Zwischen Wahnsinn und Wahrheit
Wo fängt Verrücktheit an? Und wie behandelt man psychische Erkrankungen? Der Medizinhistoriker Heinz Schott und der Psychiater Rainer Tölle belegen in "Geschichte der Psychiatrie", dass die Krankheits- und Therapiemodelle abhängig waren von ihrer Epoche. Dabei geriet vieles, was zum Wohl der Patienten gedacht war, zu ihrem Nachteil.
668 Seiten, eng beschrieben und vollgepackt mit ausführlichen Informationen, brauchen der Medizinhistoriker Heinz Schott und der Psychiater Rainer Tölle für ihre Reise durch die "Geschichte der Psychiatrie". Es ist eine spannende und mitunter unglaubliche Geschichte voller unterschiedlicher Krankheitslehren und Behandlungsformen, die immer unter dem jeweiligen Stern ihrer gesellschaftspolitischen Umgebung standen. Und so - wen mag es wundern - selten frei von Irrungen und Wirrungen waren - und sind.
Denn kaum eine andere Wissenschaft lebt so sehr aus ihrer eigenen Geschichte wie die Psychiatrie, sagen die Autoren und folgern daher schlussrichtig: Nur wer die historischen Begebenheiten kennt, kann die auch noch heute aktuellen diskutierten Kontroversen angemessen verstehen und erklären. Immer wieder behandeln daher auch die Autoren immanent wichtige Fragen: Wie lassen sich psychische Normalität und psychische Veränderung unterscheiden, wenn es keine nachweisbaren Muster für Vernunft und Verrücktheit, Wahrheit und Wahn gibt? Und wenn es so etwas wie Wahnsinn gibt: Kann man ihn irgendwo im menschlichen Körperinneren lokalisieren? Oder sind die Gene oder aber die Gesellschaft Schuld? Und wie soll man mit Patienten umgehen? Das alles ist hochspannend und so ist auch das Buch, in dessen Sprache man sich zwar erst hineinlesen muss, das einen dann aber fesselt und mitreißt. Auch den Laien. Denn Heinz Schott und Rainer Tölle verstehen es, die Lebendigkeit der Psychiatriegeschichte auch lebendig darzustellen. Vorurteilen und Berührungsängsten aus der Mitte unserer Gesellschaft gehen sie auf den Grund und erreichen auf diese Weise eine Entstigmatisierung psychisch Kranker. Und genau das macht das Buch so wertvoll.
Heinz Schott und Rainer Tölle beginnen ihre "Geschichte der Psychiatrie" mit der Dämonologie des Altertums, wo Ärzte versuchten , Krankheiten, die nicht auf eine äußere Ursache zurück zuführen waren, durch festgelegte Rituale zu heilen, zum Beispiel durch Fasten. Das brachte zwar selten einen Erfolg, sorgte aber von Anfang an dafür, dass seelische Krankheiten als Zeichen des Teufels bewertet wurden, was zur Ausgrenzung der Kranken führte. Eine Idee, die mit Beginn der Aufklärung zurückgedrängt wurde, um allerdings in jüngster Zeit wieder zurückzukehren: Exorzismus erfreut sich in der katholischen Kirche einer zunehmenden Anerkennung.
Eingängig belegen die Autoren darüber hinaus, wie man sich anschließend dem körperlichen Ursprung des Wahnsinns zuwandte: Zunehmend richtet sich dabei der Blick der Forscher aufs Gehirn, den "Wohnsitz der Seele". Es wurde seziert und vermessen. Die Hirnrinde rückte ins Zentrum der Betrachtungen, anschließend waren es Nerven und Drüsen. Verbindliche Antworten blieben rar. Vielmehr entwickelte jeder Forscher (sie alle werden ausführlich vorgestellt) seine eigene Theorie und Ansicht, wie die riesige Datenmenge dieses sorgfältig recherchierten Buches zeigt: Sie reicht von Mesmerismus, dem animalischen Magnetismus, über Hypnose, Nervenheilkunde und Degenerationslehre bis hin zu Freuds Psychoanalyse und den Therapien mit modernen Psychopharmaka. In den 52 Abschnitten des Buches finden sich außerdem genaue Informationen zu Stichworten wie Elektrokrampftherapie, Hysterie, Neurophysiologie, Paranoia und Zweiklassenpsychiatrie. Ebenso werden in einem gesonderten Kapitel Krankheiten wie Schizophrenie, Alkoholismus, Wahn und Depression vorgestellt.
