Zwischen Tauben und Touristen
Rund 20 Millionen Besucher strömen jedes Jahr in die verwinkelten Gassen und Kanäle Venedigs, die für einen solchen Ansturm an Menschen nie gemacht wurden. Die Stadt verdient gut an den Touristen. Für die 60.000 Venezianer ist der Alltag mit ihnen allerdings nicht immer leicht. Zwar gibt es in der Stadt ohne Autos keinen Verkehrsstau traditioneller Art – dafür bleiben die Fußgänger im Gedränge zwischen Markusplatz und Rialtobrücke allzu oft stecken.
Um dem zu entgehen, schlagen Einheimische auf ihren Wegen schon mal Haken. Wenn sie sich bei den hohen Mieten eine Wohnung in Venedig überhaupt noch leisten können.
Der Markusplatz, das frühere Zentrum der venezianischen Macht. Als Venedig noch ein eigener Staat war: die freie und stolze "Serenissima", Seerepublik mit weltweiten Handelsbeziehungen, residierte hier der Doge als Herrscher in angemessener Pracht. 175 Meter lang und bis zu 82 breit ist er, dieser "Platz der Plätze".
Der Markusplatz um zehn Uhr morgens. Hier tummelt sich die ganze Welt: spanische Jugendliche mit Rucksäcken, Russen in kurzen Hosen, Chinesen, Südamerikaner, eine amerikanische Reisegruppe. Die Besucherschlange vor dem Dogenpalast ist lang.
Langsam und nur im Gänsemarsch geht es vorwärts. Auf einer nicht genutzten Absperrung sitzt eine blonde Frau von Mitte 50. Sie lässt die Beine baumeln und blättert in ihrem deutschsprachigen Reiseführer.
"Wir haben diese Reise von unseren Kindern bekommen und ich finde das schön, dass wir zu dieser Jahreszeit hier sind, trotzdem ist es mir fast schon zu voll. Im Sommer würde ich ums Verrecken nicht her wollen. Diese Fülle von Menschen ist mir jetzt schon zu viel. Aber verstehen kann ich`s auch, weil das Kulturerbe eben so groß ist und daher kann man jeden verstehen, der sagt: man muss es mal gesehen haben. Und was die Zukunft anbelangt: ich weiß nicht, wie man das steuern will."
Mareike Fünderer legt den Kopf in den Nacken und betrachtet die Fassade der Basilika. Säulen aus Marmor und Alabaster wachsen in den Himmel.
"Ich bin das Zweite Mal hier und ich bin ein Typ, der immer was Schönes und Positives findet. Aber es ist eine Abzocke ohne Ende. 1,50 für die Toiletten, 8,50 kostet der Cappuccino! Das ist doch nicht mehr normal. Was ich gut finde hier, dass ein Unterschied zwischen Touristen und Einheimischen gemacht wird. Aber man muss die Touristen nicht so melken, wie es hier passiert. Das ist einfach zu viel."
12 Uhr, Zeit für einen Aperitif. Nach venezianischer Sitte nimmt man jetzt einen "Ombra", ein Glas einfachen Landwein zu sich. Bloß wo? Die verchromten Caféhausstühle gegenüber vom Glockenturm glänzen in der Sonne, sie laden müde Besucher zu einer Pause ein. Sich hier nieder zu lassen, ist verführerisch - und sehr teuer.
An den Tischen sitzen Japaner, Amerikaner und Russen.
Die Empfangshalle im "Saturnio International", einem traditionsreichen Vier-Sterne-Hotel in Familienbesitz. Ein historischer Palazzo und früherer Adelssitz. Dunkles Holz, gedämpftes Licht, gediegene Einrichtung. Zwei Männer und eine Frau stehen hinter der Empfangstheke, wickeln das ein- und auschecken ab und stehen bereit, um auf Fragen und Wünsche der Gäste einzugehen.
Ein Japaner in Freizeitkleidung erkundigt sich nach dem Weg zu einer Sehenswürdigkeit, ein amerikanisches Ehepaar möchte einen Konzertabend reservieren. Im Nebenraum, an einem schweren Schreibtisch, sitzt Gianni Serandrei. Anfang 40, schlank, kurz rasiertes Haar. Er ist einer der drei Söhne des Hotelbesitzers und zuständig für die Einrichtung und den Stil des Hauses.
