Zwischen den Kontinenten

Von Mirko Schwanitz · 17.10.2005
Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk lebt im europäischen Teil von Istanbul - mit Blick auf Asien. Und genau dies ist das Thema in seinen Romanen wie im eigenen Leben: Der Widerstreit, in dem sich die europäische und orientalische Seite in der Türkei seit jeher befinden.
Wer Orhan Pamuk besuchen will, muss sich weit vorwagen. Er muss gezwungenermaßen einen Kontinent verlassen und einen anderen betreten. In einem in dieser Woche auf dem Kulturkanal arte laufenden Dokumentarfilm gibt der Autor Auskunft über sich und sein Schreiben.

Orhan Pamuk: "Ich wohne an der Spitze der europäischen Seite Istanbuls. Ich würde überhaupt sagen, dass ich an der Spitze Istanbuls wohne. Und ich schaue auf Asien. "

Orhan Pamuks Zuhause steht in einem verwunschenen Garten auf einer kleinen Insel vor Istanbul. Wenn er das Fenster seines mit Büchern vollgestopften Arbeitszimmers öffnet, spiegelt sich in ihm ein Minarett vom anderen Ufer des Bosporus.

Orhan Pamuk: "Geographisch gesehen ist Istanbul ein Teil Europas, gefühlsmäßig gesehen jedoch nicht. "

Dies ist sein Thema - in seinen Romanen wie im eigenen Leben. Der Widerstreit, in dem sich die europäische und orientalische Seite in der Türkei seit jeher befinden. Pamuk trägt beide in sich, beide reiben sich - in ihm und an ihm und erzeugen so jene Faszination, die seine Romane ausmachen. Dabei, so erzählt er in dem Film, sah es lange so aus, als sollte aus ihm etwas ganz anderes werden als ein Schriftsteller.

Orhan Pamuk: "Zwischen meinem siebten und 22. Lebensjahr wollte ich eigentlich Maler werden. Dann wurde wahrscheinlich in meinem Kopf eine Schraube locker, es passierte etwas, das ich kaum beschreiben kann. Es war eine seelische Veränderung, die dazu führte, dass ich mit der Malerei aufhörte. Ich las viel, insbesondere Romane. Wahrscheinlich fühlte ich, dass Romane mich mental mehr befriedigten als die Malerei."

Seit dem 22. Lebensjahr hat Orhan Pamuk alle vier Jahre einen Roman geschrieben. Ein jeder kommt wie ein Krimi daher. Doch als solche möchte der Autor seine Bücher eigentlich nicht verstanden wissen.

Orhan Pamuk: "In meinen Büchern entsteht das Moment des Mysteriösen, nicht durch eine Krimistory oder durch die Frage, wer ist der Mörder? Für mich ist vielmehr das geheimnisvolle des menschlichen Charakters von Bedeutung, die Beschaffenheit der menschlichen Seele oder auch die erschreckende Einsicht, wie begrenzt unser Wissen auf dem Gebiet ist. "

Eine Erfahrung, die Pamuk erst jüngst wieder machen musste. Als er über die durch die Türken während des ersten Weltkrieges verübte Vertreibung und Ermordung von mehr als einer Million Armenier spricht, wird er wegen "öffentlicher Herabwürdigung des Türkentums" angeklagt. Im Dezember soll ihm nun der Prozess gemacht werden, in der Stadt, die er über alles liebt und deren Bewohner, die eigentlichen Musen des Romanciers Pamuk sind.
Orhan Pamuk: "Mit langsamen Schritten stundenlang in Istanbul spazieren zu gehen, ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Istanbul gibt mir neue Bilder und Geheimnisse preis. Daher sehe ich die Stadt mit ihren Massen als einen Reichtum, der mir neue Geschichten feilbietet. In einigen meiner Bücher hat Istanbul eine Hauptrolle. In Istanbul leben über zehn Millionen Menschen und nur sehr wenige Schriftsteller sind gewillt, dass Lebensgefühl der Stadt, die Gesichter der Menschen zu beschreiben. Aus diesem Grund fühle ich mich von Glück begünstigt."

Wenn es Ihnen schlecht geht, gibt Orhan Pamuk seinen Lesern im Film mit auf den Weg, gehen Sie spazieren in der Stadt, die sie lieben. Sie werden glücklicher nach Hause zurückkehren.
Istanbul mit Brücke über den Bosporus.
Istanbul mit Bosporus-Brücke© AP