Zwischen Tradition und Avantgarde

Von Ania Mauruschat |
Er ist Chinas derzeit wohl prominentester Regimekritiker und Konzeptkünstler: Ai Weiwei. Unter dem Titel "So Sorry" zeigt das Münchner "Haus der Kunst" eine umfangreiche Retrospektive seines künstlerischen Schaffens.
"Der Titel 'So sorry' reflektiert für mich viele Aspekte unserer Gegenwart, zum Beispiel die gleichgültige Haltung der Politik der Gesellschaft gegenüber. Aber er kann auch ganz anders interpretiert werden. Deswegen mag ich den Titel."

… so erklärt Ai Weiwei, Chinas derzeit wohl prominentester Regimekritiker und Konzeptkünstler, "So Sorry", den Titel seiner Einzelausstellung im Münchner "Haus der Kunst". Es ist die erste Retrospektive seines künstlerischen Schaffens seit Ende der 90er-Jahre in einem derartigen Umfang: Exponate, die von Miniaturen aus Porzellan bis zu imposanten Großinstallationen reichen. In der Eingangshalle vom "Haus der Kunst" empfangen den Besucher zwei Arbeiten, die bereits auf der Documenta 12 zu sehen waren: eine kleine chinesische Porzellanwelle unter Glas vor der originalgetreu rekonstruierten Ruine von Template, einem riesigen, mehrflügligen Turm aus alten chinesischen Türen, der bei einem Sturm in Kassel in sich zusammengebrochen war. Für den von Marcel Duchamp inspirierten Künstler Ai Weiwei das Beste, was ihm passieren konnte, wie er damals erklärte: Nun hatte die Natur sein Werk vollendet.

Die Haupthalle ist tapeziert mit Din-A-3 großen Schwarz-Weiß-Fotos der 1001 Teilnehmer von Ai Weiweis berühmtestem Documenta-Projekt "Fairytale". Die Teilnehmer stehen vor dem Konsulat, das ihnen ihr Visum ausstellte, damit sie nach Kassel reisen und dort zwei Wochen leben konnten. Im Saal selbst: Über 100 riesige, zum Teil mehr als 1000 Jahre alte Wurzeln. Diese natürlichen Ready-Mades hat Ai Weiwei kunstvoll arrangiert auf einem 400 Quadratmeter großen und zwei Tonnen schweren weißen Teppich. 50 Teppichknüpferinnen haben ihn identisch nach Fotos der 996 Bodenfliesen im Hauptsaal angefertigt, die der Teppich wie eine Kopie verdeckt. Der Titel der Arbeit: "Softground". Ai Weiwei:

"Diese Arbeit steht in Beziehung zur Halle und zu dem gesamten Gebäude mit seiner tragischen Rolle als Ausstellungsort im Nationalsozialismus. Ich wollte mit meiner Arbeit einen Kommentar zu dieser Zeit machen und ihn zugleich in eine zeitgemäße Sprache überführen."

Zwei Kunstwerke hat Ai Weiwei in den letzten zwei Jahren extra für das Haus der Kunst angefertigt: "Softground" und die imposante Fassadeninstallation "Remembering" - 9000 Kinder-Rucksäcke, die Ai Weiwei in den zurückliegenden Wochen mit seinem Team auf einem Gitter von zehn mal 100 Metern an der Fassade des einstigen Nazi-Prunkbaus anbrachte. Die Front wird nun komplett verdeckt von diesen Rucksäcken, die farblich so angeordnet sind, dass auf einem blauen Untergrund chinesische Schriftzeichen in Rot, Grün und Gelb erscheinen. Wenn nun die Bäume an der Prinzregentenstraße ihre Blätter verlieren, wird auf der Fassade des Ausstellungshauses ein chinesischer Satz zu lesen sein, übersetzt ins Deutsche: "Sie lebte sieben Jahre glücklich auf dieser Erde." Eine Mutter hatte den Satz an Ai Weiwei gemailt, eine Mutter, die bei der Erdbebenkatastrophe in Sichuan im Mai 2008 ihre Tochter verlor. Die Fassadeninstallation "Remembering" ist dem Andenken an Tausende von Kindern gewidmet, die bei dem Erdbeben in schlecht gebauten Schulgebäuden ums Leben gekommen waren. Ai Weiwei:

"Wenn die Leute sagen, 5000 tote Schüler sind nicht weiter erwähnenswert, nur Nummern, ohne Namen, das kann man doch gar nicht glauben: Wie konnten wir an so einen Punkt kommen? Um nicht so verroht zu werden, sollten wir uns an die Zeit, die diese Kinder gelebt haben, erinnern, egal ob sie drei, fünf oder neunzehn Jahre alt waren, und diese kurze, glückliche Zeit feiern."

Zahlreiche weitere Arbeiten zeigen Ai Weiweis vielseitiges Werk: Holzskulpturen, die nach den geografischen Außengrenzen Chinas geformt sind, mit Wasserfarben bemalte chinesische Vasen, Installationen aus Glasperlen sowie aus Tee, aber auch Filme und Fotos sind zu sehen. In den meisten Arbeiten spiegelt sich Ai Weiweis Haltung eines kritischen Gegenwartskünstlers wider, eines Grenzgängers zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Avantgarde, der sich vor keinen politischen Karren spannen lässt, sondern auf die befreiende Kraft der Kunst vertraut. Ein ebenso komplexes wie spannendes Werk, das in der Ausstellung "So Sorry" bis Januar in München zu sehen ist. Ein Werk, mit dem zu beschäftigen, sich lohnt.