Zwischen Billigmode und Selbstmord

Von Christian Brüser · 21.11.2012
Über 100.000 junge Frauen arbeiten derzeit in Südindien nach dem "Sumangali-Modell", das sie dazu verpflichtet, drei Jahre lang bei einer Fabrik zu bleiben - mit einem kleinen Taschengeld. Eine große Verlockung für arme Familien. Tatsächlich erwartet die Frauen jedoch eine Art Sklavendasein.
Pálani-Ámmal sitzt neben ihrem Mann Durasami unter dem Vordach ihres Häuschens auf dem Boden. Sie hält das Foto ihrer Tochter in der Hand. Das Foto ist das einzige, was den beiden von ihrer Tochter Umadevi geblieben ist.

Es zeigt ein etwa 15-jähriges Mädchen im roten Kleid, das ernst in die Kamera blickt. Die Ränder des Fotos sind abgegriffen. Viele Male muss Pálani-Ámmal es schon in der Hand gehabt haben. Wenn sie von ihrer Tochter spricht, wirkt es, als müsse sie sich daran festhalten.

Mutter: "Zwei Männer von der Spinnerei-Fabrik sind mit dem Auto gekommen. ‚Ihrer Tochter geht es schlecht’, haben sie gesagt, ‚kommen sie mit.’ Im Krankenhaus von Dindigul haben wir dann ihre Leiche gesehen. Sie war ganz verbrannt, das Feuer hatte ihre Haut zerstört."

Umadevi war 16, als sie sich mit Benzin übergoss und anzündete. Dabei schien sich wenige Monate vor ihrem Selbstmord vor zwei Jahren alles zum Guten zu wenden, für sie und ihre Familie. Umadevi stammte aus Nága-Mángalam, einem Dorf im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Ein idyllischer Ort, in dem Mädchen mit schweren Krügen Wasser aus dem Dorfteich schöpfen und auf dem Kopf nach Hause balancieren.

Ein Ort, in dem Kinder auf dem bunt bemalten heiligen Stier herumkrabbeln, der den Dorftempel bewacht. Und wo unter einem mächtigen Baum Männer und Frauen die Schoten der indischen Datteln, der Tamarinden säubern. Die Realität von Umadevis Familie allerdings ist eine andere. Als Kastenlose ohne eigenes Land stehen sie am untersten Ende der indischen Gesellschaft. Durch jahrelange Arbeit auf den Feldern anderer sind sie zu einem Häuschen gekommen, etwa halb so groß wie eine Autogarage. Und wie eine Garage hat es auch keine Fenster. Unter dem Vordach macht Umadevis Mutter gerade mit Hilfe von Rindenstücken Feuer, um in einem Topf aus Aluminiumblech Reis zu kochen.

Sie ist erst 38, doch ihr Haar ist vollkommen ergraut. Ihr Mann Durasami flicht mit geschickten Händen Palmenblätter zu Matten. Jahrelang hatten sich die beiden Sorgen gemacht, wie sie das Geld für die Mitgift ihrer Tochter aufbringen würden.

Mutter: "Dann ist eine Frau ins Dorf gekommen und hat uns von der Fabrik erzählt. Drei ganze Tage ist die Agentin geblieben. Sie hat solange auf uns eingeredet, bis wir ihr unsere Tochter mitgegeben haben. Sie hat gesagt, unsere Tochter sei dort sicher und würde gut behandelt. Wir waren froh über das zusätzliche Geld in der Familie."

Umadevi verpflichtete sich, drei Jahre in der Spinnerei Ambika Cotton Mills zu arbeiten. Sie liegt etwa 80 Kilometer von Umadevis Heimatdorf entfernt. Man versprach ihr eine gute Unterkunft im Fabrikwohnheim, tägliche Mahlzeiten, ein Monatslohn von etwa 35 Euro und - das war das Wichtigste – eine Prämie von über 1000 Euro am Ende der drei Jahre.

"Sumángali" nennt sich dieses Vertragsmodell. Das bedeutet "glückliche Braut". Mit dem Geld für die Mitgift, so hofften die Eltern, werde ihre Tochter eine glückliche Braut werden. Gesetzlich ist die Zahlung einer Mitgift in Indien bereits seit 1961 verboten.

Mutter: "Gemeinsam mit zwei anderen Mädchen ist unsere Tochter Umadevi in die Fabrik gegangen. Nach drei oder vier Monaten haben die anderen beiden Mädchen aufgehört. Die Arbeit war hart und das Essen schlecht. Doch weil wir so arm sind, ist Umadevi geblieben."

Umadevis Vater erinnert sich, dass auch seine Tochter am liebsten wieder zurück ins Dorf gekommen wäre. Einmal habe Umadevi am Telefon geweint. Er habe sie nicht gezwungen, in der Fabrik zu bleiben, sondern ihr angeboten, nach Hause zu kommen. Umadevi blieb. Nach ihrem Selbstmord, so berichtet er, zahlte das Management den Eltern eine Entschädigung von 150.000 Rupien. 2300 Euro - der Preis für ein Leben.

