Zwischenstation Oldenburg
Sie fliehen vor dem Krieg in ihrem Land, vor den Taliban, vor dem täglichen Chaos. Als Asylsuchende kommen Afghanen nach Deutschland. Mit ihrer Heimat haben sie abgeschlossen. Ihre Hoffnung ist, für sich und ihre Familien ein neues, besseres Leben aufzubauen. Doch der Anfang ist schwierig. Erst stranden sie im Asylbewerberheim, dann beginnt das lange zermürbende Warten auf das Asylverfahren.
Niemand weiß vorher, ob sein Asylantrag angenommen oder abgelehnt wird. Manche warten Monate, sogar Jahre, bis etwas entschieden ist. Immer Angst vor einer Abschiebung. Sie leben mit mehreren Menschen in einem Zimmer, ohne eine Aufgabe oder eine Perspektive. Dabei sind viele der afghanischen Flüchtlunge gebildet und möchten gerne etwas tun.
Das Bundesland Niedersachsen gilt bei Organisationen wie Pro Asyl oder dem Flüchtlingsrat als besonders restriktiv. Vergangene Woche wurde der Innenminister Niedersachsens Uwe Schünemann am Rande der Innenministerkonferenz in Bremen von Flüchtlingsorganisationen zum "Abschiebeminister des Jahres" gewählt. Für den Länderreport hat Christina Selzer mit afghanischen Flüchtlingen über ihre Beweggründe und Wünsche gesprochen, sowohl in Oldenburg als auch in Bremen.
Khalida Nawabi hat eine gefährliche Reise hinter sich. Die Anwältin aus Afghanistan kommt im März nach Deutschland. Schleuser bringen sie im Auto nach Tadschikistan. Von dort nimmt sie den Zug nach Moskau. Mit neuem Pass fliegt sie von Moskau nach Frankfurt am Main. Ihre Reise endet in Bremen, wo sie Asyl beantragt. Sie ist aus Afghanistan geflohen, weil sie von den Taliban bedroht wurde.
"Ich stand damals unter Schock. Ich war völlig verstört. Es ging um den Fall, an dem ich zwei Jahre lang arbeitete. Die Männer kamen zu mir nach Hause. Es waren zwölf Leute, sie hatten Waffen und drohten, mich umzubringen und verlangten, dass ich meinen Fall sofort abgeben sollte."
Bis zu ihrer Flucht arbeitet Khalida als Anwältin im neuen Familienministerium in Kabul. In mehr als 100 Fällen geht es um Gewalt gegen Frauen. Ihre Klientinnen: Frauen, die von ihren Ehemännern geschlagen werden, Mädchen, die vergewaltigt oder zwangsverheiratet werden. Was immer noch weit verbreitet ist. Im Einsatz für ihre Opfer bringt sie sie die Behörden und mit ihnen mächtige Männer gegen sich auf: Taliban, Warlords.
Schikanen und Bedrohungen nehmen zu. Dann ihr letzter Fall: Ein siebenjähriges Mädchen wird vergewaltigt. Die Täter: Cousins des Provinzgouverneurs. Beweise werden vertuscht. Gutachten gefälscht. Khalida zieht vor den Obersten Gerichtshof in Kabul. Als sie schließlich mit dem Tode bedroht wird, gibt sie auf.
Khalida kommt aus einer wohlhabenden und gebildeten Familie. Ihr Vater ist Richter in Kabul, die Mutter Lehrerin:
"Ich habe nicht ein einziges Jahr in meinem Leben ohne Schule, Universität oder Arbeit verbracht. Das habe ich aus meinem Elternhaus. Oft kamen Leute zu meinen Eltern und fragten: Was soll ein Mädchen mit so viel Bildung anfangen? Lass es bleiben! Sogar mein Onkel sagte irgendwann zu meinem Vater: Das reicht doch jetzt für sie."
Doch Khalida will sich nicht an die strengen Regeln halten, die für Frauen in Afghanistan gelten. Ihr Vater bestärkt seine Tochter.
