Zwischen Ramsch und Rettungsanker

Von Nicole C. Merz |
Vielleicht ist es wirklich nicht die Frage, ob es Engel gibt, sondern ob wir in der Lage sind, einen, wenn er denn kommt, zu erkennen. Spätestens seit Wim Wenders Film "Der Himmel über Berlin" sind Engel auch im säkularisierten Deutschland so real wie die Engeldarsteller Bruno Ganz und Otto Sander. Ob Engel mehr sein können als neben der Topflanze nun der Deutschen liebster Wohnzimmerschmuck, Nicole C.Merz hat unter anderen bei zwei Großmeistern der Engel-Theologie nachgefragt.
"Also Engel sind süß, Engel sind goldig, Engel haben nen Knackarsch, Engel haben ein schönes Gesicht."
"Ja, sie sehen süß aus."
"Die bunt bemalten mit den kitschigen Gesichtchen, den lieben, die kaufen hauptsächlich Frauen, manchmal in Begleitung des Mannes, der sich heftig sträubt, und es zu verhindern sucht."
"Ich schenk‘ vielleicht einen ner Freundin. Die fährt total auf Engel ab."
"Wir haben dieses Jahr auch neu hier diese Autofahrerschutzengel; ist ja nie falsch, wenn man einen dabei hat."

Krant: "Engel gehen das ganze Jahr und es gibt immer mehr Menschen, die Engel wirklich sammeln. Also ich kenn Geschichten, da sagen die mir: "Ich hab dreihundert Engel zu Hause." Und die suchen immer wieder einen andern."

Renate Krant, Regionalleiterin der Kette "Cult at Home". Schutzengel sind "IN". Mittlerweile haben sie zum Sturzflug in die Kitschregale angesetzt. Aus der Lichtgestalt "Schutzengel" ist die einträgliche Blitzlichtgestalt von Konsumtempeln geworden. Ihre Bedeutung ist zweit- bis drittrangig. Priorität hat, dass es sie überall gibt. Außerdem sind sie ein ideales Geschenk. Die Botschaft: "Du sollst beschützt sein", ist vielleicht nett, aber glaubt zumindest einer – der Schenkende oder der Beschenkte – an die Wirkkraft oder zumindest an die Existenz von Schutzengeln, oder ist die soeben erstandene Figur nur eine Alternative zur Topfpflanze vom letzten Jahr?

Krant: "Ich hab auch einen Schutzengel im Auto, ja, allerdings, und der hat auch schon gewirkt."

Zink: "Menschen haben zum Kitsch einfach ein dichteres Verhältnis. Der Kitsch gibt ihnen eher die Möglichkeit, über sich hinaus zu denken. Und wenn etwas wie der Kitsch so etwas kann, dann hab ich nichts gegen den Kitsch. Auch Kinder sind manchmal dem Kitsch viel mehr verbunden als einem strengen Stil. Und naja, ich meine es sind nicht meine Figuren, die da auf den Ladentischen stehen und manche sind schrecklich, aber im Ganzen hab ich nichts gegen den Kitsch."

Versöhnliche Worte von Jörg Zink. Der Theologe und Publizist hat früher den Kitsch bekämpft, doch mittlerweile ist er in seinen Ansichten milder geworden. Ebenfalls weder Verteufler noch Freund von Kitschengeln ist Pater Anselm Grün. Der Cellerar der Abtei Münsterschwarzach hat mehrere Bücher über Engel geschrieben, darunter "50 Engel für ein Jahr". Vor allem Kindern gegenüber macht er Zugeständnisse.

Grün: "Ich denke, Kinder brauchen durchaus kindliche Vorstellungen, aber der Engel muss auch etwas darstellen. Ich würde nie einen Engel als Tiergestalt darstellen, sondern als Mensch, als Kind oder als etwas Starkes, das mich tröstet, das mich schützt. Ich denke sonst verfälscht man die Engelvorstellung."