Dabei verschweigen die Autoren auch die Missstände nicht. Ausführlich widmen sie sich in ihrem Band dem Anstaltsleben, das bis ins 20. Jahrhundert zum Teil menschenunwürdig war. Ein besonders einprägsamer Abschnitt beschreibt die Einführung des Zwangstuhls: Angespornt durch den Optimismus der Aufklärung galt auch der Kranke im 18. Jahrhundert als besserungsfähig und erziehbar - wenn nötig mit Gewalt. Ganz nach dem Motto "Was krumm ist, soll gerade werden" führte man daher in Anlehnung an die Orthopädie den Zwangsstuhl ein, auf dem die Patienten festgebunden wurden. Doch statt zu heilen, war dieser Stuhl nur ein weiteres Folterinstrument, dessen sich die Psychiatrie im Laufe ihrer Geschichte immer wieder bediente. In Ketten gelegt, ans Bett gefesselt oder später in Zwangsjacken gesteckt, vegetierten die Patienten so vor sich hin. Die Reglementierung fand auch dann kein Ende, nachdem die Patienten als therapierbar wahrgenommen wurden. Vielmehr setzte nun die subtile Überwachung des Inneren ein. Erneut wurde gemessen, notiert und beobachtet. Erst 1975 wurden die Patientenrechte ethisch und juristisch in einer eigenen Psychiatrie-Enquete verbindlich festgelegt.
Ein weiterer großer Abschnitt des Bandes, der zutiefst bestürzt, ist den rassistischen Verurteilungen über "Juden und Psychiatrie" sowie der "Vernichtung unwerten Lebens" zu Zeiten des Nationalsozialismus in Deutschland gewidmet. Ausführlich wird beleuchtet, wer wann mit welcher Theorie dem Rassenwahn Vorschub leistete. Besonders erschütternd liest sich dabei, dass sich viele dieser Täter später wieder in Amt und Würden befanden.
Trotz aller Kritik an der Geschichte der Psychiatrie wird das Fach nicht als ganzes diskreditiert. Vielmehr nutzen der Medizinhistoriker Schott und der klinischen Psychiater Tölle diese dramatischen Irrwege der Psychiatrie, um exemplarisch zu verdeutlichen, welche Risiken einer blinden Wissenschafts- und Politikgläubigkeit anhängen. Eine Gefahr, die in den Augen der Autoren auch heute nicht gebannt ist: "Die heutige molekulargenetische Biologisierung des Menschen kann möglicherweise dem überwunden geglaubten Sozialdarwinismus neuen Auftrieb geben und wiederum zu inhumanen Einstellungen gegenüber psychisch Kranken führen." Ihr umfassendes und gelungenes Buch soll diesen Tendenzen entgegenwirken. Und das tut es. Ihr Mammutwerk beenden Heinz Schott und Rainer Tölle mit dem humanistischen Appell, der von einem großen Vordenker der Psychiatrie, Wilhelm Griesinger, stammt und auch heute noch seine Gültigkeit hat: "Der Mensch, auch der so genannte Geisteskranke, ist keine lebendige Maschine, deren Funktion mit Befriedigung von Essen und Trinken und kahler mechanischer Arbeit abgetan wäre, er hat Sinn, er hat Interessen, er hat ein Herz."
Heinz Schott und Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren - Irrwege - Behandlungsformen
Beck, 2006
688 Seiten, 39,90 Euro
Denn kaum eine andere Wissenschaft lebt so sehr aus ihrer eigenen Geschichte wie die Psychiatrie, sagen die Autoren und folgern daher schlussrichtig: Nur wer die historischen Begebenheiten kennt, kann die auch noch heute aktuellen diskutierten Kontroversen angemessen verstehen und erklären. Immer wieder behandeln daher auch die Autoren immanent wichtige Fragen: Wie lassen sich psychische Normalität und psychische Veränderung unterscheiden, wenn es keine nachweisbaren Muster für Vernunft und Verrücktheit, Wahrheit und Wahn gibt? Und wenn es so etwas wie Wahnsinn gibt: Kann man ihn irgendwo im menschlichen Körperinneren lokalisieren? Oder sind die Gene oder aber die Gesellschaft Schuld? Und wie soll man mit Patienten umgehen? Das alles ist hochspannend und so ist auch das Buch, in dessen Sprache man sich zwar erst hineinlesen muss, das einen dann aber fesselt und mitreißt. Auch den Laien. Denn Heinz Schott und Rainer Tölle verstehen es, die Lebendigkeit der Psychiatriegeschichte auch lebendig darzustellen. Vorurteilen und Berührungsängsten aus der Mitte unserer Gesellschaft gehen sie auf den Grund und erreichen auf diese Weise eine Entstigmatisierung psychisch Kranker. Und genau das macht das Buch so wertvoll.
Heinz Schott und Rainer Tölle beginnen ihre "Geschichte der Psychiatrie" mit der Dämonologie des Altertums, wo Ärzte versuchten , Krankheiten, die nicht auf eine äußere Ursache zurück zuführen waren, durch festgelegte Rituale zu heilen, zum Beispiel durch Fasten. Das brachte zwar selten einen Erfolg, sorgte aber von Anfang an dafür, dass seelische Krankheiten als Zeichen des Teufels bewertet wurden, was zur Ausgrenzung der Kranken führte. Eine Idee, die mit Beginn der Aufklärung zurückgedrängt wurde, um allerdings in jüngster Zeit wieder zurückzukehren: Exorzismus erfreut sich in der katholischen Kirche einer zunehmenden Anerkennung.