Hotelier: "Unser Hotel wurde im Jahr 1908 eröffnet und ist in der Folgezeit immer wieder renoviert und umgebaut worden. Die Möbel sind antik, vorwiegend 18. und 19. Jahrhundert. Ich persönlich mag die typisch venezianischen Möbel des 17. Jahrhunderts nicht so sehr. Die Kronleuchter sind natürlich aus Murano-Glas, wir sind hier schließlich in Venedig."
Gianni Serandrei lacht, obwohl er derzeit eigentlich nicht viel zu lachen hat. Die Umsätze sind seit Beginn der Wirtschaftskrise im Sommer 2008 zurückgegangen, auch die Venezianer bekommen die weltweite Wirtschaftskrise zu spüren. Nicht dass weniger Besucher in die Stadt strömten, sie geben nur weniger Geld aus und das ist schlecht fürs Geschäft.
"Venedig macht eine schwierige Zeit durch. Als der Tourismus noch boomte, haben viele neue Hotels und Pensionen eröffnet und die Bettenzahl hat sich sogar verdoppelt. Aber diese schwierige Situation, in der wir uns jetzt befinden, kann auch dazu beitragen, die Spreu vom Weizen zu trennen, die Professionalität in der Branche zu erhöhen und zu verhindern, dass die Besucher schlecht empfangen werden. Denn die Masse an Touristen in den vergangenen Jahren hat ja auch dafür gesorgt, dass viele sich nicht besonders angestrengt haben, weil ja eh genug Leute kamen und immer neue."
Francesca Bortolotto Possati stammt aus einer alten venezianischen Familie. Sie wanderte vor vielen Jahren mit ihrem Mann in die USA aus, arbeitete dort erfolgreich als Innenarchitektin mit einem besonderen Faible für Stoffe. Nach ihrer Scheidung kehrte sie nach Venedig zurück und übernahm die Leitung der Hotelgruppe, die ihr Großvater aufgebaut hatte. In Venedig ist sie die einzige Frau in einer solchen Position. Ihre Ansichten sind in der öffentlichen Diskussion gefragt, auch wenn sie unbequeme Wahrheiten ausspricht.
Francesca Bortolotto Possati: "Quantität ist das Gegenteil von Qualität, das ist bekannt. Natürlich kann Venedig nicht seine Tore verschließen vor der Welt, aber es braucht eine Strategie und gewisse Limits, weil Venedig so kostbar ist und sein Zauber nicht verschlissen werden darf durch Leute, die seinen wahren Wert nicht erkennen, gar nicht mehr erkennen können."
Darin ist sich die Hotelchefin einig mit einem Mann, der auf die Hotelbranche gar nicht gut zu sprechen ist. Marco Vidal ist Präsident des "Vereins junger Venezianer". Ein großer, kräftiger Mann mit Bart, 30 Jahre alt.
Marco Vidal: "Den Verein haben wir 2003 gegründet. Wir, das ist eine Gruppe aus Freunden, die sich für Venedig engagieren will und versucht, die Menschen für die Probleme der jungen Einwohner zu sensibilisieren. Wir haben festgestellt, dass die Möglichkeiten, sich in Venedig eine Zukunft aufzubauen, immer mehr schwinden."
Marco zeigt auf ein Geschäft mit bunter Auslage. Glasperlen, Modeschmuck, Masken.
Marco Vidal: "Hier war früher ein Friseur, aber der hat inzwischen geschlossen und dabei sind wir hier nicht einmal in einer der touristischsten Gegenden von Venedig. Der Einzelhandel wurde vor zehn Jahren liberalisiert, seitdem sind viele alteingesessene Geschäfte wie beispielsweise Schuster und Metzgereien zugunsten von Souvenirshops verschwunden. Der Stadtrat hätte diese Entwicklung natürlich durch bestimmte Auflagen bremsen könne, aber das hat er nicht getan."
