Erfolgsgeschichte Mindestlohn
Die Warnungen klangen dramatisch: Der Mindestlohn werde hunderttausende Arbeitsplätze vernichten, die Wirtschaft werde enorm leiden - prognostizierten namhafte Experten. Doch heute ist klar: Zu einem Jobabbau wegen 8,50 Euro pro Stunde ist es nicht gekommen. Selbst im strukturschwachen Ostdeutschland gab es keine Entlassungswellen.
Ein Dorf-Friseur im brandenburgischen Löwenberg. Fünf Frisierplätze – mit Marmorimitat, Kunstblumen und Zeitschriften wie Bravo, Superillu, Gala und Schöner Wohnen. Im Schaufenster: Goldwell-Reklame und roter Tüll. Vor der Tür rauscht die Bundesstrasse 167.
Angestellte Monique Schmid – 35 Jahre alt, groß und schwarz gekleidet – schneidet, föhnt und färbt hier seit zehn Jahren die Haare. Seit gut einem Jahr bekommt sie dafür den Mindestlohn.
"Joa, ick find den jut! Also damit der Mindestlohn kommt, wurde echt Zeit. Weil viele haben zu wenig verdient in den letzten Jahren. Gerade als Friseur, ist ja doch ein anstrengender Beruf, den janzen Tag stehen, von morgens bis abends. Und dit wurde halt zuwenig jewertet."
Schmid erhält 8,50 Euro die Stunde – das sind monatlich rund 1300 Euro brutto. Vor eineinhalb Jahren noch bekam sie lediglich 7,50 Euro die Stunde. Das hieß: zweihundert bis dreihundert Euro weniger am Ende des Monats. Damals musste sie – zusammen mit Mann und Kind – auf einiges verzichten.
Mehr Geld in der Urlaubskasse
"Naja, Ostseeurlaub für eine Woche mit drei Personen – da mit drei Personen ist das immer ne Menge Jeld, ja. Man rechnet von Anfang bis Ende des Monats mit dem Geld. Muss man schon zusehen. Man ist oft bei der Null gelandet."
Heute kann die Friseurin jeden Monat 150 Euro zurücklegen. Wofür gibt sie den Rest aus?
"Na für Urlaub! (lacht) Na man gönnt sich ab und zu mehr Kino mit dem Kind. Essengehen mal. Also es hat sich schon positiv verändert, dat Leben."
Ina Ludwig – 37, rote Haare und ebenfalls ganz in Schwarz – ist die Inhaberin von "IL Friseure". Ludwig beschäftigt zwei Auszubildende – und Monique Schmid. Die Chefin beteuert, sie hätte ihrer Angestellten früher gern mehr bezahlt – doch vorher sei dies nicht möglich gewesen. Wegen der hohen Nebenkosten.
"Also man rechnet beim Friseur mit dem Faktor vier. Ein Mitarbeiter, der 1000 Euro verdienen möchte, der muss dann eben 4000 Euro Umsatz bringen."
Die Sozialausgaben, klagt die Unternehmerin, machten einen großen Teil aus, und dann der Handwerkskammer-Beitrag. Auch die Gema müsse bezahlt werden, für die Musik im Laden. Hinzu kämen Strom, Wasser, Miete – Rechnungen über Rechnungen.
"Es sind immer wieder freudige Überraschungen, wenn die Post kommt. Also wir mussten natürlich die Preise erhöhen, ohne dem ging's nicht. Letzten Endes ist das natürlich eine Kette, die man da auch in Gang gesetzt hat, und der Kunde war sicherlich nicht immer erfreut da auch mehr beim Friseur zu bezahlen."
Zuvor habe ein einfacher Damen-Haarschnitt 29 Euro gekostet, jetzt seien es 30,50 Euro. Da aber alle Friseure in dieser Region ihre Preise erhöht hätten, habe der Kunde dies akzeptiert. Allerdings nicht jeder Kunde, schränkt Ludwig ein.