"Er hat mich inspiriert, Anwältin zu werden. Er sagte immer zu mir: Trau nicht allem, was sie im Fernsehen als Wahrheit verkünden. Suche nach der Wahrheit. Dafür habe ich immer gekämpft. Und ich dachte auch, Afghanistan würde jetzt ein demokratisches Land werden. Wir hatten ja Wahlen, ich habe sie für die Vereinten Nationen mitorganisiert. Und ich hatte auch Freiheit für mich erwartet. Deshalb habe ich auch immer alle Grenzen gesprengt, um den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen."
Doch Afghanistan ist noch zu weit davon entfernt, Frauen wie Khalida eine Zukunft zu bieten. Aber auch in Deutschland hat sie nichts.
Zurzeit macht die 29-Jährige in Bremen einen Deutsch-Anfänger-Intensivkurs, weil sie schnell die Sprache lernen will. Sie ist hochqualifiziert, spricht noch fünf weitere Sprachen, hat für die UNO gearbeitet. Jetzt wohnt sie in einer Unterbringung für Flüchtlinge in Bremen. Es ist schrecklich, dass ich nicht arbeiten kann, sagt die zierliche dunkelhaarige Frau in Jeans und Pullover und verzieht das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Im Heim will sie sich auf keinen Fall zum Interview treffen. Ihr ist jeder andere Ort in der Stadt lieber als das.
"Wenn du neu irgendwohin kommst, wo du niemanden kennst, ist das schwer. Ich habe mich irgendwie durchgebissen. Ich habe zwar immer noch keine Ahnung, wie ich aus dem Heim rauskommen kann, aber ich habe Pläne: Ich möchte anderen helfen. Ich bin sehr ehrgeizig. Egal was ich will, ich schaffe es."
Khalida ist trotz ihrer schwierigen Lage privilegiert. Da sie früher für ein Ministerium arbeitete, bekam sie Papiere, mit denen sie sich frei bewegen darf. Wenn ihr Asylantrag anerkannt werden sollte, wird sie für drei Jahre hierbleiben können.
Wer solche Kontakte nicht hat, muss in Niedersachsen nach Oldenburg, in die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, kurz ZAAB.
Weit draußen vor den Toren Oldenburgs liegt dieses Asylbewerberheim. Blankenburg ist ein ehemaliges Kloster aus dem 13. Jahrhundert. Früher war hier eine psychiatrische Klinik, später ein Aufnahmelager für DDR-Bürger. Jetzt leben hier 500 Asylbewerber. 90 Afghanen, ebenso viele Iraker, weitere Flüchtlinge aus dem Libanon und mehreren afrikanischen Ländern.
Das Heim liegt mitten im Wald, an einem See – es könnte eine schöne Gegend für Spaziergänge sein – wären da nicht die flachen Baracken, umgeben von Sicherheitszäunen. Es ist ein trister regnerischer Dezembertag. Besucher müssen sich beim Pförtner anmelden, eine Schranke sorgt dafür, dass nicht jeder unkontrolliert den Eingang passiert.
Hinter der Schranke steht Amin und winkt. Der schmale 27-jährige Mann hat ein blasses Gesicht, dunkle Haare. Seine Stimme ist sanft. Amin spricht Deutsch, deshalb kennen ihn fast alle, denn er hilft seinen Landsleuten, die neu sind in Oldenburg.
"Im Heim, die brauchen Hilfe, wenn die was nicht wissen oder etwas brauchen. Aber so Kleinigkeiten mache ich nicht. Ich kann Arabisch, persisch. Ich muss allen helfen. Aber es sind viel zu viele, das sind 100 Personen, aber ich kann nicht alle aufnehmen. Ich gehe manchmal mit ihnen zum Arzt, zum Anwalt. Ich helfe den Leuten."
Dann ist Amin dabei, führt Gespräche mit Anwälten, mit den Behörden und den Sozialarbeitern.