Die Folge: Die Venezianer erledigen ihren wöchentlichen Lebensmittel-Großeinkauf inzwischen größtenteils auf dem Festland und Besucher, die sich für mundgeblasenes Muranoglas und venezianisches Kunsthandwerk interessieren, tun sich schwer, neben dem Plastikramsch, der überall angeboten wird, noch die Artikel zu finden, für die Venedig eigentlich berühmt ist.
Verkäufer: "Wir verkaufen die typischen venezianischen Souvenirs: Gondeln, Schlüsselanhänger, Püppchen, Masken aus reiner Handarbeit. Die hier kosten fünf Euro, diese 15. Und die hier mit den Federn dran, die werden besonders gern gekauft."
Handarbeit? Die Masken sehen alle gleich aus. Wie aus ein und derselben Fabrik in Osteuropa oder Asien.
Verkäufer: "Diese Maske ist hier gemacht! Die meisten sind hier gemacht. Fragen Sie meinen Chef."
Das Thema ist dem Verkäufer unangenehm. Er verschränkt die Arme vor der Brust und ist zu keinen weiteren Auskünften über die Masken bereit.
Giuseppe: "Die letzte Metzgerei, die wir hier noch hatten, hat vor zwei Jahren geschlossen. Der Metzger verkauft jetzt auch diesen Touristenkitsch, weil er damit mehr verdient. Die alten Leute hier müssen bis nach Rialto auf den Markt gehen, um frisches Obst und Gemüse zu kaufen. Das einzige, was wir noch haben, ist eine Bäckerei und ein kleiner Supermarkt. Früher gab es hier alles, den Milchmann, die Kaffeerösterei, das war ein anderes Leben."
"... und so gibt es in allen Bereichen Betrüger. Billige Souvenirs 'made in China' werden als venezianisches Kunsthandwerk verkauft, die Gondolieri halten sich nicht an die gesetzlich festgelegten Tarife und so geht es immer weiter."
Signor Giuseppe zieht sich hinter den Empfangstresen des kleinen Hotels zurück, in dem er arbeitet. Morgen früh nach Dienstschluss wird er zur Piazzale Roma gehen und den Bus nach Hause nehmen, eine Wohnung in Venedig kann sich der Endfünfziger nicht leisten.
Venedigs Einwohnerstruktur hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt. Es gibt weniger Kinder und junge Erwachsene im Vergleich zum Landesdurchschnitt, ältere Menschen sind dagegen überproportional vertreten. Und insgesamt nimmt die Einwohnerzahl seit 20 Jahren ab.
Im November sank sie unter 60.000 und Marco Vidals "Verein junger Venezianer" half bei der Organisation einer Protestveranstaltung vor dem Sitz des Stadtrats. Symbolisch trugen sie Venedig zu Grabe.
Marco Vidal: "Venedigs größtes Problem ist der Exodus der Bevölkerung. Und es wird nichts dagegen getan. Stattdessen werden der Spekulation und dem Markt Tür und Tor geöffnet. Der Tourismus hat sich so stark ausgebreitet, dass er den Venezianern, die nicht im Tourismus beschäftigt sind, den Raum nimmt.
Alle anderen wirtschaftlichen Aktivitäten leiden unter dem Ansturm. Wenn eine Stadt 20 Millionen Touristen pro Jahr empfängt, aber nur noch knapp 60.000 eigene Einwohner hat, dann ist klar, dass sich der Einzelhandel nach den Bedürfnissen der 20 Millionen Touristen ausrichtet."
Was aber kann die Stadt tun? Der Architekt Cristiano Gasparetto findet, Venedig müsse seinen Einwohnern den Alltag erleichtern. Stichwort: Lebensqualität. Nur so könne das Abwandern der jungen Generation gebremst werden. Als eines der größten Probleme nennt der Venezianer den Verkehr. Das klingt paradox in einer Stadt ohne Autos, aber wer sich schon einmal in der touristischen Hochsaison durch die engen Gassen Venedigs gekämpft hat, weiß, wovon Gasparetto spricht.
Auf der Rialtobrücke bilden sich dann regelrechte Staus und es geht nur im Gänsemarsch voran. Touristen mag das nicht stören. Venezianer, die ihre Kinder zur Schule bringen wollen oder Geschäftstermine einzuhalten haben, allerdings schon. Gasparetto ist überzeugt, dass nur eine radikale Lösung weiterhilft.
