Vom ewigen Glück der Unzeitlichtkeit
Nach Weihnachten und vor Neujahr liegen die Tage zwischen den Jahren. Anlass für Wolfram Eilenberger, über Momente der Unzeitlichkeit nachzudenken. Einen solchen erlebte er 2014, als er beim Fußball mit dem Hinterkopf aufschlug - und plötzlich an Wittgenstein denken musste.
Meinen philosophischsten Moment des Jahres verdanke ich einer Gehirnerschütterung. Nach einem Foul war ich mit dem Hinterkopf aufgeschlagen und hatte für kurze Zeit das Bewusstsein verloren. Gestützt auf zwei Mitspieler wankte ich, wie mir erzählt wurde, wimmernd vom Feld. Doch werden mir die ersten Sekunden, an die ich mich wieder erinnern kann, hoffentlich unvergesslich bleiben. Denn in dieser Phase, da mein Bewusstsein zuerst wieder Kontakt zur Welt und danach auch zu mir selbst aufnahm, machte ich eine Erfahrung, von deren einzigartigem Glück Philosophen und Mystiker seit Jahrtausenden berichten. Ich spreche von der Erfahrung der Unzeitlichkeit, von der vollkommenen, der durch keinen Vorgriff und keine Erinnerung getrübten Präsenz im Moment.
Die Neugier war plötzlich weg
Wohl niemand hat dieser mystischen Erfahrung des "nunc stans" prägnanter Ausdruck verliehen als Ludwig Wittgenstein in seinem "Tractatus-Logico-Philosophicus", Lehrsatz 6.4311: "Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt." Und nur wenige Einträge danach hält Wittgenstein auch die eigentlich beglückende Begleiterkenntnis dieses Sonderzustands fest. Sie lautet: "Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern dass sie ist."
In der Tat, genauso hat es sich angefühlt. War mein Bewusstsein noch wenige Minuten zuvor ganz im wirbelnden Vor und Zurück des Spiels gefangen gewesen, saß ich nun, wie von einer schweren Krankheit geheilt, am Spielfeldrand, durchflutet von Glück und staunender Dankbarkeit. Ich hatte in diesem Moment keine Pläne, wollte diese Welt weder verändern noch beeinflussen, ja, genau genommen begriff ich mich nicht einmal als ein eigenständiger Teil von ihr. Keine Neugier, keine Parteinahme, kein Siegeswille trieb mich mehr, sondern ich ging auf in dem dankbaren Staunen, dass es diese Welt überhaupt gab - aufgehoben in der absoluten Unzeitlichkeit eines einzigen Augenblicks.
Weihnachten und Silvester als Übergangsriten
Wie gesagt, das einzigartige Glück dieses Bewusstseinszustands ist Menschen seit Jahrtausenden vertraut. Und jede Kultur kennt eigene Weisen, an die Möglichkeit seines Zaubers zu erinnern. Im größeren Zusammenhang des Kalenderjahres ist ihm in unserem Kulturkreis sogar ein eigener Zeitraum gewidmet. Er liegt mitten zwischen der winterlichen Sonnenwendfeier - also Weihnachten - und Silvester. Als klassische Übergangsriten stehen Weihnachten und Silvester ganz im Zeichen des spannungsreichen Schwellenbewusstseins zwischen Zukunft und Vergangenheit.
Sie fordern deshalb ebenso zur besinnlichen Rückschau wie zu vorsatzfroher Vorwegnahme auf. In der Zeit "zwischen den Jahren" hingegen regiert die göttliche Mattheit des totalen Präsenz. In diesen Tagen werden im Idealfall weder Pläne geschmiedet noch Projekte angeschoben, weder Ereignisse forciert noch Aktionen erwartet. Es ist mit anderen Worten eine Phase, die uns zur Unzeitlichkeit ermuntert. Manch einer von uns muss erst auf den Kopf fallen, um sich an die immer währende Möglichkeit dieses Glücks zu erinnern. Aber es gibt auch ganz andere, weniger schmerzhafte Wege. Versuchen Sie es nur einmal selbst. Zum Beispiel heute. Zum Beispiel: jetzt. Oder besser: nach dieser Sendung. Sie werden staunen.