Er trägt einen roten Arbeitsanzug. Rot bedeutet, dass er im Asylbewerberheim einen Ein-Euro-Job macht, und für den Transport von Möbeln und Werkarbeiten zuständig ist. Wer einen grünen Anzug trägt, ist für Gärtnerarbeiten zuständig, die weißen sind für die Putztrupps.
Seit einem Jahr lebt er im Asylbewerberheim Blankenburg und hat Angst, dass er abgeschoben wird.
"Ich freue mich, wenn die mich hier einfach bleiben lassen. Wenn ich bleiben darf. Ich erwarte nicht viel. Wenn sie nicht abschieben, dann können alle sehen, was ich machen kann. Zum Beispiel sucht jemand einen Platz an der Fachhochschule für mich. Ein Professor."
Regelmäßig geht er zur Universität Oldenburg, macht Deutschkurse oder sitzt in der Bibliothek und liest. Er würde gerne in Deutschland studieren, sich weiterbilden. In Freiheit leben, arbeiten. Überall hinfahren. Doch sein Leben ist ohne Perspektive. "Ich fühle mich alt", sagt Amin traurig. Wie ein 50-Jähriger.
Amin zeigt den Weg zu afghanischen Familien - entlang der kahlen Flure. Vor jeder Tür steht ein Mülleimer. Es stinkt nach Abfällen. Rechts und links liegen quadratische Zimmer mit Stockbetten. Dreimal am Tag gibt es Essen, eine Waschküche, in den Zimmern flimmern Fernseher.
Die meisten Afghanen sind seit Monaten hier. Illegal reisten sie ein, kamen versteckt in Autos über Grenzen. Alle haben Angst vor einer Abschiebung in der Nacht.
Bundesweit stellten bis Sommer dieses Jahres 1782 Afghanen einen Asylantrag. Doppelt so viele wie im vergangenen Jahr, fünfmal so viele wie vor 2 Jahren. Nicht alle schaffen es bis nach Deutschland. Viele bleiben in Griechenland und landen dort in Sammellagern.
Dschamila Mohamadie öffnet die Tür ihres kleinen Zimmers. Ein schmales Bett, ein Kühlschrank. Sie ist seit sieben Monaten hier. Die 23-Jährige und ihr Ehemann versuchen die Zeit irgendwie herum zu kriegen. In Afghanistan arbeitete sie als Grundschullehrerin für Englisch und Persisch.
"Als ich Kinder unterrichtet hatte, bekam ich einen Brief, in dem stand: Hör auf mit dem Unterricht!"
Sie wollten nicht, dass Mädchen und Jungen zusammen unterrichtet werden. Eines Tages schossen sie auf die Schule. Und dann noch ein Brief: Falls Sie nicht aufhören, wir bringen sie um. Erst die Drohungen von den Taliban. Dann wurde die Schule in Brand gesetzt. Die junge Frau wirkt niedergeschlagen. Sie schaut aus dem Fenster in den tristen Hof. An diesem regnerischen Tag sieht die Welt noch düsterer aus. Weit weg von zuhause, wohin sie vielleicht nicht mehr zurückkehrt.
Im Zimmer von Hosseini liegen die Matratzen auf dem Boden. Ein Fernseher flimmert. Es läuft ein Programm mit orientalischen Landschaften und Musik. In einer alten Vitrine stehen die Fotos von Familienangehörigen. Er lebt mit seiner Frau und dem kleinen Sohn seit einem Jahr hier.
"Ich liebe meine Heimat, aber wenn man die Heimat verlässt, dann sucht man einen besseren Ort. Ich will meiner Familie, meiner Frau und meinem Kind ein besseres Leben bieten. In Afghanistan explodieren jeden Tag Bomben, Menschen sterben. Ich will das nicht. Wir sind unter großen Schwierigkeiten bis hierher gekommen. Es war wirklich schwer. Und jetzt brauchen wir etwas Hoffnung."
Hosseini hatte in seinem alten Leben mal ein Geschäft, in dem er Stoffe verkaufte. Jetzt hat er einen Ein-Euro-Job in der Fahrradwerkstatt des Asylbewerberheims.