Gasparetto: "Man muss die Verkehrswege und die Verkehrsmittel der Leute differenzieren. Und zwar je nachdem, um wenn es sich handelt. Auf der einen Seite die Touristen, auf der anderen Seite die Venezianer und die vielen Pendler, die täglich nach Venedig kommen und natürlich die Studenten, die auch meistens von außerhalb kommen, weil es in Venedig viel zu wenig Studentenwohnheime gibt. Man muss diese Masse an Menschen voneinander trennen.
Den Touristen könnten wir durch preisgünstigere Angebote als bisher die Gondeln als Verkehrsmittel schmackhaft machen, sodass sie Venedig langsam kennenlernen, das würde auch die Schäden an der Lagune durch die vielen Motorboote eindämmen. Und dann müssen sie doch nicht alle nach San Marco und Rialto geschafft werden, wir könnten ihnen die unbekannten Ecken Venedigs zeigen, sodass die Touristen sich über ganz Venedig verteilen. So könnten die Touristen eine Stadt entdecken, die viel mehr zu bieten hat als nur diese zwei zentralen Stellen."
Im Zuge der modernen Entwicklung sei der canal grande zu einer ganz normalen Hauptverkehrsstraße geworden, verstopft vom Hin und Her privater Motorboote, der Linienschiffe, der Lastkähne und Wassertaxen. Wenn Cristiano Gasparetto, der sich auch bei "Italia nostra" engagiert, dem italienischen Verein zum Schutz von Kulturdenkmälern, wenn Gasparetto also am Ufer des canal grande entlang spaziert, dann schließt er die Augen und versucht, sich in Zeiten zurückzuversetzen, in denen hier vor allem Ruderboote und Gondeln unterwegs waren. Venedigs Zauber kann seiner Meinung nach nur erleben, wer sich auf den besonderen Rhythmus der Stadt, einen langsameren Rhythmus, einlässt.
Inzwischen ist es dämmrig geworden. Rosarot verschwindet die Sonne hinter den Giebeln, taucht die stuckverzierten Palazzi in ein letztes goldenes Licht. Ein magischer Moment, Postkartenidylle. Marco Vidal von den jungen Venezianern lächelt, der einzigartige Zauber Venedigs tröstet ihn über viele Alltagsprobleme hinweg.
Marco Vidal: "Ich hänge an dieser Stadt und werde bis zum Schluss durchhalten. Niemals will ich in einer anderen Stadt leben als Venedig."
Der Markusplatz, das frühere Zentrum der venezianischen Macht. Als Venedig noch ein eigener Staat war: die freie und stolze "Serenissima", Seerepublik mit weltweiten Handelsbeziehungen, residierte hier der Doge als Herrscher in angemessener Pracht. 175 Meter lang und bis zu 82 breit ist er, dieser "Platz der Plätze".
Der Markusplatz um zehn Uhr morgens. Hier tummelt sich die ganze Welt: spanische Jugendliche mit Rucksäcken, Russen in kurzen Hosen, Chinesen, Südamerikaner, eine amerikanische Reisegruppe. Die Besucherschlange vor dem Dogenpalast ist lang.
Langsam und nur im Gänsemarsch geht es vorwärts. Auf einer nicht genutzten Absperrung sitzt eine blonde Frau von Mitte 50. Sie lässt die Beine baumeln und blättert in ihrem deutschsprachigen Reiseführer.
"Wir haben diese Reise von unseren Kindern bekommen und ich finde das schön, dass wir zu dieser Jahreszeit hier sind, trotzdem ist es mir fast schon zu voll. Im Sommer würde ich ums Verrecken nicht her wollen. Diese Fülle von Menschen ist mir jetzt schon zu viel. Aber verstehen kann ich`s auch, weil das Kulturerbe eben so groß ist und daher kann man jeden verstehen, der sagt: man muss es mal gesehen haben. Und was die Zukunft anbelangt: ich weiß nicht, wie man das steuern will."
Mareike Fünderer legt den Kopf in den Nacken und betrachtet die Fassade der Basilika. Säulen aus Marmor und Alabaster wachsen in den Himmel.
