Zwischen Dietl und Dieckmann
Berlin ist die Hölle. Die reine Hölle. Im Grunde unbewohnbar. Hier leben Menschen ohne Stil und Anstand. Sie duschen nackt im Hinterhof und essen Currywurst zu jeder Tageszeit, haben keine Ahnung von französischem Rohmilchkäse und laufen meist in der Trainingshose herum. Manchmal sehnt man sich hier tatsächlich nach Sibirien. Sie glauben es nicht? Doch, doch, das ist die reine Wahrheit.
"Geschichten aus einer barbarischen Stadt" - so lautet der Untertitel eines Sammelbandes bekennender Berlin-Hasser, viele von ihnen Feuilletonredakteure und Autoren der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Sie müssen tatsächlich Höllenqualen erlitten haben. Aber sie haben eisern durchgehalten: Alle sind geblieben und haben sich auf den vielen Partys und Empfängen am Hummer- und Austernbüffet tapfer durchgeschlagen.
Gut drei Jahre ist die intellektuelle Hasstirade nun alt, doch ein gefühltes Jahrhundert scheint unterdessen vergangen zu sein. Heute liegt, so scheint es, alle Welt Berlin zu Füßen. Ob arm oder reich, Hauptsache "sexy". Berlin ist "Kult". Vom "Wiederaufstieg einer Weltstadt" kündet der SPIEGEL.
Im FAZ-Feuilleton wird die Eröffnung eines neuen Edel-Restaurants an der Friedrichstraße inzwischen auf der prominenten Aufmacherseite wie eine Theaterpremiere an der Schaubühne gefeiert - auch die Anwesenheit des Ehemanns der Bundeskanzlerin findet ihre angemessene Würdigung. Früher hatte man so etwas "Bild" und "B.Z." überlassen.
Jede kleine Wendung im Kampf um den Wiederaufbau des Hohenzollernschlosses wird feinsinnig nachvollzogen, und die "FAS", die illustre Sonntagszeitung der FAZ, ist eben nicht von Berlin ins Frankfurter Gallusviertel umgezogen. Durchaus verständlich: Lieber in der süßen Metropolenhölle schmoren als Tristesse pur an der "Galluswarte".
Die deutsche "Vanity Fair", standesgemäß Unter den Linden residierend, vermeldet stolz den geplanten Umzug von Angelina Jolie und Brad Pitt an die Spree. Unablässig wachsende Touristenströme aus aller Welt verstopfen den Gendarmenmarkt und angrenzende Gebiete. Über allem aber thront Knut I., der kleine süße Eisbär. Ein unschuldig weißes Metropolenwesen. Das neue deutsche Weltwunder. Die beste Nachricht aus Berlin seit Hitlers Ende im Führerbunker. Zugegeben - und dem Fall der Mauer...
So war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die BILD-Zeitung, das Leitorgan der deutschen Gesellschaftskritik, auf den Trichter kam: "Berlin ist das politische, ist das kulturelle, ist das Lifestyle-Zentrum von Deutschland", proklamierte Chefredakteur Kai Diekmann vor wenigen Tagen. Es klang wie eine Befehlsausgabe vor der Truppe. Pünktlich zum 3. Oktober, dem Feiertag der deutschen Wiedervereinigung, sollen bis zu tausend BILD- und Springer-Beschäftigte von Hamburg nach Berlin ziehen.
Ob dabei aber an alles gedacht wurde? Ganze Ehen, weit verzweigte Patchworkfamilien und tief verwurzelte Langzeitbeziehungen würden einer schweren Zerreißprobe ausgesetzt. Glaubt man Augenzeugen, so müssen sich im traditionsreichen Hamburger Verlagsgebäude erschütternde Szenen abgespielt haben. Völlig überraschte, ja konsternierte Autoren und Reporter sollen angeblich damit gedroht haben, sich aus Protest an die Bootsstege ihrer Yachten und Katamarane zu ketten.
Andere phantasieren in ihrer Verzweiflung bereits von einer Menschenkette entlang der Elbe zwischen Neumühlen und Övelgönne. Statt "Bild Dir Deine Meinung" hieße dann die Parole: "Bildet Ketten, seid wie Kletten!"
Schon fragen sich verunsicherte "Focus"-Redakteure in München, wann sie dran sind: Fakten, Fakten, Fakten und immer an den Leser denken - nun bald am Prenzlauer Berg statt auf dem Viktualienmarkt?
Auch die "Süddeutsche Zeitung" kann sich womöglich nicht auf Dauer gegen den geradezu unheimlichen Berlin-Sog stemmen - selbst wenn sie sich dann konsequenterweise in "Die Ostdeutsche" umbenennen müsste. Aber warum eigentlich nicht: Helmut Dietl, der Ur-Münchner "Kir-Royalist", ist auch schon da - dort, wo selbst Schuldenberg, Baustellenchaos und herab fallende Eisenteile am neuen Hauptbahnhof echte Attraktionen sind. Am Starnberger See kann man sich später immer noch ein schönes Grab aussuchen, Alpenpanorama inklusive.
