Zweiter Weltkrieg

Kriegsinferno ganz nah

Der Autor und Historiker Antony Beevor, aufgenommen 2010 in Helsinki.
Der Autor und Historiker Antony Beevor, aufgenommen 2010 in Helsinki. © picture alliance / dpa / Mikko Stig
Von Irene Binal |
Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen begann vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg. Der Historiker Antony Beevor entwirft in seinem 1000-Seiten-Buch nun ein gewaltiges Panorama jener Zeit - das mit seiner Wucht ebenso beeindruckt wie mit seiner Akribie.
Am 1. September 1939 begann mit Hitlers Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Ein Krieg, der in Europa tiefe Wunden hinterließ und den zu verstehen sich unzählige Historiker, Journalisten und auch Schriftsteller bemühten. Antony Beevor geht einen anderen Weg: Nicht um eine letztendliche Deutung geht es ihm und auch nicht darum, Details zu untersuchen, vielmehr liefert er einen Gesamtüberblick, der alle Aspekte und Schauplätze berücksichtigt.
Denn der Zweite Weltkrieg wird zwar oft als europäischer Krieg wahrgenommen, ging aber weit über den Alten Kontinent hinaus. Schon im Mai 1939 erlitten japanische Truppen bei Kämpfen gegen Einheiten der Roten Armee eine Niederlage und Beevor sieht in dieser Schlacht eine Ursache für die spätere Entscheidung Japans, gegen die Kolonien der Europäer im Südostasien vorzugehen. Für China begann der Krieg im Juli, als die japanische Armee eine Brücke in der Nähe von Peking eroberte. All dies trug dazu bei, dass der Zweite Weltkrieg ein wahrhaft globaler Krieg wurde und Antony Beevor macht in seiner minutiösen Beschreibung der Schlachten und Scharmützel klar, dass die Vorgänge in Fernost nicht abgekoppelt betrachtet werden können, sondern den Kriegsverlauf auch in Europa wesentlich beeinflussten.
Nur selten findet sich eine explizite Wertung
Dabei hält sich Beevor strikt an seine Rolle als Chronist: Von den Anfängen in Fernost über den Kriegsausbruch in Europa und die Kämpfe in Nordafrika bis zum Kriegseintritt der USA und schließlich dem Abwurf der Atombombe arbeitet er sich voran, von einem Schlachtfeld zum nächsten, einer Verhandlung zur nächsten. Von Armeen und Einheiten ist da die Rede, von Vormärschen und Rückzügen, von diplomatischen Bemühungen und dem Leid der Zivilisten, von der Front und vom Hinterland. Geschickt verflicht Beevor dokumentarisch anmutende Kampfberichte mit Einzelschicksalen, er berichtet von aberwitzigen Zukunftsträumen der Nazis, von Hungerkatastrophen in Russland und den Streitigkeiten der Alliierten untereinander, vom Kannibalismus japanischer Soldaten oder vom Bürgerkrieg in Griechenland, den er als ein Indiz für den Übergang in einen "latenten dritten Weltkrieg" wertet. Und er befasst sich mit der psychologischen Befindlichkeit der Akteure - etwa mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Stalin und Churchill oder mit Hitlers diplomatischer Ahnungslosigkeit. Bei all dem bleibt Beevor selbst zurückhaltend: Nur selten findet sich eine explizite Wertung; selbst die Shoah wird zu einem Aspekt unter vielen, ohne freilich an Bedeutung zu verlieren.
So entsteht auf knapp 1000 Seiten ein gewaltiges Panorama, das mit seiner Wucht ebenso beeindruckt wie mit seiner Akribie. In Beevors Verdichtung verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse, das Inferno des Krieges rückt ganz nah und oft bemerkt man erstaunt, wie sehr Glück, Zufall oder diplomatisches Ungeschick den Kriegsverlauf nachhaltig beeinflussten. Bislang wurde der Zweite Weltkrieg meist in unterschiedlichen Teilaspekten wahrgenommen. Antony Beevor erzählt die ganze Geschichte.

Antony Beevor: Der Zweite Weltkrieg
Aus dem Englischen von Helmut Ettinger
C. Bertelsmann, München 2014
976 Seiten, 34,99 Euro

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