Zwischen Rohheit und Poesie
In seinem Buch "Galizische Geschichten" erzählt der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk von gebrochenen Existenzen im südpolnischen Galizien. Für den tschechischen Schriftsteller Jaroslav Rudis ist das Schöne an Stasiuks Buch "eine Mischung von Poesie und einer gewissen Rohheit".
Jürgen König: Und im Rahmen dieser Reihe ist jetzt der tschechische Germanist, Journalist und Schriftsteller Jaroslav Rudis am Telefon. Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch sein sehr schöner Roman "Grand Hotel", der wurde und wird in Tschechien sowieso, aber auch bei uns viel gelesen. Herr Rudis, guten Tag, schön, dass Sie Zeit für uns haben!
Jaroslav Rudis: Guten Tag, hallo!
König: Für unseren "Kanon der europäischen Literatur" haben Sie ein Buch des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk vorgeschlagen, "Galizische Geschichten", Geschichten aus Südpolen also, die von wem erzählen?
Rudis: Tja, über Mitteleuropa, nicht nur über Galizien, und ich würde sagen, die Charaktere, die Stasiuk beschreibt, das sind Zuwanderer, das sind Leute, die von irgendwo weggenommen oder vielleicht auch weggetrieben wurden und plötzlich in dieser Gegend nah an der polnisch-slowakischen Grenze gelandet sind und versuchen da zu leben, versuchen sich auch mit dieser Gegend, mit dieser ziemlich rohen Gegend irgendwie klarzumachen.
König: Galizien ist eine Berglandschaft, ein Industriegebiet, ziemlich zerschunden, und die Menschen, die dort leben, kann man sagen, sind so ein bisschen die Verlierer der Modernisierung Polens?
Rudis: So beschreibt das auf jeden Fall Stasiuk. Ich weiß nicht, wie weit wir ihm naiv trauen können, aber ich würde sagen schon, weil der sagt selber: Ich kann einfach die Welt gut beschreiben, ich kann das beschreiben, was sonst verschwinden würde, das ist so meine Aufgabe. Und wenn das so ist, dann muss das auch so sein bei ihm.
König: Um einen Eindruck davon zu vermitteln, lassen Sie uns doch einen Ausschnitt aus diesem Buch hören, nämlich den Anfang der ersten Geschichte – sie heißt "Jusek".
"Knapp über 40, ein schlaues Fuchsgesicht und der Körper ausgedörrt. Der letzte Traktorist der LPG. Und der Traktor ist auch der letzte, neue wird es nicht mehr geben. Nie mehr. Aber dieses Wort kennt Jusek nicht. Es gehört in den Bereich der Fantasie. Und wie von jeher versucht er in der stillstehenden Zeit, dem eisernen Leichnam etwas Leben einzuhauchen. Denn sein Traktor läuft nur, weil Jusek weiß, bei wem er was abschrauben kann. Wozu zum Geier braucht der einen Dynamo, wenn er sowieso nicht fahren kann?, brummt er in der ägyptischen Finsternis und hantiert mit dem 19er-Schlüssel, geschickt wie ein Chinese mit Stäbchen. Gleich wird er seinen Schrott einbauen, die rausgedrehten Schrauben mit Dreck beschmieren, und keiner wird was merken.
In der Landschaft dieser untergehenden Welt, zwischen den Überresten von Maschinen und reglosen Getrieben, zwischen der verrosteten Sähmaschine und der stillen, kalten Schmiede hat seine Gestalt ihre Beweglichkeit bewahrt. Er ist Anfang 40, aber schon alt. Er erinnert sich an die Zeit des Paradieses. Mensch, damals hast du Zement gebracht, Wolle weggefahren und dann wieder Mist geholt, dann Erdöl. Die Kunden haben sich darum gerissen. Einem Privathändler hat man höchstens einen Tritt gegeben, aber keinen Sack Zement. Hier war keiner gut im Rechnen."