"Und sicherlich verändern sich manchmal auch so die Besuchszeiten, also dass man nicht mehr alle sechs Wochen kommt, sondern man kommt dann alle sieben Wochen. Und viele sicherlich können es sich dann gar nicht mehr leisten, ja. Sicherlich sind die Arbeitslosengeld-II-Empfänger da nicht mehr so zahlreich vertreten aufgrund der höheren Preise.
Mit dem Mindestlohn haben wir vieles verändert. Also wir wollten dem Kunden mehr Service bieten, wir nehmen uns mehr Zeit für den Kunden, arbeiten dann eben auch in Ruhe. Also wir schieben seltenst nur noch Kunden dazwischen, weil jeder, der einen Termin macht, der hat das Anrecht darauf, in Entspannungsatmosphäre bedient zu werden. Man kann nicht nur mehr Geld verlangen, man muss dem Kunden auch mehr bieten."
Stress für Angestellte gesunken
Die Inhaberin resümiert: Der Stress für ihre Angestellte sei gesunken und die Arbeitszufriedenheit gestiegen. Für ihr Geschäft hat sich der Mindestlohn ausgezahlt, ein Minus macht sie nicht. Allerdings glaubt Ludwig, dass andere Frieseure – ihre Mitbewerber – bei der Abrechnung schummelten.
"Man spricht davon, dass es eben Friseure gibt, die nach wie vor keinen Mindestlohn zahlen. Da müsste sich dann aber eben der Zoll auch drum kümmern. Man kennt sich ja in der Branche, ne, von den Kollegen her. Und da spricht man natürlich auch mal miteinander. Und dann hört der Eine mal was und der Andere mal was. Also es ist mir suspekt und das … könnte ich mit mir selber auch nicht vereinbaren. Ich bin ja für den Mindestlohn und freu mich ja auch, dass ich meinen Mitarbeitern diesen zahlen kann."
"DGB und SPD nach erstem Jahr zufrieden mit Mindestlohn", titelten die Zeitungen. "Von wegen Jobverluste" und "Der Mindestlohn – eine Erfolgsgeschichte". Klar ist: Millionen Niedrigverdiener freuen sich über die 8,50 Euro. Doch es gibt Ausnahmen, Betroffene.
"Die sonnigen Zeiten, die angenehmen Zeiten, die Leisure-Zeiten im Gewerbe, sind vorbei."
70 Kilometer südlich vom brandenburgischen Friseursalon sitzt Taxiunternehmer Boto Töpfer in einem Minibüro in Berlin-Charlottenburg. Töpfer locht wütend Fahrgastquittungen.
"Das war eigentlich immer so ein Prä in diesem Gewerbe, dass man sich nicht allzu sehr anstrengen durfte und ein etwas lockereres Lebens in diesem Gewerbe auch zeigen konnte – diese Zeiten sind jetzt leider vorbei."
Töpfer ist ein 1,92 Meter großer Mann mit schwarzer Brille, sandfarbenem Hemd und pinkfarbenen Socken. Auf seinem Schreibtisch türmen sich tausende Quittungs-Durchschläge - vier große Stapel, die er sorgsam in schwarze Ordner abheftet.
Neuer Umsatz-Druck für Taxifahrer
Dabei schimpft der 65-Jährige über den Mindestlohn. Töpfer holt aus: Früher seien seine Berliner Fahrer – zehn bis elf – über Provisionen bezahlt worden. Waren sie uneffektiv, hätten sie auch weniger verdient. Was bedeutet uneffektiv?
"Na uneffektiv ist zum Beispiel, sich einen Halteplatz auszusuchen, wo man weiß, dass man da in Ruhe die Zeitung auslesen kann, ohne gestört zu werden. Da gibt’s verschiedene Halteplätze – mein Musterbeispiel ist immer die Waldschulallee in Eichkamp, am Mommsenstadion, da gibt’s einen Halteplatz, da hat seit 1957 kein Fahrgast mehr eine Taxe bestiegen."