Auch der gelernte Schreiner Hassadr, 31, lebt seit einem Jahr in Oldenburg.
"Ich habe mich noch nie so gelangweilt. Seit ich fünf Jahre alt bin, habe ich immer gearbeitet. Und hier tue ich überhaupt nichts. Morgens stehe ich auf, dann laufe ich herum, schlafe ein paar Stunden. Und nachts liege ich wach. Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wie es weitergeht."
Die Langeweile, das Warten ist für alle das größte Problem, erklärt Amin, der die Gespräche übersetzt: Sie sind gestrandet. Niemand braucht sie. Ob sie nun hier festsitzen und auf ihr Asylverfahren warten oder woanders in Deutschland, ist ihnen egal. Alle zwei Stunden fährt zwar ein Bus nach Oldenburg. Da können sie dann herumlaufen und sich die schönen Schaufenster anschauen – aber wozu? Oldenburg und seine Bewohner sind ihnen fremd geblieben.
Amin sagt: Komm, ich zeige Dir einen Ort, wo wir uns zuhause fühlen.
Mit dem Auto dauert es nur 10 Minuten bis zur Arche. Das ist das evangelische Gemeindehaus von Holger Rauer, dem Pastor im Nachbarstadtteil, in der Nähe des Asylbewerberheims. Er ist Seelsorger für die Bewohner des Heims. Pastor Rauer kennt das Heim schon lange.
"Wenn man als Außenstehender auf Blankenburg zukommt, kriegt man einen Schreck, es hat eine Schranke, da steht eine Wache. Man muss jemanden kennen, um reinzukommen. Wenn man erst mal drüber ist, sieht das ganz lauschig ist. Wenn man aber sieht, dass die Menschen mit mehreren Personen in ihrem Zimmer leben. Dass sie wenige Möglichkeiten haben, ihre persönlichen Dinge zu organisieren, ohne Intimsphäre, das finde ich schwierig."
Der Pastor hat einer Familie schon einmal Kirchenasyl gewährt und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die Behörden zu kritisieren. Die Angestellten im Heim müssen die Gesetze umsetzen. Und die sind besonders in Niedersachsen abschreckend und gegen die Menschen gerichtet, findet Holger Rauer.
"Wenn sie mit mehr als 40 Euro aufgegriffen werden, kann das Geld eingezogen werden und wird der ZAAB zurückgegeben. Was das bedeutet: 19,80 Taschengeld alle zwei Wochen. Keine Möglichkeit ihre eigenen Essgewohnheiten. Sie haben die Möglichkeit, 1-Euro-Arbeit zu leisten. Dann haben sie mehr Geld. Werden sie bei der Polizei erwischt, müssen sie das abgeben, können das aber wiederbekommen. Sie geben 100 Euro ab, weil sie denken, ihr Licht wäre kaputt. Das ist schon sehr eigenartig. Überhaupt ihre ganze Lebenssituation vor den Toren der Stadt. Stellen sie sich mal vor, Sie sind auf den Bus angewiesen. Was kostet eine Busfahrt? Da können sie dreimal fahren und dann ist das Geld weg."
Die meisten kennen den Pastor von den Gottesdiensten, die jeden Sonntag auf dem Gelände des Asylbewerberheims stattfinden. Die sind für alle, egal welcher Religion sie angehören, betont Rauer.
"Das erste was wir tun, als Kirchengemeinde, ist freundlich sein, Wir gehen übers Gelände, grüßen jeden freundlich, nehmen jeden an, egal ob Moslem, Christ oder was auch immer. Die an vielen Ecken auch ehrenamtlich in der Gemeinde arbeiten. Für uns sind sie ein Reichtum, keine Belastung."
Das zeigt sich auch darin, dass Afghanen vom Islam zum Christentum konvertieren, sagt Pastor Rauer. Das Thema möchte er allerdings nicht an die große Glocke hängen. Denn zum einen wird er manchmal dafür kritisiert, dass er missioniere. Er möchte aber auch nicht darüber sprechen, weil er die Konvertierten damit in Gefahr bringen könnte.
