Eine Dokumentarin des Schreckens
Berühmt geworden ist die weißrussische Autorin durch ihre Methode: Sie befragt Menschen aus allen Schichten und schreibt daraus Dokumentarromane voller Wucht. In ihrem neuem Buch geht es um die Kinder im Zweiten Weltkrieg.
Fast dreißig Jahre lang hat die russische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch - Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels 2013 - Menschen danach gefragt, wie es war, Kind zu sein im Zweiten Weltkrieg.
Es ist ein Dokument des Schreckens geworden. Erzählt von Kindern, die keine Kindheit hatten. Sie hatten erschossene Mütter und hatten Angst - vor Bomben und brutalen deutschen Soldaten mit ihren Peitschen und Hunden, die trainiert waren auf Menschenfleisch.
Das Buch ist ein vielstimmiger Höllenchor aus dem schwarzen Schlund des Krieges. Eine Lektüre, die das damalige Entsetzen der Kinder hineinkriechen lässt in den heutigen Leser. Alexijewitsch - berühmt geworden für ihre collageartigen Dokumentationen, die sich lesen wie ein Roman, hat hier auf alles verzichtet, was den schieren Schrecken einbetten könnte.
Wir wissen nicht das Alter der Befragten, nicht das Jahr, in dem sie interviewt wurden, nicht, ob die Gespräche in einer russischen Küche stattfanden, im Park, im Cafe, im Winter oder im Sommer. Ganz selten nur lässt Alexijewitsch jemanden sagen, er könne sich nicht erinnern, ohne die Fassung zu verlieren. Fast nie erfahren wir, wie sich das Trauma ausgewirkt hat im Leben danach.
Nur das Alter wird angegeben, aus dem diese Erinnerungsbilder heraufsteigen - meist sind die Befragten zwischen vier und vierzehn- und der Beruf, den sie heute ausüben. Ingenieurin, Arbeiterin, Soziologin, stellvertretender Fabrikdirektor, Pilot, Busfahrer, Melkerin - sie kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten.
Zwischen dem Überlebten und dem Jetzt
Und allein diese karge Information des heutigen Berufs lässt hin und wieder den Zusammenhang ahnen zwischen dem Überlebten und dem Jetzt. Wie bei dem Mann, der fünf war, als der Krieg ausbrach. Er scheint sich an fast nichts zu erinnern außer an ein großes Familienfoto. Vater, Mutter, sein kleiner Bruder und er. Vermutlich hat er als einziger überlebt. Heute ist er Fotograf.
Die Komposition der Dokumente hat den unverkennbaren Alexijewitsch Klang. Die Autorin hat ein sicheres Gespür für Dramaturgie, Tempo, Auslassungen oder Satzzerstückelungen – man ahnt die Atemnot, die Angst vor der Erinnerung und die dräuenden Gestalten im Meer des Verdrängten. Klar hervor treten die Partisanen, in deren Familienlager manche der Kinder aufwuchsen und schon bald selber kämpften, und sehr viele erinnern sich deutlich an die deutschen Soldaten, die wie ganz normale Menschen ausgesehen hätten, hübsch und jung und gerne lachten – und das besonders laut, wenn sie Menschen quälten und mordeten.
Vor dem Krieg dufteten die Linden zu Hause, vor dem Krieg sind die Erinnerungen voller Farben und Gerüche.
Dann werden sie grau und schwarz. Schwarze deutsche Uniformen, schwarze Flugzeuge, verbrannte Häuser und Menschen, graue Asche. Es ist ein Buch der Erinnerung, der Traumatisierung, der Angst.
Und ein Antikriegsbuch, wie es eindringlicher kaum vorstellbar ist. Er habe gesehen, sagt ein Mann, der heute Kraftfahrer ist, was kein Mensch sehen sollte, nicht sehen dürfte. Und er sei doch noch so klein gewesen.
Swetlana Alexijewitsch: "Die letzten Zeugen, Kinder im Zweiten Weltkrieg"
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag Berlin 2014
302 Seiten, 22.90 Euro
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Hanser Verlag Berlin 2014
302 Seiten, 22.90 Euro