"Ich bin das Zweite Mal hier und ich bin ein Typ, der immer was Schönes und Positives findet. Aber es ist eine Abzocke ohne Ende. 1,50 für die Toiletten, 8,50 kostet der Cappuccino! Das ist doch nicht mehr normal. Was ich gut finde hier, dass ein Unterschied zwischen Touristen und Einheimischen gemacht wird. Aber man muss die Touristen nicht so melken, wie es hier passiert. Das ist einfach zu viel."
12 Uhr, Zeit für einen Aperitif. Nach venezianischer Sitte nimmt man jetzt einen "Ombra", ein Glas einfachen Landwein zu sich. Bloß wo? Die verchromten Caféhausstühle gegenüber vom Glockenturm glänzen in der Sonne, sie laden müde Besucher zu einer Pause ein. Sich hier nieder zu lassen, ist verführerisch - und sehr teuer.
An den Tischen sitzen Japaner, Amerikaner und Russen.
Die Empfangshalle im "Saturnio International", einem traditionsreichen Vier-Sterne-Hotel in Familienbesitz. Ein historischer Palazzo und früherer Adelssitz. Dunkles Holz, gedämpftes Licht, gediegene Einrichtung. Zwei Männer und eine Frau stehen hinter der Empfangstheke, wickeln das ein- und auschecken ab und stehen bereit, um auf Fragen und Wünsche der Gäste einzugehen.
Ein Japaner in Freizeitkleidung erkundigt sich nach dem Weg zu einer Sehenswürdigkeit, ein amerikanisches Ehepaar möchte einen Konzertabend reservieren. Im Nebenraum, an einem schweren Schreibtisch, sitzt Gianni Serandrei. Anfang 40, schlank, kurz rasiertes Haar. Er ist einer der drei Söhne des Hotelbesitzers und zuständig für die Einrichtung und den Stil des Hauses.
Hotelier: "Unser Hotel wurde im Jahr 1908 eröffnet und ist in der Folgezeit immer wieder renoviert und umgebaut worden. Die Möbel sind antik, vorwiegend 18. und 19. Jahrhundert. Ich persönlich mag die typisch venezianischen Möbel des 17. Jahrhunderts nicht so sehr. Die Kronleuchter sind natürlich aus Murano-Glas, wir sind hier schließlich in Venedig."
Gianni Serandrei lacht, obwohl er derzeit eigentlich nicht viel zu lachen hat. Die Umsätze sind seit Beginn der Wirtschaftskrise im Sommer 2008 zurückgegangen, auch die Venezianer bekommen die weltweite Wirtschaftskrise zu spüren. Nicht dass weniger Besucher in die Stadt strömten, sie geben nur weniger Geld aus und das ist schlecht fürs Geschäft.
"Venedig macht eine schwierige Zeit durch. Als der Tourismus noch boomte, haben viele neue Hotels und Pensionen eröffnet und die Bettenzahl hat sich sogar verdoppelt. Aber diese schwierige Situation, in der wir uns jetzt befinden, kann auch dazu beitragen, die Spreu vom Weizen zu trennen, die Professionalität in der Branche zu erhöhen und zu verhindern, dass die Besucher schlecht empfangen werden. Denn die Masse an Touristen in den vergangenen Jahren hat ja auch dafür gesorgt, dass viele sich nicht besonders angestrengt haben, weil ja eh genug Leute kamen und immer neue."
Francesca Bortolotto Possati stammt aus einer alten venezianischen Familie. Sie wanderte vor vielen Jahren mit ihrem Mann in die USA aus, arbeitete dort erfolgreich als Innenarchitektin mit einem besonderen Faible für Stoffe. Nach ihrer Scheidung kehrte sie nach Venedig zurück und übernahm die Leitung der Hotelgruppe, die ihr Großvater aufgebaut hatte. In Venedig ist sie die einzige Frau in einer solchen Position. Ihre Ansichten sind in der öffentlichen Diskussion gefragt, auch wenn sie unbequeme Wahrheiten ausspricht.
Francesca Bortolotto Possati: "Quantität ist das Gegenteil von Qualität, das ist bekannt. Natürlich kann Venedig nicht seine Tore verschließen vor der Welt, aber es braucht eine Strategie und gewisse Limits, weil Venedig so kostbar ist und sein Zauber nicht verschlissen werden darf durch Leute, die seinen wahren Wert nicht erkennen, gar nicht mehr erkennen können."