Trotz der "entspannten Arbeitseinstellung" einiger Fahrer, so der Taxichef, habe er Gewinn gemacht – weil andere Fahrer ehrgeiziger seien. So habe die Firma im Schnitt den notwendigen Stunden-Umsatz von 28 bis 30 Euro erzielen können. Doch dann sei der Mindestlohn gekommen – und die uneffektiven Fahrer hätten plötzlich mehr verdient als über die Provisionen, sie seien unrentabel geworden.
"Na es hieß in dem Falle, dass ich mich von drei Mitarbeitern trennen musste, weil die also Umsätze erwirtschafteten, die waren unter 20 Euro. Und da habe ich denn gesagt: Leute, das tut mir leid, ich kann es nicht aus meinen Guthaben finanzieren, denn die habe ich nicht."
Was trinken? Töpfer bietet seinen Gästen koffeinfreien Kaffee an, der auf einem Glas-Stövchen wartet. Der Kleinunternehmer beteuert dabei: Es sei ihm schwer gefallen, seine Mitarbeiter zu entlassen. Besonders jenen Mitarbeiter, der den neuen Umsatz-Druck gesundheitlich nicht vertragen habe.
"Ja, an einem Sonntagfrüh rief die Frau ganz aufgelöst an und sagte mir: Mein Mann hat einen Herzinfarkt bekommen. Und da habe ich selber einen Schreck gekriegt. Der hat also tatsächlich nach vier Wochen diese Anstrengung offensichtlich nicht verkraftet, dass er einen leichten Herzinfarkt bekommen hat und seitdem arbeitsunfähig ist."
Töpfer, der sein schlichtes Büro in seiner Vierraumwohnung betreibt, heftet stundenlang ab. Durch den Mindestlohn, berichtet er, sei auch der Verwaltungsaufwand gestiegen. Nun müsse er akribisch Buch führen über die Pausenzeiten seiner Fahrer. Früher habe er eineinhalb Tage gebraucht für die Monatsabrechnung, heute benötige er doppelt so lang. Letztlich seien die 8,50 Euro nur zu stemmen gewesen, weil in Berlin gleichzeitig die Taxitarife gestiegen seien. Und zwar um 14 Prozent.
"Ja! Letztendlich zahlt der Fahrgast und …da führt kein Weg dran vorbei."
Schwarze Schafe im Taxi-Gewerbe
Der Mindestlohn wäre viel leichter zu wuppen, bilanziert der Firmeninhaber, wenn es in der Branche nicht noch ein anderes Problem geben würde.
"Wir haben nämlich ein Riesenproblem mit Schwarzarbeit im Gewerbe – und wenn wir die schwarz arbeitenden Betriebe nicht hätten, dann könnten wir zwölf Euro zahlen die Stunde."
Ähnlich wie die Friseurin aus der ostdeutschen Provinz klagt auch der Taxiunternehmer über Konkurrenten, die bei der Mindestlohn-Abrechnung schummelten. Diese unlauteren Mitbewerber zahlten weniger Sozialabgaben und raubten seriösen Betrieben die Aufträge. Töpfer ist deswegen nicht gut auf die Politik zu sprechen.
"Wir hätten die Schwarzarbeit bekämpfen müssen, wir hätten sie auf ein Mindestmaß reduzieren müssen, dann hätten wir das Gesetz für den Mindestlohn uns sparen können."
Trotz vereinzelter Kritik, trotz einzelner Betroffener: Die Bundesregierung, die Gewerkschaften und auch viele Arbeitsmarktforscher loben den Mindestlohn. Er komme vor allem dort an, wo die Gehälter am niedrigsten waren – bei Ungelernten, in der Dienstleistungsbranche - und in Ostdeutschland. Die Beschäftigung sei spürbar gestiegen. So soll die untere Gehaltsgrenze im nächsten Jahr auf 8,80 Euro steigen. Der Mindestlohn – ein Glücksbringer. Dabei hatten zuvor namhafte Professoren vor einem massiven Arbeitsplatzabbau gewarnt, vor einem "Jobkiller".