König: Ein Ausschnitt aus dem Erzählband "Galizische Geschichten" von Andrzej Stasiuk, ein Buch, das Jaroslav Rudis für unseren "Kanon europäischer Literatur" vorschlägt. Herr Rudis, in einem früheren Buch spricht Andrzej Stasiuk von einer "Legion von Enterbten, die von den beschwerlichen Geboten der Moral, der Religion und Erinnerung frei sind". Das trifft auch auf das Personal dieser "Galizischen Geschichten" zu?
Rudis: Ich würde sagen ja und nicht nur eigentlich für die Leute, für die letzten Traktoristen von einem letzten LPG in Galizien. Für mich war es ein Buch auch über zum Beispiel das Sudetenland hier, für diese früher deutschsprachige Gegend an der tschechisch-deutschen Grenze oder jetzt tschechisch-polnische Grenze. Auch das ist so eine Landschaft, wo sich nach dem Krieg alles geändert hat, und die Alten, die da früher gelebt haben, hier Deutsche, dann zum Beispiel in Galizien die Juden mussten gehen oder sind halt verstorben, und es kamen andere. Es kamen Zuwanderer, die wirklich sich versuchen, mit dem Ort klarzufinden. Und Stasiuk beobachtet sie und versucht mit sehr viel Härte und sehr viel auch Poesie die zu beschreiben. Also das ist das Schöne an dem Buch, also ist eine Mischung von der Poesie und einer gewissen Rohheit. Und ...
König: Was macht für ihn die Größe seiner Helden aus?
Rudis: Das sind so Menschen, die in einer gewissen Unsicherheit so schweben, und die einzige Sicherheit, die sie haben, der einzige Anker, das ist die Kirche, die die besuchen immer sonntags, und dann ist das die Kneipe, wo sie für drei Tage im Monat immer verschwinden, um zu vergessen. Und Stasiuk schreibt hier: Die Welt bleibt stehen, also wenn diese Männer da untertauchen. Und er besucht die zu Hause, der trifft die in einem Autobus – das ist zum Beispiel meine Lieblingsfigur, ein Typ, der heißt Lewansky und der reist mit einem Bus. Und Stasiuk schreibt dort: Der letzte Bus ist immer besoffen. Die Männer kreisen zwischen den Stühlen wie so Kugeln auf so Billardtisch und fallen auf die leeren Sitze und plaudern mit den Frauen und auch mit den Schatten.
Und diese Schatten, also das Gespenstische, das ist auch so eine Welt, die total spannend in diesem Buch ist. Also hier mischt sich ein großer Beobachter, großer Erzähler mit Bohumil Hrabal, mit einem tschechischen Autor. Ich weiß es, dass Stasiuk ihn sehr auch schätzt und liebt. Er ist in Polen übrigens nicht der Einzige, Pawel Huelle hat sogar ein Buch Bohumil Hrabal gewidmet, "Mercedes Benz", das ist auch auf Deutsch erschienen. Und hier mischt sich also Stasiuk mit Hrabal und mit Márquez, würde ich sagen, aber mit einem sehr brutalen Márquez, weil ein paar Seiten früher gehen wir in eine Kneipe, und dann sehen wir, wie ein anderer Typ, ein Mann einfach richtig hart, knallhart abgeknallt wird.
König: Gabriel García Márquez meinen Sie, den Autor von zum Beispiel "100 Jahre Einsamkeit"?
Rudis: Ja, es ist mir so eingefallen, obwohl natürlich ist es ein polnischer …, es wäre so eine polnische Variante. Und eine so gewisse Brutalität hat mich an dem Buch fasziniert, als ich das 2001 gelesen habe. Es war übrigens in der Zeit, als wir mit Jaromir 99, das ist ein tschechischer Comiczeichner, da haben wir auf einem Comicband gearbeitet über Alois Nebel, über einen Eisenbahner aus dem Sudetenland, und der sieht eigentlich ähnlich wie ab und zu Stasiuks Bilder auch diese Schatten, diese Geister, diese Gespenster – nicht von Galizien, aber eben vom Sudetenland.