Vater: "Ich wollte auf der Polizeistation Anzeige wegen des Todes unserer Tochter erstatten, aber der Polizist hat gesagt: ‚Die Fabrikbesitzer sind mächtig. Wenn du Anzeige erstattet, wirst du auch nichts mehr bekommen. Nimm das Geld und lass es gut sein!’ Was hätte ich tun sollen?"

Und Umadevi ist kein Einzelfall.

Umadevis Dorf gehört zum Bezirk Dindigul, der im Bundesstaat Tamil Nadu im Süden Indiens liegt und bis in die 1980er-Jahre sehr rückständig war. Es gab hier kaum Industrie. Die indische Regierung schuf dann Investitionsanreize, um Baumwollspinnereien anzusiedeln. Mit Erfolg.

Heute gibt es in Tamil Nadu etwa 1700 Spinnereien, erklärt der Gewerkschaftsfunktionär Herr Jayamani von der All India Trade Union. Die meisten Spinnereien stehen in Dindigul und den Nachbarbezirken, die damit das Zentrum der indischen Spinnerei-Industrie bilden.

Jayamani: "Zu Beginn, in den 80er-Jahren, arbeiteten ausschließlich Männer in den Fabriken. Sie waren gewerkschaftlich organisiert. Ab Ende der 1990er-Jahre begannen die Unternehmer, vermehrt Frauen einzustellen. Sie sind nicht organisiert und lassen sich daher leichter kontrollieren."

Dr. Ganesh ist Psychiater und leitet eine Privatklinik in der gleichnamigen Bezirkshauptstadt Dindigul, zwei Autostunden nördlich von Umadevis Heimatdorf. Viele von Dr. Ganeshs Patientinnen arbeiten in den Spinnereien.

Ganesh: "Wir haben hier eine sehr hohe Selbstmordrate. Allein im letzten Monat war ich jeden Tag mit zwei oder drei Selbstmordversuchen konfrontiert. Diese jungen Frauen haben eine sehr unreife Persönlichkeit und folgen ihren Impulsen. Selbstmord erscheint ihnen als Weg, der enormen Belastung zu entkommen. Die meisten wollen nicht sterben, sondern ihrer Umwelt deutlich machen, dass sie unter extremem Druck stehen.

Am häufigsten verwenden sie Gift. Das ist hier überall zu haben. Entweder trinken sie Insektizide oder die mit Wasser verrührten zerstoßenen Samen bestimmter Pflanzen. Das ist ein sehr starkes Nervengift, das schnell zum Tod führt. Manche bringen sich mit Rattengift um. Alle diese Substanzen sind hier sehr leicht erhältlich. Wenn sie dann in so einer Stimmung sind, nehmen sie sie."

Auch Priya war in so einer Stimmung, doch sie hat Glück gehabt. Priya ist 18 und lebt in Singarakottai, einem Dorf im Bezirk Dindigul. "Priya" bedeutet die "Liebliche". Tatsächlich hat Priya große dunkle Augen, ein ebenmäßiges Gesicht, zarte Arme und volles schwarzes Haar. Doch schön zu sein, klug oder fleißig genügt im Leben der Kastenlosen in Indien nicht zum Heiraten. Man braucht eine Mitgift.

Da ihre Eltern kaum genug Geld fürs tägliche Überleben verdienten, musste Priya mit 15 beginnen, in der Spinnerei Shiva Texyarn zu arbeiten. Wenn sie drei Jahre durchhalten würde, so versprach man ihr, bekäme sie 30.000 Rupien, knapp 500 Euro. Das introvertierte Mädchen sitzt auf dem Rand ihres Betts und knetet nervös eine Hand mit der anderen.

Priya: "Ich habe die Spinn-Maschinen betreut. Es wurden immer höhere Produktionsziele festgelegt, und wenn wir sie nicht erreichten, haben sie mich beschimpft. ‚Warum kommst Du überhaupt zur Arbeit? Wenn Du nicht ordentlich arbeitest, werden wir Dich entlassen!’ Für jeden Tag den ich fehlte, musste ich einen ganzen Monat länger arbeiten.

Ich konnte die Beschimpfungen nicht mehr ertragen, doch meine Familie hat mich gedrängt weiterzuarbeiten. Es war fürchterlich. Eines Abends habe ich dann Insektengift genommen. Ich musste mich dann ständig übergeben. Dann wurde ich bewusstlos. Meine Familie hat mich gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Dort hat man mich gerettet."

Obwohl Priya die drei Jahre fast beendet hatte, zahlte ihr das Management statt den versprochenen 500 Euro nur die Hälfte. Davon kaufte ihr Vater ihr einige Ziegen und zwei Kühe. Wenn sie von ihren Tieren erzählt, beginnt Priyas Gesicht zu strahlen.

Sie ist glücklich, dass ihre Sklavenarbeit in der Spinnerei vorüber ist. In den Dörfern um Dindigul trifft man Tausende Frauen, die in solchen Spinnereien ausgebeutet wurden und werden. Etwa 100.000 junge Frauen, so schätzen NGOs arbeiten in Südindien mit solchen Verträgen.

