Über Hemmschwellen
Zwischenmenschliche Berührungen bei Andy Ingamells
Von Julian Kämper
Produktion: Dlf Kultur 2021
Sprecher: Markus Hoffmann, Julian Kämper
Musik berührt
54:47 Minuten
Der britische Composer-Performer Andy Ingamells setzt zwischenmenschliche Berührung als Mittel ein, um sinnliche Verbindungen zu schaffen: zu Körpern, Alltag, Popkultur – und zum Publikum.
"Musik berührt". Ausgehend von dieser überstrapazierten Metapher und der psychoakustischen Gesetzmäßigkeit, dass mit dem ganzen Körper wahrgenommen wird, widmet sich die Sendung denjenigen Arbeiten von Andy Ingamells, bei denen sich Menschen körperlich berühren. Ganz gleich, ob es sich um Hautkontakt zwischen Performer und Performer oder Performer und Publikum handelt.
Der britische Komponist und Performancekünstler, 1988 in Sheffield geboren, lässt seinen entblößten Körper von Musikern kitzeln und wie ein Instrument bespielen. Er bindet zwei Performende mit Klebeband zusammen und lässt sie auf der Bühne um eine Entfesselung ringen. Oder er lädt das Publikum dazu ein, die Musizierenden – wie im Streichelzoo – anzufassen, um deren Instrumentalspiel zu beeinflussen.
Haptische Vergewisserung
Nachdem der (Künstler)Körper im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr in den Fokus rückte und unabhängig von seiner Funktion als Klangerzeuger selbst als Leib ausgestellt wurde, wird bei Andy Ingamells die physische Präsenz der Bühnenakteure explizit, wenn sich das Publikum eben jener durch Berührung selbst vergewissern kann.
Erotische, abstoßende oder schamhafte Berührungen spielen schon in der Performancekunst der 1960er eine Rolle. Im musikgeschichtlichen Kontext fragt sich daher, wie diese Formen der Berührung klanglich wirksam werden oder per se musikalisch sein können, wie Körperberührungen stimulieren oder klingen.
Da der Mensch von der Haptik-Forschung jüngst zum "homo hapticus" erklärt worden ist, scheint die zwischenmenschliche Berührung ein existentielles Bedürfnis zu sein. Verwunderlich also, warum es im Feld der Neuen Musik so wenig haptische Konzepte gibt. Denn im buchstäblichen Sinne "hautnah" dabei ist man im Konzert für gewöhnlich wohl kaum. Bei Performances von Andy Ingamells kann das schon eher sein.