Welche Engeldarstellung bevorzugen die Fachmänner Zink und Grün?

Zink: "In der alten Buchmalerei sind einige Engel etwa in der Reichenauer Schule um 1000. Das sind ernsthafte Engel, großartig abgebildet. Und das ist für mein Gefühl das Beste, was es gibt."

Grün: "Ich mache mir keine Vorstellungen, wie ein Engel aussieht, sondern ich darf immer mal wieder erfahren, wenn ein Engel da ist und ich beim Autofahren das Gefühl habe, jetzt werde ich geschützt, oder ich bin nicht über das Eis geschlittert, sondern gut drüber gekommen. Das ist für mich Engelerfahrung. Aber ich sehe keine Bilder, sondern ich sehe mehr 'innere Erfahrungen' von geschützt sein, behütet sein; ja, oder wenn ich etwas schreibe, dass ein Engel mir etwas eingibt, der Engel der Inspiration, der etwas neu zu dir hinbringt."

Auch in anderen Religionen gibt es Schutzwesen. Im Deutschen Schutzengelmuseum in Bretten sind einige Schutzengel ausgestellt. Dr. Peter Bahn ist studierter Volkskundler und leitet dieses Museum.

"Schutzwesen, um einen erweiterten Begriff zu den Schutzengeln zu gebrauchen, finden sich in fast allen Religionen. Mir ist keine Religion bekannt, in der es derartige Erscheinungen nicht geben würde. Das fängt an mit den drei abrahamitischen Buchreligionen: Judentum, Christentum, Islam. Das setzt sich fort im Hinduismus, bei verschiedenen Naturreligionen und nicht zuletzt auch bei den vorchristlichen Religionen der europäischen Völker."

Engel, beziehungsweise Schutzwesen, sind eine Religionen übergreifende Gemeinsamkeit. Und es gibt – trotz aller unterschiedlichen Vorstellungen dieser Beschützer – auch Parallelen auf den ersten Blick.

Bahn: "Die äußere Erscheinung dieser Wesen ist sehr unterschiedlich wiedergegeben. Interessant ist aber zum Beispiel, dass der Garuda, ein Wesen, das sich sowohl in der hinduistischen wie auch in der buddhistischen Mythologie findet, (...) geflügelt dargestellt wird. Auch haben wir bei verschiedenen Indianerstämmen, zum Beispiel bei den Hopi im Südwesten der USA, Figuren, die Schutzwesen darstellen und die sehr oft mit Federn verziert sind."

Warum dieser Hang zum Federkleid bei schützenden Geistern?

Bahn: "Die Schutzwesen müssen nach der Überzeugung der meisten Religionen präsent sein. Sie sind zugleich Mittler zwischen Himmel und Erde. In der einfachen Vorstellung der Menschen liegt es daher nahe, dass sie auch geflügelt dargestellt werden."

Grün: "Engel sind etwas Schwebendes. Wenn man zu genau wissen will, was Engel sind, dann fliegen sie weg. Und Engel wollen auch unsere eigene Seele beflügeln, dass wir das Leben ein bisschen leichter nehmen, dass wir spüren, da ist so der Engel, der öffnet unser Leben zu Gott hin und man soll nicht nur so erdenschwer dahin leben, sondern die Ahnungen unserer Seele ernst nehmen, dass wir letztlich in Gott hineinragen."

Pater Anselm Grün zum klassischen Engelsbild mit Flügeln und Heiligenschein. Ebenso häufig werden mittlerweile Engel als Lichtgestalten dargestellt. Warum? Der Stuttgarter Theologe Jörg Zink:

"Weil wir, wenn wir uns selber ansehen, häufig in sehr dunkle Vorstellungen geraten, was wir nicht sind, was wir sein müssten, war wir nicht sein können, usw. Und dem gegenüber ist Gott das eigentliche Licht. Und wenn die Engel Gott abspiegeln sollen, dann müssen sie als Licht abgebildet werden."

