Zwischen Zille und Spitzweg

29.01.2007
In seinem neuen Roman erzählt Klaus Kordon die Geschichte einer Berliner Familie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Geschickt und vor allem spannend verbindet der Kinder- und Jugendbuchautor Beschreibungen des harten Berliner Alltags mit politischen Ereignissen.
"Fünf Finger hat die Hand" – damit meint Henriette Jacobi die eigene Familie. Das sind sie selbst und ihr Mann, der Zimmermann Frieder Jacobi, außerdem die drei Kinder Rieke, August und Köbbe. Im Sommer 1870 bricht in ihre kleinbürgerliche Welt die große Politik ein: Preußen ist im Krieg mit dem Erbfeind Frankreich. Die nationale Kriegsbegeisterung erfasst auch den 19-jährigen August, er meldet sich freiwillig an die Front, gegen den Willen der Eltern.

Klaus Kordon legt in seinem über 500 Seiten langen Roman wieder ein breites Epochenpanorama an. Der Leser begleitet alle Mitglieder der Familie Jacobi durch ihren Alltag. (Wir kennen die Eltern aus dem Roman "Die Geschichte von Jette und Frieder", der zur Zeit der bürgerlich-demokratischen Revolution 1848/49 spielt.) August, der in den Krieg zieht, Entsetzliches erleben muss und von seinem Ruhm-und-Ehre-Nationalismus geheilt wird. Die 17-jährige Rieke, die davon träumt, Malerin zu werden und sich in den Gesellen Tore verliebt, der wiederum davon träumt, die Gesellschaft zu verändern. Den politisch wachen und sozial denkenden Vater, die ebenso liebevolle wie tüchtige Mutter, Köbbe, den mutigen kleinen Bruder, dazu Freunde, Verwandte, Mitschüler und Kollegen.

Gemäß seiner Forderung nach einer "Geschichtsschreibung von unten" hat Klaus Kordon wieder einmal einen bewegenden Familienroman geschrieben, in dem die Schicksale der einzelnen Figuren ebenso spannend und lebendig entwickelt werden wie die sozialen und politischen Umstände in den Jahren 1870/71. Geschickt verbindet er beides miteinander, die großen politischen Themen wie Kriegsbegeisterung und Pazifismus, soziale Ungerechtigkeit oder Frauenemanzipation werden in heftigen Diskussionen und konkreten Schilderungen ebenso deutlich wie das tägliche Leben in verschiedenen Gesellschaftsschichten.

Was diesen Roman so lebendig macht ist zum einen die ungeheuer anschauliche Schilderung aller Figuren und ihrer Lebensräume. Ob die drei Kinder oder ihre Eltern, der Schuldirektor oder der kriegsversehrte Onkel Franz und seine Verlobte, ob Augusts Freundin Nelli oder Riekes Verlobter Tore – es sind individuell und lebendig gezeichnete Charaktere aus dem Kleinbürgertum wie dem Arme-Leute-Mileu Berlins. Ebenso präzise und realistisch schildert Kordon auch, wie und wo diese Menschen leben. Er nimmt seine Leser mit in Wohnungen und Werkstätten, auf Arbeiterversammlungen und eine Beerdigung, zu Paraden und Protestveranstaltungen und schließlich auch in die schrecklichen Schlachten vor Paris.

Eigentlich ist die Stadt Berlin die heimliche Protagonistin dieses Romans. Mit ihren Straßen und Plätzen, Kirchen und Wegen am Fluss entlang, mit ihren feinen Bürgerhäusern und verdreckten Hinterhausmietswohnungen – Kordon schildert das harte Leben der Durchschnittsbevölkerung ohne Beschönigung, lässt aber ebenso viel Raum für herzliches Miteinander, Gemütlichkeit und Lebensfreude. Sein Roman "Fünf Finger hat die Hand" findet eine eigene Bildersprache zwischen sozialkritischem Zille und biedermeierlich-buntem Spitzweg.

Dazu trägt natürlich auch die Erzählweise bei. In Präsens und erlebter Rede, ganz nah dran an den Gefühlen und Gedanken seiner Figuren, erzählt der Autor unmittelbar aus ihrer Perspektive. Frisch, lebendig und zupackend malt er seine Figuren, voller Zuneigung und Verständnis auch für ihre Schwächen. Dazu kommt eine große Portion Humor und ein augenzwinkernder Witz, der sich besonders unterhaltsam niederschlägt in den mit Berliner Charme und Schnauze eingefärbten Lebensweisheiten des Gemütsmenschen Onkel Fritz.

Manchen Zwölfjährigen mag der Roman nicht nur durch seine vielschichtige Handlung, sondern auch wegen der ausführlich diskutierten politischen Hintergründe überfordern. Im Nachwort erklärt der Autor darum noch einmal Schritt für Schritt die Entwicklungen auf den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zu. Ein Glossar erläutert zusätzlich die wichtigsten politischen Begriffe.

Fazit: ein toller Schmöker, Familien- und historischer Roman, eine Liebes- und Entwicklungsgeschichte, spannend und mitreißend erzählt, manchmal ein klein wenig pathetisch oder sentimental, dafür aber höchst interessant und informativ. Auf ein glattes Happy End hat Kordon bewusst verzichtet, das Buch endet offen, wie das Leben eben ist. Damit öffnet es auch schon den Blick auf den dritten Band der Trilogie, der zur Zeit des zwölfjährigen Verbots der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands von 1878 bis 1890 spielen wird.

Rezensiert von Sylvia Schwab

Klaus Kordon: Fünf Finger hat die Hand
Roman
Mit einem Nachwort des Autors
Verlag Beltz & Gelberg 2006
528 Seiten, 18,00 Euro