"Sie unterschreiben mir, wenn sie Christ werden wollen, wenn sie getauft werden wollen, dass sie wissen, dass sie in vielen Ländern der Erde mit dem Tod bedroht sind. Dass wir als Gemeinde uns deren Wünschen nicht verschließen, wenn die getauft werden wollen, können sie einen Taufkurs machen, machen eine Prüfung und die beinhaltet, dass die Menschen wissen, was sie tun, dann verschließen wir uns nicht. Dann sagen wir okay."
In der Bibelstunde ist auch Nagib aus Herat. Der 35-Jährige ist konvertiert.
"Ich hatte schon vor Längerem etwas über Christentum gehört. Dann kam ich hierher, und lernte es besser kennen. Und dann bin ich konvertiert. Gott hat mir diese Freiheit gegeben, ich finde das Christentum nun mal besser als andere Religionen. Das sage ich ganz offen. Ich habe kein Problem damit."
Wenn ein muslimischer Flüchtling aus Afghanistan Christ wird, dann gibt es für ihn kein zurück mehr. Im Land der Taliban sind Christen mit dem Tod bedroht. Wer aus Glaubensgründen konvertiert und wer dies tut, um Asyl zu bekommen - das lässt sich nicht mit Sicherheit herausfinden.
Fest steht: Wer Christ ist, hat bessere Chancen, dass sein Asylantrag anerkannt wird, erklärt Mareike Kämpf. Die Anwältin hat ihre Kanzlei im Zentrum Oldenburgs und ist auf Asyl- und Ausländerrecht spezialisiert.
Auch wer angibt, homosexuell zu sein, bekommt leichter Asyl, sagt sie, weil in Afghanistan der Tod droht. Ob das, was die Flüchtlinge ihr erzählen, stimmt, kann die Anwältin nicht nachprüfen. Ihr Job ist es, zu helfen. Ihren Mandanten soll Asyl gewährt werden.
"Sie sind in ihrem Heimatland aufgebrochen, vermutlich länger vorbereitet, weil fast alle über Schleuserorganisationen hier herkommen und dafür Geld gesammelt werden musste, weil die Fahrt finanziert werden musste. Dann kommen sie an und haben erst mal das Gefühl, sie haben es geschafft, aber das ist ja trügerisch. Weil eigentlich fängt ja dann das Asylverfahren an, das ist ein ganz langer Zeitraum, der sich manchmal über Jahre hinstreckt."
Dann warten sie auf den "Bescheid", Mareike Kämpf behauptet, dass sei eines der ersten deutschen Worte, die ein Flüchtling lernt.
Die Anerkennungsquote ist generell minimal. Sie liegt unter einem Prozent. Für Afghanen ist die Perspektive besser. Sie nehmen daher die lange gefährliche Reise in Kauf und setzen alles auf die Karte Deutschland.
"Die aus dem Nahen Osten kommen, landen viele zuerst in Griechenland. Da sind die Bedingungen aber so schlecht, dass viele weiterreisen nach Deutschland. Deshalb war es bis vor Kurzem üblich, abgelehnte Asylbewerber aus Deutschland nach Griechenland abzuschieben."
Aufgrund der verheerenden Zustände in den Sammellagern Griechenlands hat das Bundesverfassungsgericht im September erstmalig eine Abschiebung nach Griechenland gestoppt. Seitdem wird darüber diskutiert, Rückführungen nach Griechenland komplett auszusetzen. Die Angst vor einer Abschiebung haben die Asylbewerber aber doch. Sie hören von anderen, die mitten in der Nacht abgeholt wurden. Im Bundesland Niedersachsen wird besonders oft abgeschoben, sagt Mareike Kämpf. Dennoch: Zurück wollen die wenigsten. Da ist sie sicher.
"Dass in absehbarer Zeit für junge Menschen in ihrem Land eine Perspektive aufgebaut ist, das kann man sich einfach nicht vorstellen.""