Eingängig belegen die Autoren darüber hinaus, wie man sich anschließend dem körperlichen Ursprung des Wahnsinns zuwandte: Zunehmend richtet sich dabei der Blick der Forscher aufs Gehirn, den "Wohnsitz der Seele". Es wurde seziert und vermessen. Die Hirnrinde rückte ins Zentrum der Betrachtungen, anschließend waren es Nerven und Drüsen. Verbindliche Antworten blieben rar. Vielmehr entwickelte jeder Forscher (sie alle werden ausführlich vorgestellt) seine eigene Theorie und Ansicht, wie die riesige Datenmenge dieses sorgfältig recherchierten Buches zeigt: Sie reicht von Mesmerismus, dem animalischen Magnetismus, über Hypnose, Nervenheilkunde und Degenerationslehre bis hin zu Freuds Psychoanalyse und den Therapien mit modernen Psychopharmaka. In den 52 Abschnitten des Buches finden sich außerdem genaue Informationen zu Stichworten wie Elektrokrampftherapie, Hysterie, Neurophysiologie, Paranoia und Zweiklassenpsychiatrie. Ebenso werden in einem gesonderten Kapitel Krankheiten wie Schizophrenie, Alkoholismus, Wahn und Depression vorgestellt.
Dabei verschweigen die Autoren auch die Missstände nicht. Ausführlich widmen sie sich in ihrem Band dem Anstaltsleben, das bis ins 20. Jahrhundert zum Teil menschenunwürdig war. Ein besonders einprägsamer Abschnitt beschreibt die Einführung des Zwangstuhls: Angespornt durch den Optimismus der Aufklärung galt auch der Kranke im 18. Jahrhundert als besserungsfähig und erziehbar - wenn nötig mit Gewalt. Ganz nach dem Motto "Was krumm ist, soll gerade werden" führte man daher in Anlehnung an die Orthopädie den Zwangsstuhl ein, auf dem die Patienten festgebunden wurden. Doch statt zu heilen, war dieser Stuhl nur ein weiteres Folterinstrument, dessen sich die Psychiatrie im Laufe ihrer Geschichte immer wieder bediente. In Ketten gelegt, ans Bett gefesselt oder später in Zwangsjacken gesteckt, vegetierten die Patienten so vor sich hin. Die Reglementierung fand auch dann kein Ende, nachdem die Patienten als therapierbar wahrgenommen wurden. Vielmehr setzte nun die subtile Überwachung des Inneren ein. Erneut wurde gemessen, notiert und beobachtet. Erst 1975 wurden die Patientenrechte ethisch und juristisch in einer eigenen Psychiatrie-Enquete verbindlich festgelegt.
Ein weiterer großer Abschnitt des Bandes, der zutiefst bestürzt, ist den rassistischen Verurteilungen über "Juden und Psychiatrie" sowie der "Vernichtung unwerten Lebens" zu Zeiten des Nationalsozialismus in Deutschland gewidmet. Ausführlich wird beleuchtet, wer wann mit welcher Theorie dem Rassenwahn Vorschub leistete. Besonders erschütternd liest sich dabei, dass sich viele dieser Täter später wieder in Amt und Würden befanden.
Trotz aller Kritik an der Geschichte der Psychiatrie wird das Fach nicht als ganzes diskreditiert. Vielmehr nutzen der Medizinhistoriker Schott und der klinischen Psychiater Tölle diese dramatischen Irrwege der Psychiatrie, um exemplarisch zu verdeutlichen, welche Risiken einer blinden Wissenschafts- und Politikgläubigkeit anhängen. Eine Gefahr, die in den Augen der Autoren auch heute nicht gebannt ist: "Die heutige molekulargenetische Biologisierung des Menschen kann möglicherweise dem überwunden geglaubten Sozialdarwinismus neuen Auftrieb geben und wiederum zu inhumanen Einstellungen gegenüber psychisch Kranken führen." Ihr umfassendes und gelungenes Buch soll diesen Tendenzen entgegenwirken. Und das tut es. Ihr Mammutwerk beenden Heinz Schott und Rainer Tölle mit dem humanistischen Appell, der von einem großen Vordenker der Psychiatrie, Wilhelm Griesinger, stammt und auch heute noch seine Gültigkeit hat: "Der Mensch, auch der so genannte Geisteskranke, ist keine lebendige Maschine, deren Funktion mit Befriedigung von Essen und Trinken und kahler mechanischer Arbeit abgetan wäre, er hat Sinn, er hat Interessen, er hat ein Herz."
Heinz Schott und Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren - Irrwege - Behandlungsformen
Beck, 2006
688 Seiten, 39,90 Euro