Darin ist sich die Hotelchefin einig mit einem Mann, der auf die Hotelbranche gar nicht gut zu sprechen ist. Marco Vidal ist Präsident des "Vereins junger Venezianer". Ein großer, kräftiger Mann mit Bart, 30 Jahre alt.
Marco Vidal: "Den Verein haben wir 2003 gegründet. Wir, das ist eine Gruppe aus Freunden, die sich für Venedig engagieren will und versucht, die Menschen für die Probleme der jungen Einwohner zu sensibilisieren. Wir haben festgestellt, dass die Möglichkeiten, sich in Venedig eine Zukunft aufzubauen, immer mehr schwinden."
Marco zeigt auf ein Geschäft mit bunter Auslage. Glasperlen, Modeschmuck, Masken.
Marco Vidal: "Hier war früher ein Friseur, aber der hat inzwischen geschlossen und dabei sind wir hier nicht einmal in einer der touristischsten Gegenden von Venedig. Der Einzelhandel wurde vor zehn Jahren liberalisiert, seitdem sind viele alteingesessene Geschäfte wie beispielsweise Schuster und Metzgereien zugunsten von Souvenirshops verschwunden. Der Stadtrat hätte diese Entwicklung natürlich durch bestimmte Auflagen bremsen könne, aber das hat er nicht getan."
Die Folge: Die Venezianer erledigen ihren wöchentlichen Lebensmittel-Großeinkauf inzwischen größtenteils auf dem Festland und Besucher, die sich für mundgeblasenes Muranoglas und venezianisches Kunsthandwerk interessieren, tun sich schwer, neben dem Plastikramsch, der überall angeboten wird, noch die Artikel zu finden, für die Venedig eigentlich berühmt ist.
Verkäufer: "Wir verkaufen die typischen venezianischen Souvenirs: Gondeln, Schlüsselanhänger, Püppchen, Masken aus reiner Handarbeit. Die hier kosten fünf Euro, diese 15. Und die hier mit den Federn dran, die werden besonders gern gekauft."
Handarbeit? Die Masken sehen alle gleich aus. Wie aus ein und derselben Fabrik in Osteuropa oder Asien.
Verkäufer: "Diese Maske ist hier gemacht! Die meisten sind hier gemacht. Fragen Sie meinen Chef."
Das Thema ist dem Verkäufer unangenehm. Er verschränkt die Arme vor der Brust und ist zu keinen weiteren Auskünften über die Masken bereit.
Giuseppe: "Die letzte Metzgerei, die wir hier noch hatten, hat vor zwei Jahren geschlossen. Der Metzger verkauft jetzt auch diesen Touristenkitsch, weil er damit mehr verdient. Die alten Leute hier müssen bis nach Rialto auf den Markt gehen, um frisches Obst und Gemüse zu kaufen. Das einzige, was wir noch haben, ist eine Bäckerei und ein kleiner Supermarkt. Früher gab es hier alles, den Milchmann, die Kaffeerösterei, das war ein anderes Leben."
"... und so gibt es in allen Bereichen Betrüger. Billige Souvenirs 'made in China' werden als venezianisches Kunsthandwerk verkauft, die Gondolieri halten sich nicht an die gesetzlich festgelegten Tarife und so geht es immer weiter."
Signor Giuseppe zieht sich hinter den Empfangstresen des kleinen Hotels zurück, in dem er arbeitet. Morgen früh nach Dienstschluss wird er zur Piazzale Roma gehen und den Bus nach Hause nehmen, eine Wohnung in Venedig kann sich der Endfünfziger nicht leisten.
Venedigs Einwohnerstruktur hat sich in den vergangenen Jahren gewandelt. Es gibt weniger Kinder und junge Erwachsene im Vergleich zum Landesdurchschnitt, ältere Menschen sind dagegen überproportional vertreten. Und insgesamt nimmt die Einwohnerzahl seit 20 Jahren ab.