Für Manfred Köhler sind die afghanischen Flüchtlinge keine besondere Gruppe. Alle 550 Bewohner sind "konfliktbelastet", sagt der Leiter des Asylbewerberheims Blankenburg. Die Belegschaft wandelt sich ständig.
"Wir sind eine Erstaufnahmeeinrichtung und Gemeinschaftsunterkunft. Das heißt nach drei Monaten wird entschieden, gehen sie in die Gemeinschaftsunterkunft oder, wenn wir keinen Platz haben, gehen sie in die Kommune. Vor ein paar Monaten hatten wir noch Kapazitäten. Sodass wir jetzt Leute haben, die wohnen hier ein Jahr, anderthalb Jahre, auch aus Afghanistan."
Mittagszeit in der Kantine: Zur Essensausgabe stehen die Bewohner Schlange. Es gibt wie fast jeden Tag Nudeln mit Tomatensauce oder Fleisch und Salat. Keine Oldenburger Spezialitäten, aber auch keine orientalischen. Auf kulturell bedingte unterschiedliche Essgewohnheiten wird keine Rücksicht genommen. Es ist ja schließlich kein Landschulheim, sagt Sozialarbeiter Manfred Täusch. "Wir sind aber kein Knast", darauf legt er Wert. Auch wenn nicht einfach jeder auf das Gelände darf und Besucher die Gebäude um 22 Uhr verlassen müssen, gibt es kaum Einschränkungen, sagt Täusch. Dennoch hat sich das Leben im Asylbewerberheim in den letzten Jahren sehr verändert.
"Ich bin zu der Zeit hier gestartet, als 500.000 Asylbewerber im Jahr nach Deutschland kamen. Da war das eine Massenabfertigung. Davon nahm Niedersachsen 9 Prozent auf, davon kam die Hälfte nach Oldenburg. Wir hatten einen hohen Durchlauf. Es war kaum ein Asylbewerber hier, der länger als vier Wochen hier verweilt ist, dann mussten sie raus, wurden auf die Gemeinden verteilt, weil wir Platz für die Neuankömmlinge brauchten. Das hat sich verschoben, im Moment gehen wir von 30.000 bis 35.000 Asylbewerbern im Jahr aus, für Gesamtdeutschland. Wobei wieder 9 Prozent auf Niedersachsen fallen, sodass man sich ausrechnen kann, was in Oldenburg noch ankommt. Wir haben hier sehr lange Standzeiten."
Weniger Menschen suchen Asyl in Deutschland. Doch aus Afghanistan kommen mehr als noch vor zwei Jahren. Menschen aus allen Landesteilen und sozialen Schichten. Die Lehrerin ebenso wie der Schreiner. Afghanistan ist nicht nur ferne Außenpolitik, sondern die Gestrandeten des Krieges leben vor unserer Tür.
Wie Khalida Nawabi, die Anwältin aus Kabul. Von anderen Flüchtlingsfamilien wird sie oft komisch angeguckt: so ganz allein, ohne Mann. Aber sie hat andere Pläne, als zu heiraten. Sie will frei sein. Jetzt schreibt sie ein Buch über ihre Mandantinnen, die sie zurücklassen musste, und den Kampf gegen die Behörden in Afghanistan. Für ihre Heimat sieht sie nur wenig Perspektiven. Ob sie jemals zurückkehren wird, weiß sie nicht.
"Es hängt davon ab, ob sich dort etwas ändert. Ich sehe die Offiziellen, die Warlords. All diese unqualifizierten und unprofessionellen Leute in hohen Positionen, die nicht wissen, was sie tun. Ich sehe, dass die richtigen Leute nicht in den richtigen Positionen sitzen. Obwohl wir Wahlen hatten, kamen dieselben Leute wieder an die Macht. Es hat sich nichts geändert. Deshalb bin ich nicht nur enttäuscht, sondern wütend."
