Zwischen Genie und Windmacher

Von Arno Orzessek |
Er fehlte bei der Premiere seines Buches in Berlin. Der an Lungenkrebs erkrankte Künstler Christoph Schlingensief hat "So schön wie hier …" aus Rekorder-Protokollen zusammengestellt. Als das Karzinom auf sein Leben losging, griff er zum Mikrofon, um in tiefster Not weniger zu Gott, als vielmehr zum Publikum zu reden.
Im Internet behauptet ein Leser des Promi-Magazins "Gala", Christoph Schlingensief habe seinen Lungenkrebs bloß erfunden. Die Vermarktung des Werkes "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!" sei nichts anderes als eine "Verhöhnung todkranker Menschen".

Der "Gala"-Leser hat in medizinischer Perspektive bitter Unrecht. Aber seine Empörung trifft, um beim Pathologischen zu bleiben, den wunden Punkt in Schlingensiefs öffentlicher Existenz.

Der Regisseur und Performer hat die umkämpfte Grenze zwischen Kunst und Leben stets so perforiert, wie es ihm gefiel. Er hat auf der Documenta X appelliert: "Tötet Helmut Kohl!" – wäre aber nicht erfreut gewesen, deshalb hinter reale Gitter zu wandern.

Und nun die Vorstellung des neuen Buches. Tatsächlich sah sich Verleger Helge Malchow von Kiepenheuer & Witsch genötigt, über Schlingensiefs Fehlen im Berliner Prater zu bemerken:

"Ich möchte Sie bitten, das zu verstehen, und auch in seinem Namen Sie grüßen. Das ist keine Aggression oder Provokation, sondern ist geschuldet seinem gesundheitlichen Zustand."

Denn in der Tat, bei Schlingensief weiß man nie – und so soll es sein. Das eine ist, dass jemand sein Werk nicht an die große Glocke hängen will. Das andere ist, dass er diese Absicht – wie Schlingensief gestern Abend – vor Millionen ARD-Zuschauern bei Beckmann verkündet und dann von der Verlobung mit Aino und von Hochzeitsplänen redet, also genau die Topoi des Boulevard mobilisiert, mit denen auch ein Boris Becker um Aufmerksamkeit heischt.

Entsprechend kleinlaut entschuldigte sich Helge Malchow: "Ich bin deswegen auch ein bisschen enttäuscht, dass er nicht heute hier ist, weil – ehrlich gesagt –, wenn ich die beiden Veranstaltungen miteinander vergleiche, gestern hier bei Beckmann und heute hier im Prater – wäre das eigentlich hier der richtige Platz für ihn, um über sein Buch etwas zu sagen."

Schlingensief handelt auch als öffentlicher Krebskranker so, dass Masche und Marketing von künstlerischer Substanz und privater Betroffenheit nicht zu unterscheiden sind. Wer auf den Medienknecht und Narzissmus-Hansel schimpft, tut es mit dem gleichen Recht wie andere, die das ehrliche Herz und das künstlerische Gespür des Mannes lieben und loben.

Es ist gerade die Ununterscheidbarkeit, die polarisiert. Das Vexierbild kippt zwischen Genie und Windmacher. Das galt für den gesunden Künstler – und es gilt auch jetzt. Schlingensief sagt über sich selbst: "Ich gieße eine soziale Plastik aus meiner Krankheit. Und ich arbeite an einem erweiterten Krankenbegriff."

Das ist so ironisch, so glänzend pointiert, dass man tatsächlich weder Lebens- noch Todeskampf heraushört, sondern Form- und Stilisierungswillen, den Willen zur Kunst eben.

"Dieses Buch ist ein leidenschaftlicher Aufruf dafür, auch in einem solchen Prozess sich seine Autonomie zu erhalten gegenüber den Ärzten, den Institutionen, mit denen man zu tun hat."

bemerkte Helmut Malchow. Nicht gesagt hat er, dass Schlingensief vom künstlerischen Ausdruck und medialer Präsenz noch abhängiger ist als von Ärzten. Schlingensief ist als Künstler hochgradig autonom – aber gleichzeitig ein Knecht dieser Autonomie, weil sie nur mit Zuschauern funktioniert.

Bezeichnend ist, dass "So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!" aus Rekorder-Protokollen entstand. Als das Karzinom auf sein Leben losging, hat sich Christoph Schlingensief das Mikrofon gegriffen, um in tiefster Not weniger zu Gott – das manchmal auch –, als vielmehr zum Publikum zu reden.

Das ist die Priester-Geste des katholischen Selfmade-Gläubigen Schlingensief: Aufstehen und das Wort ergreifen. Oder daniederliegen – und trotzdem das Wort ergreifen. Hauptsache: das Wort ergreifen… und dann sagen, dass man gar nicht im Mittelpunkt stehen möchte. Schlingensief schreibt, sein Buch sei gegen die "Sprachlosigkeit des Sterbens" gerichtet. In diesem Punkt überzeugt es. Es mag für viele sprechen, die selbst nichts herausbringen. Andere wird es schrecklich bevormunden.

Der erkrankte, aber überragend produktive Schlingensief betont mittlerweile oft die beglückende Erfahrung des Einfachen und Ungeschminkten, der Liebe und des bloßen Daseins. Gern erführe man, ob er auch im akuten Geisteszustand skandieren würde: "Tötet Helmut Kohl!" Oder ob ihn jetzt tatsächlich Dinge ergriffen haben, die noch größer sind als Kunst und Provokation.