Zwischen Recht und Gerechtigkeit
Individuelle Schuld an offensichtlich grausamen Kriegsverbrechen nachzuweisen, schien stets das größere Problem von internationalen Strafgerichten zu sein. Aktuell beschäftigen sich zwei neue Bücher mit diesem Thema.
Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind zentrale Begriffe des Internationalen Völkerstrafrechts. Zwei aktuelle Publikationen lesen sich als Wirkungsanalyse der internationalen Strafjustiz: Die eine blickt historisch zurück und die andere schaut rechtspolitisch voraus.
Zwei junge Historiker, Kim C. Priemel von der Humboldt-Universität Berlin und Alexa Stiller von der Universität Bern, entwickeln als Herausgeber mit 23 internationalen Autoren ein differenziertes und zugleich dichtes Bild der zwölf Prozesse des Nürnberger Militär-Tribunals, kurz NMT, zwischen 1946 und 1949. Die Arbeit überzeugt mit multidisziplinären historischen Zugriffen.
Auf fast 1000 Seiten werden die Verfahren gegen Ärzte, Juristen, Diplomaten, Offiziere, Leiter sogenannter Einsatzgruppen, aber auch Repräsentanten der deutschen Wirtschaft - Krupp, Flick, Mitarbeiter der I.G. Farben u.a. - aus dem Schatten des "Hauptkriegsverbrecherprozesses" (IMT) hervorgeholt. Strafrecht ist hierbei lediglich das Medium, das dies möglich macht. Mehr nicht.
Zwei junge Historiker, Kim C. Priemel von der Humboldt-Universität Berlin und Alexa Stiller von der Universität Bern, entwickeln als Herausgeber mit 23 internationalen Autoren ein differenziertes und zugleich dichtes Bild der zwölf Prozesse des Nürnberger Militär-Tribunals, kurz NMT, zwischen 1946 und 1949. Die Arbeit überzeugt mit multidisziplinären historischen Zugriffen.
Auf fast 1000 Seiten werden die Verfahren gegen Ärzte, Juristen, Diplomaten, Offiziere, Leiter sogenannter Einsatzgruppen, aber auch Repräsentanten der deutschen Wirtschaft - Krupp, Flick, Mitarbeiter der I.G. Farben u.a. - aus dem Schatten des "Hauptkriegsverbrecherprozesses" (IMT) hervorgeholt. Strafrecht ist hierbei lediglich das Medium, das dies möglich macht. Mehr nicht.
Die Forscher legen die Strukturen des NS-Staats offen
Den Geschichtswissenschaftlern gelingt es, den NS-Staat anhand der Justizakten zu sezieren und seine Strukturen offenzulegen. Die breite Einbindung gesellschaftlicher Eliten in die Verbrechen des Nationalsozialismus wird in dem Buch evident.
Die didaktische Aufbereitung von Geschichte vor Gericht mag - wie schon Hannah Arendt anmerkte - als deplatziert gelten. Den 25 Historikern ist es hingegen gelungen, die Serie der Nürnberger Militär-Tribunale als intellektuelles Wagnis auszubreiten. Sie interpretieren den zeitgeschichtlichen Kontext, analysieren die Strafverfahren und klären über das Verhältnis von Recht und Geschichte auf.
Der Nürnberger Anklage war es nicht gelungen, den für die Kriegswirtschaft charakteristischen, allmählichen Prozess der Verschmelzung von Wirtschaft, Partei und Staat forensisch zu verdichten. Jedenfalls nicht mit den formalen Mitteln des Völkerstrafrechts und des individuellen Schuldnachweises, der im Strafrecht notwendig ist.