Und vielleicht ist das einfach etwas, was zu Mitteleuropa gehört, dass wir nicht nur mehr mit uns hier was zu tun haben, eben auch mit diesen Schatten, egal, was das eigentlich ist, ob das reale Geister oder so was ist oder eben so Schatten von der Vergangenheit, von den Kriegen, von den Triebungen, vom Holocaust, da kann man alles Mögliche da reinsetzen.
König: Da haben Sie meine nächste Frage schon beantwortet. Ich wollte Sie nämlich fragen, was diese Geschichten von Andrzej Stasiuk aus dem Regionalen heraushebt und in einen europäischen Kontext stellt. Ist das nur ein mitteleuropäischer Kontext, wie Sie ihn eben geschildert haben, oder wäre das auch ein westeuropäischer Kontext, in dem diese Geschichten irgendwie auch hineinpassen?
Rudis: Das ist natürlich interessant. Stasiuk sagt immer, er beschreibt sein Europa, und sein Europa, das ist eigentlich nicht Deutschland oder Frankreich, da reist er nicht so oft, sein Europa ist Polen, Slowakei, Ukraine und Ungarn und vielleicht auch Rumänien, das ist sein Mitteleuropa, und das ist die Welt, die er beschreibt. Aber ich meine, dieses Buch war sehr erfolgreich, nicht nur in Tschechien oder in Polen, aber eben auch in Deutschland. Ich meine, da gibt es sicher was, was auch den Lesern in Deutschland oder Frankreich was anbieten kann, weil es sind einfach sehr schöne, rührende, knapp geschriebene Geschichten.
Ich muss auch sagen, das Buch, das Schöne an dem Buch ist, der hat auf Tschechisch knapp 100 Seiten, man kann das innerhalb von ein paar Stunden einfach lesen. Von der ersten Zeile ist man irgendwie mitgerissen und steigt halt in diesen besoffenen Bus rein und ist am Ende irgendwo an einer verlorenen Bushaltestelle wieder aus dem Bus raus ...
König: Ich sehe schon, der besoffene Bus hat Sie schon sehr fasziniert.
Rudis: Nein, das ist wirklich eine tolle Stelle, aber nicht die einzige. Also zum Beispiel eine sehr schöne Stelle im Roman ist auch eine Suche nach einer Kirche im Wald, die verschwunden ist, und der Beobachter versucht, die irgendwie da neu zu bauen oder stellt sich vor, wie die Kirche eigentlich in dem Wald erstanden ist oder gebaut wurde, und stellt sich auch die Menschen, die da früher gelebt haben – das ist einfach auch sehr, sehr stark.
König: In Ihrem Roman, in Ihrem letzten Roman "Grand Hotel", Herr Rudis, beschreiben Sie auch – nicht nur, aber auch – Menschen, die ein bisschen verrückt sind, die auch mal besoffen sind, die auf der Suche sind. Ist das so eine ähnliche Erzähltradition, gibt es vielleicht unmittelbare Einflüsse von Andrzej Stasiuk auf das Schreiben von Jaroslav Rudis?
Rudis: Ja, das ist ... ich weiß nicht. Das kann ich natürlich, ich persönlich nicht sagen, ich kann nur sagen, dass ich die polnische Literatur, nicht nur Stasiuk, aber auch Pawel Huelle oder Olga Tokarczuk sehr gerne lese und dass ich in der polnischen Literatur das finde, was ich in der tschechischen vielleicht nicht finde, und das ist dieser Versuch auch, tief in die Geschichte zurückzugehen. Ich meine, das hat zum Beispiel Bohumil Hrabal in dem Roman "Ich habe den englischen König bedient" auch getan, und eben Stasiuk macht das in seinen Geschichten wie " Die Welt hinter Dukla" oder eben in den "Galizischen Geschichten".