Berlin-Dahlem, an der Freien Universität. Hier forscht und lehrt Ronnie Schöb, Professor für Volkswirtschaftslehre. Schöb hat im Frühjahr 2014 eine brisante Studie mitveröffentlicht – eine düstere Prognose, dass durch den Mindestlohn bis zu 900.000 Jobs verloren gingen, davon bis zu 660.000 Minijobs. Tatsächlich stieg aber die Zahl der versicherungspflichtigen Jobs – um rund 700.000. Hat der Wissenschaftler nur Stimmungsmache betrieben?
"Ja und nein!"
Schöb – 54 Jahre alt, randlose Brille, grauer Dreitagebart – räumt ein:
"Auf der einen Seite war es Stimmungsmache, weil die Stimmung so eindeutig für den Mindestlohn war, dass wir es für notwendig erachtet haben, auch mal eine kritische Gegenstimme in die Öffentlichkeit zu tragen. Uns ging es darum, auf die sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Risiken des Mindestlohnes hinzuweisen. Und ich denke, das ist uns mit dieser Studie auch gelungen."
Schlechte Prognosen nicht eingetroffen
Der Professor steht in seinem Institutsbüro vor einem braunen Bücherregal mit Fachausgaben wie "Finanzwirtschaft", "Steuerlehre" oder "Marktversagen und Wirtschaftspolitik".
Mit ein paar ausgedruckten Diagrammen in der Hand erklärt Schöb, warum seine Prognose nicht eingetreten ist.
"Der Arbeitsmarkt 2015 war enorm stabil. Wir hatten durch die extrem niedrigen Energiepreise eine Art Konjunkturprogramm, das hat sich deutlich gezeigt. Wir haben auch jetzt durch die Flüchtlingskrise und die dadurch gestiegenen Ausgaben eine Art zweites Konjunkturprogramm – auch das wirkt sich positiv auf den Arbeitsmarkt aus."
Dass seit Einführung des Mindestlohnes 700.000 neue Jobs entstanden sind – anstelle eines errechneten Abbaus von 900.000 – das irritiert den Professor nicht.
"Was wir immer gesagt haben und betont haben ist, dass unsere Zahlen langfristig zu interpretieren sind. Und da bleiben wir eigentlich bei unserem Standpunkt, gehen wir davon aus, dass spätestens bei der nächsten wirtschaftlichen Rezession der Mindestlohn gravierende Nachteile für die Beschäftigten bringen wird. Und dann befürchte ich nach wie vor, werden wir mit massiven Arbeitsplatzverlusten zu rechnen haben."
Nach Schöbs Angaben sind bereits jetzt rund 250.000 Minijobs abgebaut worden – als Folge des Mindestlohnes. Ein Teil davon sei zwar in reguläre Jobs umgewandelt worden. Aber es gebe reale Arbeitsplatzverluste.
Kurze Verwirrung: Hatten die Medien nicht von einem Rückgang um nur 95.000 Minijobs gesprochen – anstelle der 250.000? Und auf welchen Zeitraum beziehen sich die Daten? Der Professor ruft seinen Mitarbeiter an.
"Mikel, Könntest Du mir vielleicht die geringfügig Beschäftigten bis November noch mal ausdrucken und mir einfach vorbei bringen? Also einfach die Zahlen 2015, die hatten wir doch, oder?/ Ähhh … ja./ Das wäre dringend, weil ich gerade im Gespräch bin, danke!"
