Jürgen Rüttgers war Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. Er arbeitet als Anwalt in der Rechtsanwaltsgesellschaft Beiten Burkhardt und als Professor am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Gerade hat er ein Buch veröffentlicht unter dem Titel "'Er war ein ganz großer Häuptling' – Neues über Konrad Adenauer", Schöningh Verlag 2017.
Mehr Demokratie, mehr Rechtsstaat, mehr Gewaltenteilung
Die ausgestreckte Hand des europafreundlichen, französischen Präsidenten ergreifen: Das fordert der ehemalige NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. Nach der Bundestagswahl im September gehe es darum, mit dem Nachbarn im Westen, das Projekt Europa aus der Krise zu führen.
Vor rund zehn Jahren prophezeite der große europäische Soziologe Lord Dahrendorf, dass das 21. Jahrhundert ein autoritäres Jahrhundert werden könne. Im Report für 2017 weist die Nichtregierungsorganisation Freedom-House darauf hin, dass schon im elften Jahr hintereinander die Zahl der freien Staaten abgenommen habe. Nationalisten und Populisten seien auf dem Vormarsch. Dahrendorf glaubte, der Rückfall in autoritäre Verfassungsstrukturen sei die Folge der weltweiten Globalisierung:
"Globalisierung entzieht dem einzigen Domizil der repräsentativen Demokratie, das bisher funktioniert hat, dem Nationalstaat, die ökonomische Grundlage. Globalisierung beeinträchtigt den Zusammenhalt von Bürgergesellschaften, auf denen der demokratische Diskurs gedeiht."
Dahrendorf sagte damit den Neo-Liberalismus voraus: einen Neo-Liberalismus mit autoritären und populistischen Zielen, mit der Rückkehr zu immer neuen Grenzen, mit der Abschaffung der repräsentativen Demokratie, des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung. Mit dieser Vorhersage sollte Dahrendorf Recht behalten. Und doch übersah er etwas: dass dieser Neo-Liberalismus eine angeblich sichere Welt verspricht, die es so nie gegeben hat.
Gemeinsam die Herausforderungen meistern
Wir im Westen haben nicht trotz, sondern auf der Grundlage von Menschen- und Bürgerrechten 70 Jahre in Frieden und Freiheit und Wohlstand gelebt. Die autoritären und populistischen Regime der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben zu zwei Weltkriegen und Massenarmut geführt. In der großen Freiheitsrevolution von 1989/1990 konnten die Völker Ost- und Mitteleuropas ihre Ketten abwerfen, die Diktaturen besiegen und die Freiheit gewinnen.
Die Unruhe, die überall in den westlichen Demokratien zu spüren ist, liegt daran, dass es nach dem Untergang des Sozialismus und dem Ende des Marktradikalismus rund 20 Jahre später nicht gelungen ist, eine politische Union in Europa aufzubauen. Stattdessen hat die offene Gesellschaft Angst vor Fortschritt und Veränderung bekommen. Doch die einzelnen Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden nicht in der Lage sein, die Herausforderungen der globalen Wirtschaft, der drohenden Klimakatastrophe, der Digitalisierung und der Wissensgesellschaft national zu bewältigen. Das geht nur gemeinsam. Und dazu müssen sie gemeinsam mehr Demokratie wagen.
Europäer haben Anspruch auf mehr Demokratie
Das europäische Volk hat als Souverän einen Anspruch auf mehr Demokratie, mehr Rechtsstaat und mehr Gewaltenteilung. Europa muss seine Ängstlichkeit abschütteln und seine bürokratische Borniertheit überwindet. Nur gemeinsam wird Europas Kultur wieder erstrahlen: eine Kultur, die Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft umfasst.
Der im vergangenen Jahr verstorbene deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern wusste um die "Zerbrechlichkeit der Freiheit". Er glaubte daran, dass Deutschland und Frankreich eine "zweite Chance" bekämen, wenn sie gemeinsam das Haus Europa vollendeten. Frankreich hat das freie, demokratische Europa gewählt. Jetzt muss Deutschland die ausgestreckte Hand des neuen französischen Präsidenten Macron ergreifen. Der Aufbau einer gemeinsamen Sozialen Marktwirtschaft, der Schutz der europäischen Außengrenzen, eine neue Nachbarschaftspolitik und vor allem mehr Demokratie, mehr Rechtsstaat und eine bessere Gewaltenteilung sind die Themen der Zukunft. Die Bundestagswahl im September ist eine zweite Chance für Europa.