Zwischen Wagemut und Vergessen

Thomas Macho im Gespräch mit Frank Meyer |
In Berlin hat "Peter Pan" in einer Inszenierung von Robert Wilson Premiere. Die ambivalente Figur hat mehrere Bedeutungen, erläutert der Kulturwissenschaftler Thomas Macho: Zum Beispiel, um im kriegerischen 20. Jahrhundert den Jungen den Tod immer wieder als Abenteuer zu verkaufen.
Frank Meyer: "Der Tod wird ein schrecklich großes Abenteuer sein." Das sagt Peter Pan in der Geschichte von James Matthew Barrie, und dieser Satz zeigt schon mal neben vielen anderen, dass Peter Pan viel mehr ist als so eine nette Disney-Geschichte von einem Jungen, der nicht erwachsen werden mag. Peter Pan ist ein abgründiges Kinderbuch und ein Stoff, der immer wieder aufgegriffen wird. Heute Abend am Berliner Ensemble in Berlin. Was macht denn den Peter-Pan-Stoff so interessant. Das schauen wir uns an, zuerst mit einer Einführung in die Peter-Pan-Geschichte von Roland Krüger.

Meyer: Roland Krüger über den ewig jungen Peter Pan. Und was macht diese Figur so faszinierend bis heute? Das besprechen wir mit dem Philosophen und Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Der ist jetzt für Deutschlandradio Kultur am Telefon. Seien Sie willkommen, Herr Macho!

Thomas Macho: Ja, seien Sie willkommen, Herr Meyer!

Meyer: Also, Anfang des 20. Jahrhunderts taucht dieser Peter Pan auf in dem Stück und den Büchern von James Matthew Barrie. Lag das damals in der Luft, so eine Geschichte von einem Jungen, der nicht erwachsen werden will?

Macho: Ja, das lag wohl in gewisser Hinsicht in der Luft. Man darf nicht vergessen, dass das das Jahrhundert des Kindes war. So hieß auch eine berühmte Programmschrift von Ellen Key, der schwedischen Reformpädagogin, die 1902, glaube ich, schon in deutscher Sprache erschienen ist und gewiss auch auf Englisch, in englischer Übersetzung. Und das war einfach eine Programmschrift, dass man die Welt verbessern und ändern zu können glaubte, wenn man nur die Bedingungen der Erziehung neu gestaltet und verändert. Deshalb ist das auch ein Jahrhundert der Erziehungsutopien gewesen, und wenn man dran denkt, also von der Ellen Keyschen Reformpädagogik über die Steinerschen Programme bis zum Summerhill von Alexander Neil tauchen immer wieder Peter-Pan-Utopien auch in den Erziehungsprogrammen auf.

Meyer: Also es gibt ihn mehrfach, den Peter Pan, und hier in dieser Variante von Berrie ist das aber, wir haben davon schon gerade etwas gehört, eine zutiefst ambivalente Person. Was gehört denn für Sie alles dazu, zu dieser Ambivalenz von Peter Pan?

Macho: Ja, zu dieser Ambivalenz gehört natürlich einerseits der Wagemut und das Rebellische und andererseits aber eben auch das Vergessliche, das Nichts-Festhalten-Können, das schon erwähnt wurde. Peter Pan ist natürlich auch eine Erinnerung an ganz alte Erzählungen, wo es um Natur und Kultur geht. Schon in der griechischen Mythologie, schon der Name erinnert ja an den alten Faun, an den Pan-Gott. Der eben auch vergisst und vergessen wird, wie Plutarch in seinem großen Trauergesang über den Tod des Pan beschrieben hat.

Von daher kann man sagen, diese Idee, die den Pan einerseits vergessen lässt und andererseits aber eben auch zum großen Rebellen erklärt, die hat ihre Vorgeschichten. Und sie ist im 20. Jahrhundert besonders wichtig geworden, nicht zuletzt wegen des schönen Satzes, den Sie zitiert haben. Man musste den Jungen auch den Tod als großes Abenteuer immer wieder verkaufen können im 20. Jahrhundert. Und das werden wir im nächsten Jahr, wenn wir daran denken, dass vor hundert Jahren der Erste Weltkrieg begonnen hat, noch mal erinnern müssen.