Sind das nun die Statistiken der Minijobzentrale? Oder der Bundesagentur für Arbeit? Oder des Arbeitsmarktspiegels? Der Professor fragt erneut seinen Mitarbeiter. Zwischendurch gesteht er, Zitat, "ich bin so schlecht in Zahlen". Jedoch ist Schöb überzeugt, dass bei der nächsten Rezession massenhaft Geringverdiener entlassen werden – wegen des Mindestlohnes.
"Danach lasse ich mich gern prügeln, wenn wir falsch gelegen haben, denn dann wäre das ein Irrtum, über den ich mich sehr freuen würde. Ich befürchte aber, dass nicht wir dann die Prügel beziehen werden."
Langzeitarbeitslose vorübergehend geringer entlohnt
Dennoch: Bislang gelten die gesetzlich vorgeschriebenen 8,50 Euro als Erfolgsgeschichte, bundesweit. Doch das Mindestlohngesetz sieht Ausnahmen vor. So dürfen Langzeitarbeitslose vorübergehend geringer entlohnt werden. Und auch viele Praktikanten.
Berlin-Mitte, im Deutschen Historischen Museum. In einem alten Treppenhaus bearbeiten zwei junge Frauen einen kunstvoll geschnitzten, eichernen Treppenlauf.
"Ist ne sehr sehr anstrengende Arbeit. Weil alles Handarbeit ist, weil alles geschliffen bzw. gebürstet wird – kommt man schon ins Schwitzen.
Die Treppen rauf und runter, auf jeden Fall habe ich da einen Muskelkater. Manchmal auch ein kleines Zwicken im Rücken oder so ein Kram, ist ne Treppe, muss man sich runterbeugen, ziemlich viel, manchmal im Sitzen, unangenehmes Sitzen, kein bequemes Sitzen."
Wir haben auch immer eine Atemmaske – ob man sie dann benutzt, ist dann die Frage des Einzelnen. Weil das sehr warm wird irgendwann, es drückt, es ist ein Gewicht noch mal extra, das vor dem Mund sitzt – es ist nicht angenehm."
Carolin Zottmann ist 22 Jahre alt, blond und trägt Handwerkerhosen. Agnieszka Kocot, 26, trägt lange braune Haare und das T-Shirt einer Rockband. Die beiden Praktikantinnen schmirgeln, streichen und polieren seit drei Monaten die denkmalgeschützte Wendeltreppe. Zudem die Fußleisten und eine massive Holztür. Zottmann und Kocot absolvieren ein Jahrespraktikum, denn sie wollen Restaurierung bzw. Holzingenieurwesen studieren. Da die Universitäten die Praktika aber vorschreiben, muss ihnen kein Arbeitgeber den Mindestlohn zahlen. So will es das Gesetz. Anfangs erhielten die beiden Frauen überhaupt kein Geld, später 300 Euro, mittlerweile sind es brutto 650 Euro im Monat. Bei viereinhalb Tagen die Woche.
"Also es reicht nicht, um alleinständig überleben zu können. Und es ist schon sehr sehr ärgerlich, immer noch von den Eltern abhängig zu sein, um überleben zu können.
Es ist halt schade, dass man noch zusehen muss, noch eventuell am Wochenende tatsächlich noch mal arbeiten zu gehen oder eben noch einen kleinen Job zu haben. Zum Beispiel Event-Auf- und Abbau gibt es am Wochenende dann halt die Möglichkeit, so was zu tun. Aber schon allein 50 Euro macht wirklich viel aus."
Praktikanten vom Mindestlohn ausgenommen
Neben den Praktikantinnen steht Matthias Vondung und hört genau zu. Der 57-Jährige – graue Haare, Brille und blaues Tuch um den Hals – ist Chef einer kleinen Berliner Restaurierungs-Firma. Vondung rechtfertigt sich.
"Bei den Praktikanten, das ist so ein Thema, was für uns nicht einfach ist. Denen würden wir auch gerne mehr bezahlen, aber das kann ich nicht machen! Ich kann einem Praktikanten keine 8,50 Euro zahlen, das geht nicht.