Oldenburg oder Bremen, das sind vielleicht nur Zwischenstationen. Wo Khalida eine neue Heimat finden wird, hängt davon ab, ob sie mit ihrer Ausbildung in Deutschland etwas anfangen kann. Sonst droht ihr, hochqualifiziert und motiviert, nur ein Leben im Wartestand.
Das Bundesland Niedersachsen gilt bei Organisationen wie Pro Asyl oder dem Flüchtlingsrat als besonders restriktiv. Vergangene Woche wurde der Innenminister Niedersachsens Uwe Schünemann am Rande der Innenministerkonferenz in Bremen von Flüchtlingsorganisationen zum "Abschiebeminister des Jahres" gewählt. Für den Länderreport hat Christina Selzer mit afghanischen Flüchtlingen über ihre Beweggründe und Wünsche gesprochen, sowohl in Oldenburg als auch in Bremen.
Khalida Nawabi hat eine gefährliche Reise hinter sich. Die Anwältin aus Afghanistan kommt im März nach Deutschland. Schleuser bringen sie im Auto nach Tadschikistan. Von dort nimmt sie den Zug nach Moskau. Mit neuem Pass fliegt sie von Moskau nach Frankfurt am Main. Ihre Reise endet in Bremen, wo sie Asyl beantragt. Sie ist aus Afghanistan geflohen, weil sie von den Taliban bedroht wurde.
"Ich stand damals unter Schock. Ich war völlig verstört. Es ging um den Fall, an dem ich zwei Jahre lang arbeitete. Die Männer kamen zu mir nach Hause. Es waren zwölf Leute, sie hatten Waffen und drohten, mich umzubringen und verlangten, dass ich meinen Fall sofort abgeben sollte."
Bis zu ihrer Flucht arbeitet Khalida als Anwältin im neuen Familienministerium in Kabul. In mehr als 100 Fällen geht es um Gewalt gegen Frauen. Ihre Klientinnen: Frauen, die von ihren Ehemännern geschlagen werden, Mädchen, die vergewaltigt oder zwangsverheiratet werden. Was immer noch weit verbreitet ist. Im Einsatz für ihre Opfer bringt sie sie die Behörden und mit ihnen mächtige Männer gegen sich auf: Taliban, Warlords.
Schikanen und Bedrohungen nehmen zu. Dann ihr letzter Fall: Ein siebenjähriges Mädchen wird vergewaltigt. Die Täter: Cousins des Provinzgouverneurs. Beweise werden vertuscht. Gutachten gefälscht. Khalida zieht vor den Obersten Gerichtshof in Kabul. Als sie schließlich mit dem Tode bedroht wird, gibt sie auf.
Khalida kommt aus einer wohlhabenden und gebildeten Familie. Ihr Vater ist Richter in Kabul, die Mutter Lehrerin:
"Ich habe nicht ein einziges Jahr in meinem Leben ohne Schule, Universität oder Arbeit verbracht. Das habe ich aus meinem Elternhaus. Oft kamen Leute zu meinen Eltern und fragten: Was soll ein Mädchen mit so viel Bildung anfangen? Lass es bleiben! Sogar mein Onkel sagte irgendwann zu meinem Vater: Das reicht doch jetzt für sie."
Doch Khalida will sich nicht an die strengen Regeln halten, die für Frauen in Afghanistan gelten. Ihr Vater bestärkt seine Tochter.
"Er hat mich inspiriert, Anwältin zu werden. Er sagte immer zu mir: Trau nicht allem, was sie im Fernsehen als Wahrheit verkünden. Suche nach der Wahrheit. Dafür habe ich immer gekämpft. Und ich dachte auch, Afghanistan würde jetzt ein demokratisches Land werden. Wir hatten ja Wahlen, ich habe sie für die Vereinten Nationen mitorganisiert. Und ich hatte auch Freiheit für mich erwartet. Deshalb habe ich auch immer alle Grenzen gesprengt, um den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen."
Doch Afghanistan ist noch zu weit davon entfernt, Frauen wie Khalida eine Zukunft zu bieten. Aber auch in Deutschland hat sie nichts.