Meyer: Ja, aber warum gehört eigentlich so ein Satz, den Sie gerade angespielt haben, "Der Tod wird ein schrecklich großes Abenteuer sein", warum gehört der zu Peter Pan?

Macho: Der gehört zu Peter Pan, weil man in der Zeit, in dem Jahrhundert des Kindes, eben auch dabei war, die jungen Menschen dazu zu überreden, oder nicht nur zu überreden, sondern zu verpflichten, in die Kriege zu ziehen und zu kämpfen. Die Infanterie ist ja wörtlich eigentlich sozusagen das Kinderbatallion, der Kindertrupp. "Infans" heißt, wörtlich übersetzt, Kind. Und man kann schon den Puerilismus, so hat das der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga zur Kritik des Heroismus ausgedrückt. Man kann den Puerilismus durchaus auch als eine Doktrin verstehen, die eben aus dem Nicht-Erwachsen-Werden-Wollen insbesondere der jungen Männer ihr militärisches Kapital schlägt.

Meyer: Jetzt gibt es jede Menge, ich hab es vorhin schon mal angesprochen, kulturelle Bearbeitungen. Am bekanntesten für viele sind sicher die Filme von Disneys "Peter Pan2 bis zum Beispiel "Hook" mit Robin Williams. Was würden Sie sagen, in diesen kulturellen Aufgreifungen, ist da diese Ambivalenz des Peter Pan eigentlich bewahrt oder wird die eher beiseitegeschoben im Sinne der Unterhaltung?

Macho: Teilweise wird sie beiseitegeschoben, also gerade in den Disney-Darstellungen verschwindet das ein bisschen. Im "Hook" vom Spielberg kommt das ein bisschen deutlicher zum Ausdruck, und ich denke, dass überall dort, wo die Figur nicht einfach nur auf das Niveau sozusagen von drolligen Kindern mit ihren Feen und Faunen und Elfen und so weiter heruntergedrückt wird, überall dort wird diese Ambivalenz auch ein Stück weit sichtbar.

Meyer: Jetzt hat ja Peter Pan nicht nur in Filmen, in der Musik, Bühne, Büchern, überall Karriere gemacht, auch in der Psychologie Anfang der 80er-Jahre hat der amerikanische Psychologe Dan Kiley sein Buch "Das Peter-Pan-Syndrom" herausgebracht. Was würden Sie sagen, das ist ja so eine Syndrombeschreibung mit mehreren Elementen. Wie viel vom echten Peter Pan steckt da noch drin?

Macho: Nicht mehr so wahnsinnig viel, und das ist natürlich ein Buch, auch ein populärwissenschaftliches Buch, das darüber Auskunft gibt, wie schnell uns bestimmte Syndrome assoziieren und sich verbinden lassen mit den alten Märchenstoffen und älteren Mythen. Es gab ja auch das Cinderella-Syndrom und anderes, was dann auf junge Frauen bezogen wurde. Ich würde sagen, dass das Peter-Pan-Syndrom eben ein gut gewählter Titel für ein ganz bestimmtes Phänomen war, über dessen Verbreitung man wahrscheinlich streiten kann.

Meyer: Wobei das bis heute aktuell ist. Wir haben gerade gemerkt bei der Vorbereitung dieses Themas. Wenn man zum Beispiel heute Partnervermittlungsportale aufruft, stößt man da auf Warnungen, Achtung, dieser Mann ist ein Peter-Pan-Typ, also dieses Schlagwort ist bis heute lebendig geblieben. Können Sie sich das erklären, warum Peter Pan, also zum Beispiel in diesem Bereich Partnerberatung, Psychologie bis heute so aktuell ist?

