Emran Feroz ist freier Journalist mit afghanischen Wurzeln. Er berichtet regelmäßig über die politische Lage im Nahen Osten und Zentralasien. Feroz publiziert in deutsch- und englischsprachigen Medien.
Die Taliban sind längst in Kabul
16 Jahre nach dem Beginn des westlichen Militäreinsatzes in Afghanistan ist der Krieg im Land präsenter denn je. Das ist auch im vermeintlich sicheren Kabul zu spüren. Doch von der internationalen Staatengemeinschaft und in der Hauptstadtblase wird das gekonnt ignoriert, meint Emran Feroz.
Wer im "Slice" sitzt, einem neumodischen Coffeeshop im Kabuler Stadtteil Shar-e Nao, bekommt schnell den Eindruck, nicht in Afghanistan zu sein. Hier gibt es keine Geschlechtertrennung. Männer und Frauen, ob nun verheiratet oder nicht, sitzen gesellt beisammen. Es herrscht ein reges Treiben. Deshalb kann ein großer Anschlag mitten im scheinbar friedlichen Kabul einen solchen internationalen Schock auslösen.
Dabei genügt eine nur fünfzigminütige Fahrt, um eine völlig andere Welt zu gelangen. In der Provinz Wardak herrscht nämlich Krieg. Schon auf dem Weg dorthin wird das deutlich: frische Minenlöcher und ausrückende Soldaten prägen das Bild. Irgendwann enden die Armee-Checkpoints. Der Feind ist fast schon in Sichtweite.
Wer für die Nato arbeitet, bekommt Probleme
Der Feind – das sind in diesem Fall die Taliban. Während manche moderne Kabulis im "Slice" ihren Latte Macchiato genießen und Präsident Ashraf Ghani in seinem Palast sitzt und weiterhin vorgibt, alles im Griff zu haben, kontrollieren die Taliban weite Teile Wardaks. Hier – keine Stunde von Kabul entfernt – bewegen sich die Kämpfer völlig frei.
Dass die Taliban hier das Sagen haben, bemerkt man spätestens, nachdem man ihre Checkpoints passiert hat. Probleme bekommen hier vor allem jene Afghanen, die auf irgendeine Art und Weise für Regierung, Armee oder gar die Nato arbeiten.
In den Dörfern in Wardak wird schnell jene Realität unübersehbar, die gerne im Westen verdrängt wird. Während in manchen Gegenden Kabuls regelrechter Luxus herrscht, pompöse Hotelbauten das Stadtbild prägen und Fernseher in vielen Haushalten zu finden sind, fehlt vielen Menschen hier das Grundlegendste. Es gibt weder Strom noch fließendes Wasser.
Die Zivilbevölkerung leidet
Außerdem geraten die Menschen regelmäßig zwischen die Fronten, wenn Armee und Aufständische einander bekämpfen. Dazu kommen noch regelmäßige Luftangriffe der Nato, die nicht selten auch Zivilisten treffen.
Erst vor Kurzem wurde in Maidan Shar, der Provinzhauptstadt Wardaks, eine Moschee von einer US-Drohne getroffen. Während die Regierung ausschließlich von getöteten Taliban-Kämpfern sprach, berichteten mir Anwohner vor Ort vom Tod eines 15-jährigen Jungen.
Die Auswirkungen derartiger Angriffe sind verschieden. Durch den Luftangriff auf ein Gotteshaus finden die Taliban einerseits lokale Zustimmung und Unterstützung. Andererseits sind die Extremisten davon überzeugt, dass lokale Spitzel mit der Nato zusammenarbeiten – und schrecken zum Teil vor kollektiven Bestrafungen nicht zurück. In beiden Fällen leidet ausschließlich die Zivilbevölkerung.
Die Realität wird verdrängt
Doch der Krieg wird weiterhin von beiden Seiten geführt. Auch im vermeintlich sicheren Kabul merkt man, was im Gange ist, wenn plötzlich US-Panzer durch die Straßen fahren oder nachts permanent Kampfjets, die für Bombardierungsmissionen ausgesandt wurden, durch die Luft jagen.
In der Kabuler Blase wird dies allerdings kaum noch aufgenommen. Viele Menschen interessieren sich wenig für die Vorgänge in Wardak und in anderen Provinzen, die weitgehend von den Taliban kontrolliert werden. "Hauptsache, sie kommen nicht hier her", ist der Tenor.
Dabei sind sie schon da. Die Besitzer des "Slice" wissen es. Ihr Café wurde aufgrund "unislamischer Aktivitäten" schon mehrmals von den Taliban bedroht. Doch solange die Blase nicht platzt, wird dieser Umstand gerne vergessen.
Daran ändern auch Anschläge wie der jüngste nichts. Auch dieses gelegentliche Hereinbrechen der Realität in die Kabuler Blase wird weder die Menschen vor Ort noch im Westen am Verdrängen hindern.