König: Große europäische Literatur, die "Galizischen Geschichten" des Polen Andrzej Stasiuk, hier porträtiert vom tschechischen Kollegen Jaroslav Rudis. Das Buch "Galizische Geschichten" von Andrzej Stasiuk ist bei Suhrkamp erschienen, von Jaroslav Rudis erschien zuletzt der Roman "Grand Hotel" auf Deutsch, der neue Roman, "Die Stille" soll er heißen, er wird im kommenden Frühjahr herauskommen, wiederum dann im Luchterhand-Verlag. Herr Rudis, ich danke Ihnen!
Rudis: Danke auch, tschüss!
Jaroslav Rudis: Guten Tag, hallo!
König: Für unseren "Kanon der europäischen Literatur" haben Sie ein Buch des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk vorgeschlagen, "Galizische Geschichten", Geschichten aus Südpolen also, die von wem erzählen?
Rudis: Tja, über Mitteleuropa, nicht nur über Galizien, und ich würde sagen, die Charaktere, die Stasiuk beschreibt, das sind Zuwanderer, das sind Leute, die von irgendwo weggenommen oder vielleicht auch weggetrieben wurden und plötzlich in dieser Gegend nah an der polnisch-slowakischen Grenze gelandet sind und versuchen da zu leben, versuchen sich auch mit dieser Gegend, mit dieser ziemlich rohen Gegend irgendwie klarzumachen.
König: Galizien ist eine Berglandschaft, ein Industriegebiet, ziemlich zerschunden, und die Menschen, die dort leben, kann man sagen, sind so ein bisschen die Verlierer der Modernisierung Polens?
Rudis: So beschreibt das auf jeden Fall Stasiuk. Ich weiß nicht, wie weit wir ihm naiv trauen können, aber ich würde sagen schon, weil der sagt selber: Ich kann einfach die Welt gut beschreiben, ich kann das beschreiben, was sonst verschwinden würde, das ist so meine Aufgabe. Und wenn das so ist, dann muss das auch so sein bei ihm.
König: Um einen Eindruck davon zu vermitteln, lassen Sie uns doch einen Ausschnitt aus diesem Buch hören, nämlich den Anfang der ersten Geschichte – sie heißt "Jusek".
"Knapp über 40, ein schlaues Fuchsgesicht und der Körper ausgedörrt. Der letzte Traktorist der LPG. Und der Traktor ist auch der letzte, neue wird es nicht mehr geben. Nie mehr. Aber dieses Wort kennt Jusek nicht. Es gehört in den Bereich der Fantasie. Und wie von jeher versucht er in der stillstehenden Zeit, dem eisernen Leichnam etwas Leben einzuhauchen. Denn sein Traktor läuft nur, weil Jusek weiß, bei wem er was abschrauben kann. Wozu zum Geier braucht der einen Dynamo, wenn er sowieso nicht fahren kann?, brummt er in der ägyptischen Finsternis und hantiert mit dem 19er-Schlüssel, geschickt wie ein Chinese mit Stäbchen. Gleich wird er seinen Schrott einbauen, die rausgedrehten Schrauben mit Dreck beschmieren, und keiner wird was merken.
In der Landschaft dieser untergehenden Welt, zwischen den Überresten von Maschinen und reglosen Getrieben, zwischen der verrosteten Sähmaschine und der stillen, kalten Schmiede hat seine Gestalt ihre Beweglichkeit bewahrt. Er ist Anfang 40, aber schon alt. Er erinnert sich an die Zeit des Paradieses. Mensch, damals hast du Zement gebracht, Wolle weggefahren und dann wieder Mist geholt, dann Erdöl. Die Kunden haben sich darum gerissen. Einem Privathändler hat man höchstens einen Tritt gegeben, aber keinen Sack Zement. Hier war keiner gut im Rechnen."
König: Ein Ausschnitt aus dem Erzählband "Galizische Geschichten" von Andrzej Stasiuk, ein Buch, das Jaroslav Rudis für unseren "Kanon europäischer Literatur" vorschlägt. Herr Rudis, in einem früheren Buch spricht Andrzej Stasiuk von einer "Legion von Enterbten, die von den beschwerlichen Geboten der Moral, der Religion und Erinnerung frei sind". Das trifft auch auf das Personal dieser "Galizischen Geschichten" zu?