Engel als Spiegel Gottes. Wie ist das zu verstehen? Und warum haben die Menschen, egal welcher Kultur und Religion sie verbunden sind, solch eine Sehnsucht nach Engeln? Nochmals Jörg Zink:

Zink: "Weil Gott zu weit entfernt ist. Weil Gott ein zu steiler Gedanke ist, als dass ein Mensch sich dem anvertrauen könnte. Der moderne Mensch weiß nicht, ob es Gott gibt oder nicht und wenn er weiß, es gibt ihn, dann fürchtet er ihn auch. Gott ist ja auch etwas Bedrohliches, etwas, was mich zur Rechenschaft zieht. Während ein Engel eine hilfreiche Kraft ist. Nur, was wir den Engeln zuschreiben, das ist der andere Aspekt von Gott. Wie uns Engel begegnen, das ist ganz offen. Ich glaube, das es da tausend Wege gibt und unzählige, verschiedene Weisen ihn zu erfahren. Nur, man muss dann wissen, dass das eigentlich nur Abbilder für Gott sind, für Gott selbst."

Grün: "Der Mensch sehnt sich danach, dass er nicht alleine ist auf dieser Erde. (...) Insofern ist das Sprechen über Engel durchaus ökumenisch, weil es alle Religionen miteinander verbindet. Wenn man über Engel spricht, dann streitet man nicht. Alle Menschen haben eine Ahnung, dass dieser große, ferne, unbegreifliche Gott etwas sendet, was für uns erfahrbar ist. Und das ist so die Sehnsucht, dass das Transzendente erfahrbar wird in unserer Welt. Dass wir nicht allein gelassen sind, nicht den Mächtigen ausgeliefert sind, sondern geschützt, behütet, begleitet sind."

Für den Verwaltungschef aus der Abtei Münsterschwarzach sind die Engel etwas Eigenständiges, das sehr nahe an Gott dran ist.

Grün: "Engel sind Boten Gottes, aber Boten, die erfahrbar sind. Die Dogmatik definiert Engel als geschaffene, geistige Wesen und personale Mächte, das heißt nicht als Personen, die man vereinzeln kann, sondern sie können auftreten als Traum, als innerer Impuls, der in meinem Herzen hoch kommt oder auch als Lichterfahrung, die ich sehen kann. Engel sind Helfer, sind Wegweiser, sind Tröster auch dort, wo wir uns einsam fühlen, damit wir spüren, wir sind nicht allein. Die Theologie sagt: Jeder Mensch bekommt mit der Geburt einen Engel mit, der ihn begleitet, auch über Umwege und Irrwege hindurch und der ihn auch trägt über die Schwelle des Todes, der ihn hineinträgt in die Arme Gottes."

Dieser Auftrag als Botschafter und Mittler wurde früher in der Kunst mit einem geometrischen Trick verdeutlicht. Peter Bahn vom Schutzengelmuseum Bretten:

"In einem Gemälde von Tizian, da sieht man den Erzengel Raphael als Schutzengel, wie er mit der einen Hand den Schutzbefohlenen Tobias hält und mit der anderen zum Himmel weist und damit zeigt, alles wirkliche Heil, aller wirkliche Schutz kommt von dort oben, kommt von Gott. Das Bild ist durch eine klare Diagonale gegliedert. Die Diagonale zwischen dem rechten Arm des Engels, der zum Himmel weist und dem linken Arm, der zur Erde gewandt ist. Der Engel erscheint hier als Mittler zwischen Himmel und Erde, zwischen dem Ewigen und dem Vergänglichen."

Engel sind also Boten, die ihre Nachrichten auf die verschiedenste Art und Weise übermitteln.

Grün: "Der steuert mein Tun, meine Intelligenz, meine Reaktion. Er bewahrt mich so, er greift ein, aber man kann das Eingreifen nicht mehr so genau wahrnehmen. Also man kann nicht genau sagen: 'Jetzt kommt da einer, der hält mich ab.'"