Eine Gefahr ist allerdings nicht von der Hand zu weisen: Wenn sich tausende von investigativen Hauptstadt-Journalisten in Restaurants und Bars, Clubs und Kneipen gegenseitig auf die Füße treten, könnte es sehr, sehr ungemütlich werden in Berlin. Das wäre dann doch wieder die reine Hölle. Zumindest die Vorhölle.
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.
Gut drei Jahre ist die intellektuelle Hasstirade nun alt, doch ein gefühltes Jahrhundert scheint unterdessen vergangen zu sein. Heute liegt, so scheint es, alle Welt Berlin zu Füßen. Ob arm oder reich, Hauptsache "sexy". Berlin ist "Kult". Vom "Wiederaufstieg einer Weltstadt" kündet der SPIEGEL.
Im FAZ-Feuilleton wird die Eröffnung eines neuen Edel-Restaurants an der Friedrichstraße inzwischen auf der prominenten Aufmacherseite wie eine Theaterpremiere an der Schaubühne gefeiert - auch die Anwesenheit des Ehemanns der Bundeskanzlerin findet ihre angemessene Würdigung. Früher hatte man so etwas "Bild" und "B.Z." überlassen.
Jede kleine Wendung im Kampf um den Wiederaufbau des Hohenzollernschlosses wird feinsinnig nachvollzogen, und die "FAS", die illustre Sonntagszeitung der FAZ, ist eben nicht von Berlin ins Frankfurter Gallusviertel umgezogen. Durchaus verständlich: Lieber in der süßen Metropolenhölle schmoren als Tristesse pur an der "Galluswarte".
Die deutsche "Vanity Fair", standesgemäß Unter den Linden residierend, vermeldet stolz den geplanten Umzug von Angelina Jolie und Brad Pitt an die Spree. Unablässig wachsende Touristenströme aus aller Welt verstopfen den Gendarmenmarkt und angrenzende Gebiete. Über allem aber thront Knut I., der kleine süße Eisbär. Ein unschuldig weißes Metropolenwesen. Das neue deutsche Weltwunder. Die beste Nachricht aus Berlin seit Hitlers Ende im Führerbunker. Zugegeben - und dem Fall der Mauer...
So war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die BILD-Zeitung, das Leitorgan der deutschen Gesellschaftskritik, auf den Trichter kam: "Berlin ist das politische, ist das kulturelle, ist das Lifestyle-Zentrum von Deutschland", proklamierte Chefredakteur Kai Diekmann vor wenigen Tagen. Es klang wie eine Befehlsausgabe vor der Truppe. Pünktlich zum 3. Oktober, dem Feiertag der deutschen Wiedervereinigung, sollen bis zu tausend BILD- und Springer-Beschäftigte von Hamburg nach Berlin ziehen.
Ob dabei aber an alles gedacht wurde? Ganze Ehen, weit verzweigte Patchworkfamilien und tief verwurzelte Langzeitbeziehungen würden einer schweren Zerreißprobe ausgesetzt. Glaubt man Augenzeugen, so müssen sich im traditionsreichen Hamburger Verlagsgebäude erschütternde Szenen abgespielt haben. Völlig überraschte, ja konsternierte Autoren und Reporter sollen angeblich damit gedroht haben, sich aus Protest an die Bootsstege ihrer Yachten und Katamarane zu ketten.
Andere phantasieren in ihrer Verzweiflung bereits von einer Menschenkette entlang der Elbe zwischen Neumühlen und Övelgönne. Statt "Bild Dir Deine Meinung" hieße dann die Parole: "Bildet Ketten, seid wie Kletten!"
Schon fragen sich verunsicherte "Focus"-Redakteure in München, wann sie dran sind: Fakten, Fakten, Fakten und immer an den Leser denken - nun bald am Prenzlauer Berg statt auf dem Viktualienmarkt?
Auch die "Süddeutsche Zeitung" kann sich womöglich nicht auf Dauer gegen den geradezu unheimlichen Berlin-Sog stemmen - selbst wenn sie sich dann konsequenterweise in "Die Ostdeutsche" umbenennen müsste. Aber warum eigentlich nicht: Helmut Dietl, der Ur-Münchner "Kir-Royalist", ist auch schon da - dort, wo selbst Schuldenberg, Baustellenchaos und herab fallende Eisenteile am neuen Hauptbahnhof echte Attraktionen sind. Am Starnberger See kann man sich später immer noch ein schönes Grab aussuchen, Alpenpanorama inklusive.
Eine Gefahr ist allerdings nicht von der Hand zu weisen: Wenn sich tausende von investigativen Hauptstadt-Journalisten in Restaurants und Bars, Clubs und Kneipen gegenseitig auf die Füße treten, könnte es sehr, sehr ungemütlich werden in Berlin. Das wäre dann doch wieder die reine Hölle. Zumindest die Vorhölle.
Reinhard Mohr, geboren 1955, schreibt für Spiegel Online. Zuvor war Mohr langjähriger Kulturredakteur des "SPIEGEL". Weiter journalistische Stationen waren der "Stern", "Pflasterstrand", die "tageszeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Letzte Buchveröffentlichungen: "Das Deutschlandgefühl" und "Generation Z". Mohr lebt in Berlin-Mitte.