Jahren nicht so. Wieso soll es jetzt der Fall sein?“
Die Situation erinnert ein bisschen an die Zeit der Epizykel der Antike. Damals sollten diese ineinander geschachtelten Kreisbahnen die Bewegungen der Planeten am Himmel erklären – auf Basis der grundfalschen Annahme, dass die Erde im Zentrum der Welt steht. Als man merkte, dass sich die Sonne im Zentrum des Planetensystems befand, wurden die Epizykel schlagartig nicht mehr gebraucht. Wird es so einst auch Dunkler Materie und Dunkler Energie ergehen?
„Es wäre doch eigentlich auch enttäuschend, wenn wir sagen müssten, wir haben das Universum verstanden. Insofern sind diese Probleme, ich würde sagen, begeisternd! Das ist eine tolle Sache“, sagt Leibundgut. Auch bei der Newtonschen Gravitationstheorie, die mehr als zwei Jahrhunderte über jeden Zweifel erhaben schien, gab es lange Zeit nur eine vermeintlich harmlose Kleinigkeit, die im Widerspruch zur Theorie stand: Es ging um winzige Abweichungen der Bahn ausgerechnet des kleinsten Planeten im Sonnensystem.
Die Unstimmigkeiten bei Merkur klärten sich auf eine Weise, mit der niemand gerechnet hatte, mahnt auch der Kosmologe Michael Turner: „Die Theorie, die die Bewegung Merkurs erklärt, war nicht einfach Newton und etwas mehr. Es war etwas völlig Neues – die Einsteinsche Relativitätstheorie! Ich persönlich bin von der Existenz der Dunklen Materie überzeugt. Aber womöglich liegen wir mit Urknall und Inflation falsch. Das werden wir bald testen können – und dann wird klar, was im Kosmos vor sich geht. Vielleicht erwartet uns eine viel größere Revolution, als wir uns heute vorstellen.“