Zink: "Meister Eckhard sagt: 'Gott redet zu uns im Grund unserer Seele. Er redet zu uns in der Verschwiegenheit.' Und dieses Hören in der Verschwiegenheit ist die Art von Aufmerksamkeit, die wir einem Engel gegenüber brauchen. Ich hatte eine Zeit, in der ich Schutzengel dringend brauchte. Ich hab nicht recht an sie geglaubt, aber ich hab mir vorgestellt, wie das ist, als ich als Flieger im vergangenen Krieg über dem Atlantik unterwegs war. Da habe ich dann mir überlegt, wer hat dich jetzt hier herausgehauen aus dieser Situation? Wer hat dich bewahrt? Wer hat Dich geschützt? Und da kam ich natürlich auch auf Engel, aber das war mehr eine Spielerei, und heute würde ich sagen, es würde mich schon interessieren, wer der Schutzengel war, der mich mein ganzes Leben lang bewahrt hat auf meinen viele Reisen rund um die Welt. Vielleicht kann ich heute, wenn ich ihn anrede, mit ihm mal ne Runde Schach spielen, um ihn kennen zu lernen, um mit ihm zu reden, jetzt wo er nicht mehr so viel zu tun hat. Jetzt sitze ich ja meistens in meinem Schreibzimmer. Ich möchte eigentlich doch gerne wissen, wer das war. Obwohl ich mir ja im Klaren darüber bin, dass ich dazu einfach nur Gott sagen kann."

Engel sind erfahrbar in vielen Alltagssituationen. Manchmal spielen wir dabei eine zentrale Rolle – nicht nur als Wahrnehmende, sondern als Aktive. Wir selbst können für einen anderen ebenfall Engel sein.
Zink: "Wir können natürlich die Rolle von Engeln spielen. Engel heißt ja, DER BOTE, der etwas zu bringen hat, der etwas zu sagen hat, und der können wir einem anderen Menschen durchaus sein. Wir können durchaus ihm in seiner Ratlosigkeit beistehen und sagen: 'Das sage ich dir jetzt, weil ich überzeugt bin, dass das für dich richtig ist.' Und dann bringt man ihm etwas und hilft ihm aus einer gewissen Schwierigkeit heraus und spielt damit die Rolle eines Engels."

Grün: "Eine Lehrerin erzählte mir, nach einer Sitzung ging sie gedankenverloren in einen Raum und dort war ein Lehrer zusammengebrochen, ganz allein. Sie ist in diesem Augenblick für ihn zum Engel geworden. Und die Frage: Wer hat dieser Lehrerin das eingegeben, dass sie in diesen Raum gehen soll? Sie wusste es nicht mehr. Da dürfen wir vertrauen, dass es ein Engel war, der sie geschickt hat, dass sie für den Lehrer Engel wird."

Engel versteht man als Boten, als Tröster, als Helfer; etwas, das über einem steht und dem man mit einer gewissen Ehrfurcht begegnet. Einen wesentlich natürlicheren Umgang mit Engel haben jene, die am meisten Schutz und Hilfe bedürfen, die Kinder. Pater Anselm Grün:

"Für die Kinder ist der Engel oft wie ein Freund. Ein Freund, der es aushält, der mit ihm geht. Eine französische Kinderpsychologin erzählte: Wenn sie als Kind im Bett geschlafen hat, hat sie sich immer auf die rechte Seite gelegt, damit links von ihr der Engel Platz hat. Und das war für sie auch so ein Gefühl Ja, heute ist vieles schief gegangen. Ich hab mich selbst nicht aushalten können, aber der Engel, der bleibt bei mir, und der beschützt mich, und der liebt mich, also mit dem kann ich reden, dem kann ich meine Sorgen anvertrauen und der hält mich aus, der nimmt mich an, auch wenn ich mich selber nicht annehmen kann."