Ich muss es immer auch … dieser wirtschaftliche Aspekt, den darf ich einfach nicht aus dem Auge verlieren. Weil einfach die Wirtschaftslage und die Konjunktur, wie es immer heißt, im Handwerk nicht gut ist. Das wird immer so hochposaunt, wie toll das alles ist – das ist ein hartes Brot!"
Der Firmeninhaber lobt die Ausnahmen im Mindestlohngesetz: Beide Seiten profitierten davon, beteuert er, die Praktikanten bekämen auch allerhand geboten. Zum Beispiel interessante Baustellen.
"Also zum Beispiel die Baustelle hier, die ist zwar anstrengend gewesen, und mit viel Schadstoffen – aber total interessante Arbeit. Und wir arbeiten in der Staatsoper Berlin, wie arbeiten in der Staatsbibliothek – also das sind auch ganz tolle Baustellen, wo es auch wirklich schöne Arbeit gibt und auch schöne Möbel, die wir machen. Und die Praktikanten sind ja auch dazu da, noch was zu lernen und was mitzunehmen und haben jetzt nicht so den Zeitdruck wie ein Geselle, weil sie es lernen sollen, ne."
Der Chef muss zu einer Baubesprechung. Kaum ist er weg, erzählt Carolin Zottmann ihre Version.
"Natürlich ist schon Druck da. Also wir haben Aufträge, wenn die nicht bis zu einem bestimmten Zeitdruck erledigt werden, dann ist natürlich Druck da."
Trotz der anstrengenden Arbeit – und obwohl alle anderen in der Firma mehr verdienen – akzeptieren die Praktikantinnen, dass ihr Chef keinen Mindestlohn zahlt.
"Ich wüsste es nicht, dass es ein Praktikumsplatz gibt, wo es wirklich auch 8,50 Euro gibt. Man sucht auch gar nicht mit dieser Erwartung ein Praktikum, dass man wirklich die 8,50 Euro … das ist wirklich ein Traum, gibt’s einfach nicht.
Also ich habe mich an zwei Museen noch beworben – und da hätte ich keine Vergütung bekommen, gar keine. Und dementsprechend ist etwas zu haben besser als nichts zu haben."
Minigehälter für Flüchtlinge
Ortswechsel. Auf dem Gelände des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales, kurz Lageso. Es handelt sich um jene Skandaleinrichtung, die bundesweit für Schlagzeilen sorgte, weil sie überfordert war mit Massen von Asylbewerbern. Das Amt ließ die Kriegsflüchtlinge im Winter auf der Straße Schlange stehen, auch nachts. Hier findet sich eine weitere – enorm große – Gruppe, die vom Mindestlohn ausgenommen ist – bzw. ausgenommen werden soll. Darunter: Amin Jussefi.
"Ich komme aus Afghanistan. Wir haben da große Probleme mit den Taliban. Ich war im Iran, bin dann über Syrien, Slowenien und die Slowakei nach Deutschland gekommen. Hier in Berlin bin ich in einem Flüchtlingscamp gelandet."
Jussefi, 27 Jahre alt, trägt eine schwarze Jacke und weiße Turnschuhe. Mit seinem Ausweis in der Hand wartet er in einem überfüllten Raum einer Hilfsorganisation: Der Flüchtling steht nach gespendeten Hygieneartikeln an. Er sei mit seiner Frau und zwei Kindern hierher geflohen, berichtet der Migrant.
"Wir haben kein Geld! Deutschland gibt uns zwar 500 Euro Sozialunterstützung pro Monat. Doch ich kann hier nicht arbeiten. Von Beruf bin ich Bauarbeiter, ich baue Häuser. Das fehlende Geld ist wirklich ein Problem."