Rudis: Ich würde sagen ja und nicht nur eigentlich für die Leute, für die letzten Traktoristen von einem letzten LPG in Galizien. Für mich war es ein Buch auch über zum Beispiel das Sudetenland hier, für diese früher deutschsprachige Gegend an der tschechisch-deutschen Grenze oder jetzt tschechisch-polnische Grenze. Auch das ist so eine Landschaft, wo sich nach dem Krieg alles geändert hat, und die Alten, die da früher gelebt haben, hier Deutsche, dann zum Beispiel in Galizien die Juden mussten gehen oder sind halt verstorben, und es kamen andere. Es kamen Zuwanderer, die wirklich sich versuchen, mit dem Ort klarzufinden. Und Stasiuk beobachtet sie und versucht mit sehr viel Härte und sehr viel auch Poesie die zu beschreiben. Also das ist das Schöne an dem Buch, also ist eine Mischung von der Poesie und einer gewissen Rohheit. Und ...
König: Was macht für ihn die Größe seiner Helden aus?
Rudis: Das sind so Menschen, die in einer gewissen Unsicherheit so schweben, und die einzige Sicherheit, die sie haben, der einzige Anker, das ist die Kirche, die die besuchen immer sonntags, und dann ist das die Kneipe, wo sie für drei Tage im Monat immer verschwinden, um zu vergessen. Und Stasiuk schreibt hier: Die Welt bleibt stehen, also wenn diese Männer da untertauchen. Und er besucht die zu Hause, der trifft die in einem Autobus – das ist zum Beispiel meine Lieblingsfigur, ein Typ, der heißt Lewansky und der reist mit einem Bus. Und Stasiuk schreibt dort: Der letzte Bus ist immer besoffen. Die Männer kreisen zwischen den Stühlen wie so Kugeln auf so Billardtisch und fallen auf die leeren Sitze und plaudern mit den Frauen und auch mit den Schatten.
Und diese Schatten, also das Gespenstische, das ist auch so eine Welt, die total spannend in diesem Buch ist. Also hier mischt sich ein großer Beobachter, großer Erzähler mit Bohumil Hrabal, mit einem tschechischen Autor. Ich weiß es, dass Stasiuk ihn sehr auch schätzt und liebt. Er ist in Polen übrigens nicht der Einzige, Pawel Huelle hat sogar ein Buch Bohumil Hrabal gewidmet, "Mercedes Benz", das ist auch auf Deutsch erschienen. Und hier mischt sich also Stasiuk mit Hrabal und mit Márquez, würde ich sagen, aber mit einem sehr brutalen Márquez, weil ein paar Seiten früher gehen wir in eine Kneipe, und dann sehen wir, wie ein anderer Typ, ein Mann einfach richtig hart, knallhart abgeknallt wird.
König: Gabriel García Márquez meinen Sie, den Autor von zum Beispiel "100 Jahre Einsamkeit"?
Rudis: Ja, es ist mir so eingefallen, obwohl natürlich ist es ein polnischer …, es wäre so eine polnische Variante. Und eine so gewisse Brutalität hat mich an dem Buch fasziniert, als ich das 2001 gelesen habe. Es war übrigens in der Zeit, als wir mit Jaromir 99, das ist ein tschechischer Comiczeichner, da haben wir auf einem Comicband gearbeitet über Alois Nebel, über einen Eisenbahner aus dem Sudetenland, und der sieht eigentlich ähnlich wie ab und zu Stasiuks Bilder auch diese Schatten, diese Geister, diese Gespenster – nicht von Galizien, aber eben vom Sudetenland.
Und vielleicht ist das einfach etwas, was zu Mitteleuropa gehört, dass wir nicht nur mehr mit uns hier was zu tun haben, eben auch mit diesen Schatten, egal, was das eigentlich ist, ob das reale Geister oder so was ist oder eben so Schatten von der Vergangenheit, von den Kriegen, von den Triebungen, vom Holocaust, da kann man alles Mögliche da reinsetzen.