Macho: Na ja, so richtig erklären kann ich mir das eigentlich nicht. Ich denke, dass das auch eine ganz bestimmte Faszination ist, die davon ausgeht. Und natürlich auch ein Schrecken, der damit zusammenhängt, dass man einen Partner bekommen soll, der nicht erwachsen werden will.

Meyer: Man spricht ja heute sogar mit Blick auf die angeblich ganz vielen unentschlossenen, entscheidungsschwachen 30-Jährigen von einer Generation Peter Pan. Was halten Sie denn von so einer Zuschreibung?

Macho: Ach, wenig! Davon halte ich ganz wenig. Weil wir haben, glaube ich, in den letzten 20 Jahren, mindestens 15 Generationen unterschiedlicher Art ausgerufen, und das ging von schlichten Jahreszahlen bis zur Generation Golf und zu vielen anderen Generationen. Das sind Versuche, Ordnung in etwas hineinzubringen, was eigentlich recht unübersichtlich aussieht, und das ist die Frage, wie sich eben Kollektive heute, im Zeitalter der digitalen Medien und so weiter, formieren. Dass wir wirklich eine Generation Peter Pan vor uns haben, das glaube ich nicht.

Meyer: Aber die Lebendigkeit in der Kultur, die gibt es ja auf jeden Fall. Ausgangspunkt für unser Gespräch ist ja eine Premiere heute Abend am Berliner Ensemble, und wenn man sich umschaut, es gibt natürlich die Odyssee nach Odysseus, es gibt den Ödipus-Komplex, aber fallen Ihnen jüngere Figuren aus der Kunst ein, die tatsächlich so eine Karriere gemacht haben, so wirkungsmächtig gewesen sind wie Peter Pan.

Macho: Also wenige. Aber es gibt natürlich ein paar. Man könnte mal drüber nachdenken, ob nicht auch der Parsifal eine solche Gestalt ist, die im 19. Jahrhundert eben wieder reaktiviert und im 20. Jahrhundert auch unter zum Teil sehr bedenklichen Rahmenbedingungen aktualisiert wurde. Auch ein reiner Tor, einer der so zwischen Erwachsenheit und Kindheit umherirrt …

Meyer: Aber lange nicht so populär wie Peter Pan, oder?

Macho: Da bin ich nicht sicher. Da würde ich ein großes Fragezeichen dahinter setzen. Wenn ich dran denke, dass gerade erst wieder Filme oder Veranstaltungen propagiert wurden, in denen diese Figur aufgetaucht ist. Dann denke ich, die hat auch eine gewisse Popularität, nicht nur im Wagner-Jahr.

Meyer: Aber außer Parsifal, da endet es dann schon?

Macho: Nee, ich würde zum Beispiel im 19. Jahrhundert, eine Frauengestalt, die war auch sehr geeignet, mythischen Charakter zu entwickeln, das war die Carmen. Und es gab – es gab schon ein paar Gestalten. Aber Sie haben natürlich vollkommen recht, viele sozusagen so mythogene Stoffe gab es in der Moderne einfach nicht. Und Peter Pan zitiert eben auch darum vielleicht den Namen eines altgriechischen Hirtengottes.

Meyer: Der ewig junge Peter Pan, immer wieder taucht er in Filmen und Büchern auf oder auf der Bühne. Heute Abend auf der Bühne des Berliner Ensembles in einer Inszenierung von Robert Wilson. Eine Kritik zu dieser Inszenierung hören Sie heute Abend nach 23 Uhr in unserer Sendung "Fazit". Und über Peter Pan haben wir gesprochen mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Haben Sie herzlichen Dank!

Macho: Ja, herzlichen Dank auch Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho, aufgenommen während der Aufzeichnung der RBB-Talksendung "Im Palais" - Zu Gast bei Dieter Moor in Berlin.
Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho© picture alliance / dpa - Karlheinz Schindler
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