Historisch war es durchaus zu begründen, dass Staat und Industrie bewusst zum Schaden anderer zusammenwirkten, im Sinne des Strafrechts jedoch nicht beweisbar. Der Ankläger Telford Taylor hatte diese Annahme zu Beginn des Flick-Prozesses eher literarisch stilisiert als juristisch aufbereitet:
"Die Industriellen 'mobilisierten die Hilfsquellen des Reiches und richteten ihre gewaltigen Geistesgaben auf den einen Punkt, nämlich die Waffen und Werkzeuge der Eroberung, die den deutschen Terror verbreiteten, zu schmieden. Sie waren die Fäden in dem dunklen Todesmantel, der sich über Europa senkte'. (S. 408)
Es verwundert gleichwohl nicht, dass sich die Rechtspolitik unserer Tage bemüht, einen linearen Weg von "Nürnberg nach Den Haag", dem Sitz des Internationalen Strafgerichtshofes, weihevoll nachzuzeichnen. Letztlich ist das aber nur eine oberflächliche Genealogie.
Die didaktische Aufbereitung von Geschichte vor Gericht mag - wie schon Hannah Arendt anmerkte - als deplatziert gelten. Den 25 Historikern ist es hingegen gelungen, die Serie der Nürnberger Militär-Tribunale als intellektuelles Wagnis auszubreiten. Sie interpretieren den zeitgeschichtlichen Kontext, analysieren die Strafverfahren und klären über das Verhältnis von Recht und Geschichte auf.
Der Nürnberger Anklage war es nicht gelungen, den für die Kriegswirtschaft charakteristischen, allmählichen Prozess der Verschmelzung von Wirtschaft, Partei und Staat forensisch zu verdichten. Jedenfalls nicht mit den formalen Mitteln des Völkerstrafrechts und des individuellen Schuldnachweises, der im Strafrecht notwendig ist.
Historisch war es durchaus zu begründen, dass Staat und Industrie bewusst zum Schaden anderer zusammenwirkten, im Sinne des Strafrechts jedoch nicht beweisbar. Der Ankläger Telford Taylor hatte diese Annahme zu Beginn des Flick-Prozesses eher literarisch stilisiert als juristisch aufbereitet:
"Die Industriellen 'mobilisierten die Hilfsquellen des Reiches und richteten ihre gewaltigen Geistesgaben auf den einen Punkt, nämlich die Waffen und Werkzeuge der Eroberung, die den deutschen Terror verbreiteten, zu schmieden. Sie waren die Fäden in dem dunklen Todesmantel, der sich über Europa senkte'. (S. 408)
Es verwundert gleichwohl nicht, dass sich die Rechtspolitik unserer Tage bemüht, einen linearen Weg von "Nürnberg nach Den Haag", dem Sitz des Internationalen Strafgerichtshofes, weihevoll nachzuzeichnen. Letztlich ist das aber nur eine oberflächliche Genealogie.
Mängelprofil der internationalen Strafjustiz
Das zweite Buch, das von William A. Schabas, verdeutlicht dies. Historisches Sezieren und auf Gerechtigkeit zielendes Judizieren sind eben zwei getrennte Welten. Der international anerkannte Autor analysiert in seinem 100-Seiten-Essay die aktuelle Rolle der internationalen Strafjustiz und zeichnet ein deutliches Mängelprofil.
Auch er setzt bei den Nürnberger Tribunalen an, wirft ihnen "Siegerjustiz" vor, weil Kriegsverbrechen und Gräueltaten der Siegermächte - beispielsweise in Katyn, Hiroshima und Nagasaki - bewusst ausgeblendet wurden. Das setze sich heute am Internationalen Strafgerichtshof fort.
Erstens: Was soll er überhaupt ausrichten, der ein Jahresbudget für weltweite Strafverfolgung von nur 100 Millionen Euro hat?
Und zweitens ist es bedenklich, wenn selektiv, also nach politischen Erwägungen international strafverfolgt wird. So deckten sich die Prioritäten des Gerichtshofes mit den strategischen Interessen der USA, die ihnen missliebige Verfahren durch Resolutionen des UN-Sicherheitsrates blockierten.