König: Da haben Sie meine nächste Frage schon beantwortet. Ich wollte Sie nämlich fragen, was diese Geschichten von Andrzej Stasiuk aus dem Regionalen heraushebt und in einen europäischen Kontext stellt. Ist das nur ein mitteleuropäischer Kontext, wie Sie ihn eben geschildert haben, oder wäre das auch ein westeuropäischer Kontext, in dem diese Geschichten irgendwie auch hineinpassen?
Rudis: Das ist natürlich interessant. Stasiuk sagt immer, er beschreibt sein Europa, und sein Europa, das ist eigentlich nicht Deutschland oder Frankreich, da reist er nicht so oft, sein Europa ist Polen, Slowakei, Ukraine und Ungarn und vielleicht auch Rumänien, das ist sein Mitteleuropa, und das ist die Welt, die er beschreibt. Aber ich meine, dieses Buch war sehr erfolgreich, nicht nur in Tschechien oder in Polen, aber eben auch in Deutschland. Ich meine, da gibt es sicher was, was auch den Lesern in Deutschland oder Frankreich was anbieten kann, weil es sind einfach sehr schöne, rührende, knapp geschriebene Geschichten.
Ich muss auch sagen, das Buch, das Schöne an dem Buch ist, der hat auf Tschechisch knapp 100 Seiten, man kann das innerhalb von ein paar Stunden einfach lesen. Von der ersten Zeile ist man irgendwie mitgerissen und steigt halt in diesen besoffenen Bus rein und ist am Ende irgendwo an einer verlorenen Bushaltestelle wieder aus dem Bus raus ...
König: Ich sehe schon, der besoffene Bus hat Sie schon sehr fasziniert.
Rudis: Nein, das ist wirklich eine tolle Stelle, aber nicht die einzige. Also zum Beispiel eine sehr schöne Stelle im Roman ist auch eine Suche nach einer Kirche im Wald, die verschwunden ist, und der Beobachter versucht, die irgendwie da neu zu bauen oder stellt sich vor, wie die Kirche eigentlich in dem Wald erstanden ist oder gebaut wurde, und stellt sich auch die Menschen, die da früher gelebt haben – das ist einfach auch sehr, sehr stark.
König: In Ihrem Roman, in Ihrem letzten Roman "Grand Hotel", Herr Rudis, beschreiben Sie auch – nicht nur, aber auch – Menschen, die ein bisschen verrückt sind, die auch mal besoffen sind, die auf der Suche sind. Ist das so eine ähnliche Erzähltradition, gibt es vielleicht unmittelbare Einflüsse von Andrzej Stasiuk auf das Schreiben von Jaroslav Rudis?
Rudis: Ja, das ist ... ich weiß nicht. Das kann ich natürlich, ich persönlich nicht sagen, ich kann nur sagen, dass ich die polnische Literatur, nicht nur Stasiuk, aber auch Pawel Huelle oder Olga Tokarczuk sehr gerne lese und dass ich in der polnischen Literatur das finde, was ich in der tschechischen vielleicht nicht finde, und das ist dieser Versuch auch, tief in die Geschichte zurückzugehen. Ich meine, das hat zum Beispiel Bohumil Hrabal in dem Roman "Ich habe den englischen König bedient" auch getan, und eben Stasiuk macht das in seinen Geschichten wie " Die Welt hinter Dukla" oder eben in den "Galizischen Geschichten".
König: Große europäische Literatur, die "Galizischen Geschichten" des Polen Andrzej Stasiuk, hier porträtiert vom tschechischen Kollegen Jaroslav Rudis. Das Buch "Galizische Geschichten" von Andrzej Stasiuk ist bei Suhrkamp erschienen, von Jaroslav Rudis erschien zuletzt der Roman "Grand Hotel" auf Deutsch, der neue Roman, "Die Stille" soll er heißen, er wird im kommenden Frühjahr herauskommen, wiederum dann im Luchterhand-Verlag. Herr Rudis, ich danke Ihnen!
Rudis: Danke auch, tschüss!