Zwischen humorvoller Märchenwelt und drastischer Gewalt

Von Jörn Florian Fuchs |
Diesmal erwischte es einen Sekretär. Nicht einen aus Fleisch und Blut, sondern ein Möbelstück aus Mahagoni. Eben noch diente es als würdige Unterlage für die poetischen Auslassungen Tatjanas, und nun hängt es vor einer hübsch gemaserten Holztür fest.
Wenn Stefan Herheim inszeniert, dann gerät jedes technisch noch so gut ausgestattete Opernhaus an seine Grenzen. Denn bei Herheim wandeln sich die Räume oft und rasch, alles ist im Fluss, meist kommen noch aufwändige Projektionen hinzu.

Auch im "Eugen Onegin" gibt es viel Arbeit für die Bühnenmaschinerie, doch jenseits des störrischen Sekretärs ging diesmal alles glatt. Herheim versetzt Tschaikowskys stark parfümiertes Operndrama in eine Welt aus heutigem und vergangenem Russland, Einstiegs- und Endpunkt ist das Fest im Hause von Fürst Gremin, bei dem sich Tatjana und Onegin gleichsam zum ersten wie zum letzten Mal begegnen.

Wie Herheims Bayreuther Parsifal, so wird auch sein Onegin zur Zeitreise durch russische (Alp)Traumwelten. Lenski geriert sich als Revolutionär mit erhobener Kampffaust und rotem Buch, während über ihm allerdings ein (Moskau)Stern in Flammen aufgeht, der auch noch das toupierte Haar eines exaltierten Künstlers zum Lodern bringt. Mittels Spiegeln und Drehwänden verschwimmen Zeiten und Orte.

Besonders eindrücklich ist die Beziehung Onegin – Lenski gezeichnet: Beim Duell kämpfen beide gegeneinander, aber auch gegen sich selbst beziehungsweise ihre Spiegelbilder. Ausgezeichnet war die Sängerbesetzung um Bo Skovhus als Onegin sowie Krassimira Stoyanova als Tatjana. Am Pult des Concertgebouw Orchesters schuf Mariss Jansons eine vorwiegend leichte, bisweilen fast kammermusikalische Atmosphäre, ein interessanter Kontrast zu Herheims opulenten Bildern.

Nach Wolfgang Rihms eindrücklichem Nietzsche-Musiktheater "Dionysos" (koproduziert mit den Salzburger Festspielen) war dieser Onegin ein zweiter Glanzpunkt des Holland Festivals.

In die Weiten und Tiefen der russischen Seele führte auch Tristan Sharps mit seiner komplexen "Kirschgarten"-Variante "Before I Sleep". Ein hypermodernes, gerade leer stehendes Bürogebäude im Süden Amsterdams wurde von Sharps und seiner Gruppe dreamthinkspeak praktisch komplett okkupiert, in Vierergrüppchen erwandert sich das Publikum eine Theaterlandschaft mit realen Akteuren, Videoinstallationen, Skulpturen – und erlebt mal behagliche, mal beklemmende Überraschungen.

Zuallererst begrüßt einen der alte Diener aus Tschechovs "Kirschgarten", später sieht man ihn in einem Video auf grünem Rasen daher schleichen, noch später serviert er Tee. Über Treppen und mit Fahrstühlen geht es vorbei an erblühten Kirschbäumen und winterlichem Ackerland hin zu einem Möbelmarkt, in dem das überaus freundliche Personal Russisch und weitere nicht-westliche Sprachen spricht, was die Verständigung ziemlich anstrengend macht. Nur die Formel "Happy shopping!" versteht man.

Nähert man sich dann zum Beispiel der Bettenabteilung, laden einen gleich mehrere Damen zu einem Blick hinter die Kulissen ein: Nur ein paar Schritte neben günstigen Nachttischchen erwarten einen andere Räume, bevölkert mit Figuren aus dem Kirschgarten, aber es gibt dort auch eine freundliche Vogelkundlerin oder Prekariats-Gestalten, die einem ihr Leid klagen.

Auch die vielschichtige Musik von Max Richter macht "Before I Sleep" zu einer außergewöhnlichen Erfahrung, die ihresgleichen sucht.

Eine Grenzerfahrung war Massimo Furlans Performance "You can speak, you are an animal". Der Schweizer Furlan nutzt ebenfalls gerne ungewöhnliche Räume für seine Theaterträume - Furlans letzte Projekte fanden auf einem Flughafen und in einem Fußballstadion statt.

Diesmal war der Spielort ein normales Theater, in dem sich allerdings Ungeheuerliches abspielte. Schwarz gekleidete Gothic-Gestalten, ein Bär und ein geistig Derangierter treffen da aufeinander und kommunizieren auf eigenwillige Art und Weise miteinander. Alles schwankt ständig zwischen humorvoller Märchenwelt und teils drastisch gezeigter Gewalt. Eine Expedition an die Grenze von Mensch und Tier, von Zivilisation und Naturzustand, angereichert mit viel Bühnennebel und den expressiven Rhythmen der Post Punk Band Killing Joke.

Wem all das zu extrem, zu speziell war, der konnte sich bei "Fela!" erholen. Nach den Stationen New York und London dockte der vielfach preisgekrönte Musicaldampfer jetzt im Amsterdamer Theater Carré an. In der mitreißenden Choreographie von Bill T. Jones jagen Schlüsselszenen aus dem Leben Fela Kutis vorbei, Ausgangspunkt ist dessen letztes Konzert in seinem berühmten Shrine Club, das 1978 in Lagos stattfand.

Kuti gilt als Begründer des Afrobeats, außerdem war er – wie schon seine Mutter – Bürgerrechtler. Das Musical zeigt zwar auch Fela Kutis dunkle Seite, etwa seinen Hang zu Hass und Gewalt, alles in allem überwiegt aber die Kraft und Energie seiner Musik. Es dauerte nicht allzu lange und das königliche Theater Carré verwandelte sich eine Afrobeat-Disco, die einen – ob man diese Musik nun mag oder nicht – von den Stühlen riss.

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Holland Festival 2011
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