"Zu Beginn seines zweiten Jahrzehnts steht der Internationale Gerichtshof an einem Scheideweg. Er kann (...) einen anderen, gefahrvollen Weg einschlagen, auf dem er Konflikte mit den wichtigen Großmächten riskiert. Dieser (...) Weg wird zugleich aber zu einer Annäherung an die Staaten der südlichen Hemisphäre und an die Menschen führen, die weltweit nach einer wirklich universellen, fairen und gerechten Justiz verlangen, bei der alle vor dem Gesetz gleich sind." (S. 103)
Auch er setzt bei den Nürnberger Tribunalen an, wirft ihnen "Siegerjustiz" vor, weil Kriegsverbrechen und Gräueltaten der Siegermächte - beispielsweise in Katyn, Hiroshima und Nagasaki - bewusst ausgeblendet wurden. Das setze sich heute am Internationalen Strafgerichtshof fort.
Erstens: Was soll er überhaupt ausrichten, der ein Jahresbudget für weltweite Strafverfolgung von nur 100 Millionen Euro hat?
Und zweitens ist es bedenklich, wenn selektiv, also nach politischen Erwägungen international strafverfolgt wird. So deckten sich die Prioritäten des Gerichtshofes mit den strategischen Interessen der USA, die ihnen missliebige Verfahren durch Resolutionen des UN-Sicherheitsrates blockierten.
"Zu Beginn seines zweiten Jahrzehnts steht der Internationale Gerichtshof an einem Scheideweg. Er kann (...) einen anderen, gefahrvollen Weg einschlagen, auf dem er Konflikte mit den wichtigen Großmächten riskiert. Dieser (...) Weg wird zugleich aber zu einer Annäherung an die Staaten der südlichen Hemisphäre und an die Menschen führen, die weltweit nach einer wirklich universellen, fairen und gerechten Justiz verlangen, bei der alle vor dem Gesetz gleich sind." (S. 103)
Die Zukunft des Internationalen Gerichtshofs
"Gerechtigkeit für alle" ist die reale und aktuelle Herausforderung für den Haager Gerichtshof. Dessen weltweite Zuständigkeit gilt es zu sichern, so wie es der Autor William Schabas, aber auch Jonathan O’Donohue, der australische Rechtsberater von Amnesty International, fordert.
Derzeit gibt es zwar 120 Unterzeichnerstaaten, Verpflichtungen erfüllen aber nur wenige. Dazu müssten sie aber gezwungen sein. Nur wenn das Weltstrafgericht zu einer juristischen Institution höchsten Ranges ausgebaut werde - rechtlich, organisatorisch und finanziell, nur dadurch könnten Parteilichkeit und Selektivität der Strafverfolgung reduziert werden.
Es wäre wünschenswert, wenn Impulse gegen das Recht des Stärkeren auch aus den Vereinigten Staaten von Amerika kämen. Dies ist das Land, das einst als globaler Hüter rechtsstaatlicher Grundsätze die Nürnberger Militär-Tribunale als Begegnungs- und Aushandlungsort von Recht und Geschichte, Politik und Moral hat wirksam werden lassen.
Derzeit gibt es zwar 120 Unterzeichnerstaaten, Verpflichtungen erfüllen aber nur wenige. Dazu müssten sie aber gezwungen sein. Nur wenn das Weltstrafgericht zu einer juristischen Institution höchsten Ranges ausgebaut werde - rechtlich, organisatorisch und finanziell, nur dadurch könnten Parteilichkeit und Selektivität der Strafverfolgung reduziert werden.
Es wäre wünschenswert, wenn Impulse gegen das Recht des Stärkeren auch aus den Vereinigten Staaten von Amerika kämen. Dies ist das Land, das einst als globaler Hüter rechtsstaatlicher Grundsätze die Nürnberger Militär-Tribunale als Begegnungs- und Aushandlungsort von Recht und Geschichte, Politik und Moral hat wirksam werden lassen.
William A. Schabas:Kein Frieden ohne Gerechtigkeit? Die Rolle der internationalen Strafjustiz
Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
Hamburger Edition, Hamburg 2013
104 Seiten, 12 Euro
Aus dem Englischen von Edith Nerke und Jürgen Bauer
Hamburger Edition, Hamburg 2013
104 Seiten, 12 Euro
Kim C. Priemel und Alexa Stiller (Hg): NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtsschöpfung
Hamburger Edition, Hamburg 2013
928 Seiten, 49 Euro
Hamburger Edition, Hamburg 2013
928 Seiten, 49 Euro