Jeeva hat die vollen drei Jahre durchgehalten. Sie lebt in Thennampatti, einem Dorf am Highway 83, der Dindigul mit der Hafenmetropole Chennai verbindet. Die 21-Jährige trägt einen blauen Sari und sitzt hinter ihrer Nähmaschine. Mit ihren nackten Füßen bedient sie energisch das Pedal. Die Nähmaschine steht in einem kleinen, neuen Haus mit kahlen Wänden.

Dank des Geldes, das sie in der Spinnerei und mit dem Nähen verdient hat, so erklärt Jeeva stolz, konnte sie es gemeinsam mit ihren Eltern bauen. Immer wieder muss sich die lebhafte junge Frau ihre widerspenstigen schwarzen Locken aus dem Gesicht streichen. Wenn sie von ihrer Zeit in der Spinnerei berichtet, klingt das bitter und trotzig zugleich.

Jeeva: "Ich habe die Spinnmaschine betreut und musste jeden Tag kilometerlang gehen, ständig hin und her. Es war fürchterlich laut, man hat nichts gehört. Wenn man jemand rufen wollte, musste man eine Trillerpfeife verwenden.

Wegen des vielen Baumwollstaubs litt ich ständig unter Brechreiz. Im Wohnheim haben 600 Mädchen gelebt, jeweils 10 in einem Zimmer. Für alle 600 gab es nur 16 Toiletten und wir mussten immer lange anstehen. Auch das das Essen hat uns ziemlich zu schaffen gemacht, es hat nach nichts geschmeckt und war nicht nahrhaft."

Die vielen Spinnereien im Bezirk Dindigul sehen von außen aus wie große Gefängnisse. Meterhohe Mauern mit Stacheldraht. Die Eingänge werden von Sicherheitspersonal bewacht. Jeeva zupft bei der Erinnerung an ihr Leben hinter diesen Mauern aufgewühlt am Saum ihres leuchtend blauen Saris.

Jeeva: "Ich durfte das Wohnheim nur verlassen, wenn mich meine Eltern besucht haben. Alleine durfte ich nie raus. Aber das Schlimmste war, dass man uns keine Ruhe gönnte. Nach meiner Acht-Stunden-Schicht wollte ich schlafen. Oft sind die Vorarbeiter gekommen, und haben uns gezwungen, weiter zu arbeiten."

12, 14 oder mehr Arbeitsstunden pro Tag sind in den Fabriken normal. NGOs berichten auch von sexuellen Übergriffen.

Jeeva: "In einer achtstündigen Schicht durften wir nur ein einziges Mal zur Toilette gehen. Alle unsere Aufseher waren Männer. Selbst wenn wir die Regel hatten, erlaubten sie uns nicht, aufs Klo zu gehen.

Wir bekamen auch zu wenig Wasser zum Trinken. Obwohl ich nun schon einige Jahre verheiratet bin, habe ich noch keine Kinder. Der Arzt sagt, in der Fabrik hat meine Fruchtbarkeit gelitten."

Das Sumangali-Prinzip ist als eine Form der Zwangsarbeit auch nach indischem Recht illegal. Außerdem liegt die Bezahlung deutlich unter dem gesetzlichen Mindestlohn, selbst wenn man die Prämie nach Erfüllung des Vertrags sowie die Kosten für Unterkunft und Verpflegung berücksichtigt.

Hinzu kommt, dass die Arbeiterinnen zu vielen Überstunden gezwungen werden. Trotz der eindeutigen Rechtsverstöße ist es schwierig, gerichtlich gegen die Unternehmer vorzugehen. Sie sind sehr einflussreich. Viele Menschen haben Angst vor ihnen. Aber es gibt auch ganz praktische Schwierigkeiten, die Rechtsverletzungen anzuzeigen.

Jeeva: "Sie haben mich zwar einen Vertrag unterschreiben lassen, aber ich habe keine Ahnung, was dort geschrieben stand. Sie haben mir nichts erklärt und auch keine Kopie davon gegeben. Wir wurden immer in bar bezahlt.

Ich bekam weder einen Gehaltszettel noch einen Mitarbeiterausweis. Ich habe kein einziges Dokument, um zu beweisen, dass ich je in der Fabrik beschäftigt war."

Viele der Garne, die man in Dindigul spinnt, werden in der 120 Kilometer entfernten Stadt Tirupur weiterverarbeitet. Man nennt diese Stadt "T-Shirt City". Hunderte von Webereien und Nähereien haben sich hier angesiedelt. Aus Hafenpapieren der indischen Häfen Tuticorin und Chennai geht hervor, dass die meisten bekannten Modemarken Baumwolltextilien in Tirupur nähen lassen. Takko, Kik, H&M, C&A, S.Oliver, Tom Tailor, Ernstings Family, Esprit, Tommy Hilfiger und viele mehr.

Die Firmen, die in den Hafenpapieren genannt sind, machen meist nur die letzten Arbeitsschritte: Zuschneiden, Nähen und Verpacken, teilweise weben sie auch ihre Stoffe. Mit Sicherheit kommt ein großer Teil der Garne aus Dindigul und wurde auch mit Sumangali-Arbeit hergestellt. Beweisen kann man das allerdings nur in ganz wenigen Fällen.