Im November sank sie unter 60.000 und Marco Vidals "Verein junger Venezianer" half bei der Organisation einer Protestveranstaltung vor dem Sitz des Stadtrats. Symbolisch trugen sie Venedig zu Grabe.
Marco Vidal: "Venedigs größtes Problem ist der Exodus der Bevölkerung. Und es wird nichts dagegen getan. Stattdessen werden der Spekulation und dem Markt Tür und Tor geöffnet. Der Tourismus hat sich so stark ausgebreitet, dass er den Venezianern, die nicht im Tourismus beschäftigt sind, den Raum nimmt.
Alle anderen wirtschaftlichen Aktivitäten leiden unter dem Ansturm. Wenn eine Stadt 20 Millionen Touristen pro Jahr empfängt, aber nur noch knapp 60.000 eigene Einwohner hat, dann ist klar, dass sich der Einzelhandel nach den Bedürfnissen der 20 Millionen Touristen ausrichtet."
Was aber kann die Stadt tun? Der Architekt Cristiano Gasparetto findet, Venedig müsse seinen Einwohnern den Alltag erleichtern. Stichwort: Lebensqualität. Nur so könne das Abwandern der jungen Generation gebremst werden. Als eines der größten Probleme nennt der Venezianer den Verkehr. Das klingt paradox in einer Stadt ohne Autos, aber wer sich schon einmal in der touristischen Hochsaison durch die engen Gassen Venedigs gekämpft hat, weiß, wovon Gasparetto spricht.
Auf der Rialtobrücke bilden sich dann regelrechte Staus und es geht nur im Gänsemarsch voran. Touristen mag das nicht stören. Venezianer, die ihre Kinder zur Schule bringen wollen oder Geschäftstermine einzuhalten haben, allerdings schon. Gasparetto ist überzeugt, dass nur eine radikale Lösung weiterhilft.
Gasparetto: "Man muss die Verkehrswege und die Verkehrsmittel der Leute differenzieren. Und zwar je nachdem, um wenn es sich handelt. Auf der einen Seite die Touristen, auf der anderen Seite die Venezianer und die vielen Pendler, die täglich nach Venedig kommen und natürlich die Studenten, die auch meistens von außerhalb kommen, weil es in Venedig viel zu wenig Studentenwohnheime gibt. Man muss diese Masse an Menschen voneinander trennen.
Den Touristen könnten wir durch preisgünstigere Angebote als bisher die Gondeln als Verkehrsmittel schmackhaft machen, sodass sie Venedig langsam kennenlernen, das würde auch die Schäden an der Lagune durch die vielen Motorboote eindämmen. Und dann müssen sie doch nicht alle nach San Marco und Rialto geschafft werden, wir könnten ihnen die unbekannten Ecken Venedigs zeigen, sodass die Touristen sich über ganz Venedig verteilen. So könnten die Touristen eine Stadt entdecken, die viel mehr zu bieten hat als nur diese zwei zentralen Stellen."
Im Zuge der modernen Entwicklung sei der canal grande zu einer ganz normalen Hauptverkehrsstraße geworden, verstopft vom Hin und Her privater Motorboote, der Linienschiffe, der Lastkähne und Wassertaxen. Wenn Cristiano Gasparetto, der sich auch bei "Italia nostra" engagiert, dem italienischen Verein zum Schutz von Kulturdenkmälern, wenn Gasparetto also am Ufer des canal grande entlang spaziert, dann schließt er die Augen und versucht, sich in Zeiten zurückzuversetzen, in denen hier vor allem Ruderboote und Gondeln unterwegs waren. Venedigs Zauber kann seiner Meinung nach nur erleben, wer sich auf den besonderen Rhythmus der Stadt, einen langsameren Rhythmus, einlässt.
Inzwischen ist es dämmrig geworden. Rosarot verschwindet die Sonne hinter den Giebeln, taucht die stuckverzierten Palazzi in ein letztes goldenes Licht. Ein magischer Moment, Postkartenidylle. Marco Vidal von den jungen Venezianern lächelt, der einzigartige Zauber Venedigs tröstet ihn über viele Alltagsprobleme hinweg.
Marco Vidal: "Ich hänge an dieser Stadt und werde bis zum Schluss durchhalten. Niemals will ich in einer anderen Stadt leben als Venedig."