Draußen, vor der Tür: ein weißes Wartezelt mit Holzbänken, ein Dutzend freiwilliger Helfer in orangefarbenen Signalwesten. Und Teenager, die Fußball spielen. Mittendrin: eine 38-Jährige mit langen braunen Haaren – und Zigarette in der Hand: Diana Henniges, Leiterin der Berliner Initiative "Moabit Hilft". Mindestlohn? Henniges lacht und antwortet: Hunderttausende Flüchtlinge dürften doch gar nicht arbeiten!
"Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist abhängig vom Aufenthaltsstatus. Und der Aufenthaltsstatus ist abhängig von den bürokratischen Abläufen in den Behörden. Und dazu gehören das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Ausländerbehörde und das Landesamt für Gesundheit und Soziales. Und wenn da die bürokratischen Hürden einfach auch dazu führen, dass die Bearbeitungszeiten irre lang sind, bedeutet das teilweise, dass man ein Jahr wartet, anderthalb Jahre wartet. Manche Leute brauchen Jahre, bis sie den ersten Arbeitsschritt hier auf dem Markt hier tun können."
Dennoch jobbten viele Asylsuchende – und zwar schwarz, betont die Aktivistin. In Dönerbuden, in Restaurantküchen, Gemüseläden und Kiosken. Meistens für ein, zwei Euro die Stunde. Manchmal auch "für lau".
"Also ich kenne derzeit einen jungen Mann, der mit seinem Sohn eingereist ist aus Syrien. Und der hat jetzt über ein halbes Jahr in einem Gemüseladen gearbeitet und nur gegen Ware. Der hat ab und zu mal ein bisschen Brot gekriegt oder Gemüse, Obst. Und wenn es richtig doof lief, hatte der Besitzer des Ladens schlechte Laune, da hat der gar nichts gekriegt."
"Was hat das mit der Nationalität zu tun?"
Henniges weiß: Kein Flüchtling wehre sich gegen den Gesetzesbruch, die Arbeitgeber hätten die Notleidenden voll in der Hand.
"Dann wird ihm halt dann von dem Menschen gesagt: Hör zu, wenn Du das jetzt anzeigst, dann hat das Auswirkungen auf Dein Asylbewerberverfahren. Dann kann es sein, dass Du abgeschoben wirst. Es ist so absurd, sie sind ja halt ausgeliefert, und wir sehen das auch als moderne Sklaverei, ne."
Henniges rennt hin und her: von einer Arabisch-Übersetzerin zu einem Wachschützer, dann in ihr kleines Büro und - zurück zum Wartezelt. Und berichtet: Sie selbst habe schon Arbeitgeber angezeigt, die Asylsuchende ausbeuten. Allerdings schütze sie die Flüchtlinge, indem sie - stellvertretend für die Betroffenen - bei der Polizei aussage.
"Also ein in der Spielothek beschäftigter Flüchtling, der hat entweder 50 oder 100 Euro für eine Vollzeitstelle, häufig mit Nachtarbeit verbunden, bekommen. Im Monat. Daraufhin haben wir eine Anzeige gemacht und der hat ne sehr hohe Geldstrafe gekriegt, der Spielothekbetreiber."
Die Flüchtlingshelferin versteht nicht, warum die Syrer, Iraker und Afghanen vom Mindestlohn ausgenommen werden sollen – wie es konservative Politiker fordern. Sie wollen dadurch mehr Arbeitsplätze schaffen – auf Kosten des Lohns. Das sei doch Blödsinn, empört sich die Aktivistin. Nicht nur wegen der fehlenden Arbeitserlaubnisse, sondern auch wegen der Ungerechtigkeit.
"Ich finde, es ist ne Katastrophe, das ist eine Herabwürdigung der Arbeitsqualität eines Menschen. Und was hat das mit der Nationalität zu tun, ob jemand mehr oder weniger Geld kriegt.
Wir haben uns auf den Mindestlohn geeinigt in Deutschland – und Punkt!"