Peter Lieb: Unternehmen Overlord
Die Invasion in der Normandie und die Befreiung Westeuropas
C.H. Beck Verlag München
254 Seiten, 14,95 Euro, auch als ebook
Die Schlacht im Westen
Am 6. Juni 1944 landeten Amerikaner, Briten und Kanadier in der Normandie. Nach harten Kämpfen konnten die Alliierten die Deutschen aus Frankreich zurückdrängen. Die Geschichte dieser Schlacht beschreibt der Militärhistoriker Peter Lieb in seinem neuen Buch.
"Dieses Buch möchte der unterschätzten Bedeutung des westlichen Kriegsschauplatzes im Allgemeinen sowie der Normandie im Speziellen entgegenwirken."
So heißt es nüchtern im Prolog des Historikers Peter Lieb, der an der britischen Militärakademie Sandhurst und an anderen britischen Hochschulen lehrt und forscht. Dieser Prolog gibt - ausschnittsweise und beispielhaft - das Schicksal zweier kleiner militärischer Einheiten wieder. Das geschieht weniger nüchtern.
Dieser Wechsel ist kennzeichnend für die Studie. Auf deutscher Seite wird das Schicksal des verbunkerten sogenannten Widerstandsnests 62 geschildert, Teil des "Atlantikwalls", in dem am 6. Juni 1944 von 31 Mann zwei überleben. Auf britischer Seite des 5. Bataillons der Leichten Infanterie, benannt nach dem Herzog von Cornwall. Es verliert in den Kämpfen um die sogenannte Höhe 112, rund 20 Kilometer von der Küste entfernt, 320 von 380 Mann: tot, verwundet, in deutscher Gefangenschaft.
Am Ende des Feldzugs, Codename Overlord, der mit der größten amphibischen Invasion der Militärgeschichte beginnt, sind Frankreich und Belgien, sind die Niederlande befreit, stehen die Alliierten unter dem Oberbefehl des amerikanischen Generals Eisenhower am Rhein.
"Die Normandie-Schlacht kostete vom 6. Juni bis Ende August 1944 etwa 50.000 bis 55.000 deutsche Soldaten das Leben, 55.000 bis 65.000 alliierte Soldaten, und 18.000 bis 19.000 französische Zivilisten. Viele Städte und Dörfer der Normandie waren verwüstet. Es war eine der größten Schlachten der Weltgeschichte."
Aber warum standen und stehen für die meisten Deutschen die Schlachten im Westen und Süden Europas im Schatten der Ostfront? Aus den Feinden, den USA, Großbritannien und Frankreich wurden in den Jahren nach 1945 Verbündete im Kalten Krieg.
Die Nazis erwarteten die Invasion 300 Kilometer nordöstlich
Der Gegner Sowjetunion war im heißen Krieg nach Berlin und bis zur Elbe vorgedrungen und dort geblieben, eine Bedrohung für den Westen auf Jahrzehnte. Im Juni 1944 schickte sich die Rote Armee zu einer Sommeroffensive an, bei der ihr der Durchbruch bis nach Ostpreußen und Polen gelang. Zur selben Zeit dies:
Originalton: "Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: In der vergangenen Nacht hat der Feind seinen seit langem vorbereiteten und von uns erwarteten Angriff auf Westeuropa begonnen."
Das war natürlich nicht die Wahrheit. Hitler und seine Generäle waren durch Täuschungsmanöver der Alliierten hinter's Licht geführt worden. Sie hatten die Invasion bei Calais erwartet, mehr als 300 Kilometer nördlich. Stattdessen sahen sich die ohnehin schwachen deutschen Abwehrkräfte am frühen Morgen des 6. Juni einer riesigen, furchterregenden Armada in der Normandie gegenüber.
"Nicht weniger als 1213 Kriegsschiffe sowie 4124 Landungs- und Hilfsboote zählte die alliierte Streitmacht: Amerikaner, Briten, Kanadier, aber auch kleine Kontingente von Polen, Norwegern oder Griechen."
General Eisenhower in einer Radioansprache, die für die Bewohner Frankreichs, Belgiens und der Niederlande bestimmt war:
"People of Western Europe! A landing was made this morning on the coast of France by troups of the allied expedition airforce."
Die Landung unter dem Codenamen "Neptun" war "minutiös geplant und erforderte ein extrem hohes Maß an Koordination". Neben dem Aufgebot an Schiffen und Truppen zeigten der Stunden dauernde Artilleriebeschuss von See, die unablässigen Bombenabwürfe auf Bunker, Straßen und Brücken und der Einsatz von Luftlandetruppen im Hinterland die immense materielle Überlegenheit der Alliierten.
Aber eben auch die Notwendigkeit der Koordination. Bei weitem nicht alles funktionierte reibungslos am D-Day, dem Tag der Landung, und auch nicht in den Tagen und Wochen danach. Die Alliierten zahlten deswegen einen hohen Blutzoll. Peter Lieb analysiert mit großer Sorgfalt die Stärken und Schwächen der Führungsstäbe und der Mannschaften.
Dass der Oberbefehlshaber der deutschen Heeresgruppe B, Feldmarschall Erwin Rommel, die Landung verpasste, weil er zuhause, in Herrlingen bei Ulm, den Geburtstag seiner Frau feierte, ist nur eine Fußnote. Sonst gibt es in der Analyse der Abwehrkämpfe von Wehrmacht und Waffen-SS im Zeitraum vom 6. Juni bis Ende August das Diktum der grenzenlosen Überforderung.
Ein Taschenbuch, das ganze Bände Militärgeschichte ersetzt
Und Peter Lieb verweist auf die politischen und wirtschaftlichen Dimensionen: die Kämpfe im Westen zementierten endgültig die militärische Dominanz der Amerikaner gegenüber den Briten. Schließlich zitiert er zustimmend den britischen Kollegen Max Hastings:
"Die Normandie ist eine Operation, die ein perfektes Beispiel für die Stärken und Schwächen der Demokratie liefert."
... während es die Deutschen hier, und überhaupt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, beim militärischen Denken beließen. Das Besondere an diesem Taschenbuch, das einem ganze Bände von Militärgeschichte ersetzt, ist aber noch etwas anderes.
Es ist die Vielfalt und Dichte des Stoffs: Überlegungen zur Strategie der Amerikaner, Briten und Deutschen sowie zum Ort der Invasion, die deutsche Besatzungspolitik in Frankreich, Vorbereitungen beider Seiten auf die Landung, dann die eigentliche Landung, die daraus folgende Schlacht um die Normandie, der "Krieg von unten", die Mentalität der Soldaten und die Realität des Krieges, Kampf und Sterben, Kriegsverbrechen auf beiden Seiten, die verheerenden Auswirkungen der Kämpfe auf die französische Zivilbevölkerung, die Befreiung von Paris und eines innerlich zerrissenen Landes.
Peter Lieb hat über Frankreich im Zweiten Weltkrieg bereits intensiv geforscht und gearbeitet. Darum finden Invasion und Kämpfe für ihn nicht in einem Niemandsland statt, sondern in von Menschen bewohnten Orten und Landschaften. Die Kapitel über die Franzosen unter deutscher Besatzung, über Vichy und die Zusammenarbeit mit den Deutschen, über den heimischen Widerstand und den des Generals de Gaulle in London sind, wenn es so etwas gibt, humanistische Militärgeschichte.