Zurzeit macht die 29-Jährige in Bremen einen Deutsch-Anfänger-Intensivkurs, weil sie schnell die Sprache lernen will. Sie ist hochqualifiziert, spricht noch fünf weitere Sprachen, hat für die UNO gearbeitet. Jetzt wohnt sie in einer Unterbringung für Flüchtlinge in Bremen. Es ist schrecklich, dass ich nicht arbeiten kann, sagt die zierliche dunkelhaarige Frau in Jeans und Pullover und verzieht das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Im Heim will sie sich auf keinen Fall zum Interview treffen. Ihr ist jeder andere Ort in der Stadt lieber als das.
"Wenn du neu irgendwohin kommst, wo du niemanden kennst, ist das schwer. Ich habe mich irgendwie durchgebissen. Ich habe zwar immer noch keine Ahnung, wie ich aus dem Heim rauskommen kann, aber ich habe Pläne: Ich möchte anderen helfen. Ich bin sehr ehrgeizig. Egal was ich will, ich schaffe es."
Khalida ist trotz ihrer schwierigen Lage privilegiert. Da sie früher für ein Ministerium arbeitete, bekam sie Papiere, mit denen sie sich frei bewegen darf. Wenn ihr Asylantrag anerkannt werden sollte, wird sie für drei Jahre hierbleiben können.
Wer solche Kontakte nicht hat, muss in Niedersachsen nach Oldenburg, in die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber, kurz ZAAB.
Weit draußen vor den Toren Oldenburgs liegt dieses Asylbewerberheim. Blankenburg ist ein ehemaliges Kloster aus dem 13. Jahrhundert. Früher war hier eine psychiatrische Klinik, später ein Aufnahmelager für DDR-Bürger. Jetzt leben hier 500 Asylbewerber. 90 Afghanen, ebenso viele Iraker, weitere Flüchtlinge aus dem Libanon und mehreren afrikanischen Ländern.
Das Heim liegt mitten im Wald, an einem See – es könnte eine schöne Gegend für Spaziergänge sein – wären da nicht die flachen Baracken, umgeben von Sicherheitszäunen. Es ist ein trister regnerischer Dezembertag. Besucher müssen sich beim Pförtner anmelden, eine Schranke sorgt dafür, dass nicht jeder unkontrolliert den Eingang passiert.
Hinter der Schranke steht Amin und winkt. Der schmale 27-jährige Mann hat ein blasses Gesicht, dunkle Haare. Seine Stimme ist sanft. Amin spricht Deutsch, deshalb kennen ihn fast alle, denn er hilft seinen Landsleuten, die neu sind in Oldenburg.
"Im Heim, die brauchen Hilfe, wenn die was nicht wissen oder etwas brauchen. Aber so Kleinigkeiten mache ich nicht. Ich kann Arabisch, persisch. Ich muss allen helfen. Aber es sind viel zu viele, das sind 100 Personen, aber ich kann nicht alle aufnehmen. Ich gehe manchmal mit ihnen zum Arzt, zum Anwalt. Ich helfe den Leuten."
Dann ist Amin dabei, führt Gespräche mit Anwälten, mit den Behörden und den Sozialarbeitern.
Er trägt einen roten Arbeitsanzug. Rot bedeutet, dass er im Asylbewerberheim einen Ein-Euro-Job macht, und für den Transport von Möbeln und Werkarbeiten zuständig ist. Wer einen grünen Anzug trägt, ist für Gärtnerarbeiten zuständig, die weißen sind für die Putztrupps.
Seit einem Jahr lebt er im Asylbewerberheim Blankenburg und hat Angst, dass er abgeschoben wird.
"Ich freue mich, wenn die mich hier einfach bleiben lassen. Wenn ich bleiben darf. Ich erwarte nicht viel. Wenn sie nicht abschieben, dann können alle sehen, was ich machen kann. Zum Beispiel sucht jemand einen Platz an der Fachhochschule für mich. Ein Professor."
Regelmäßig geht er zur Universität Oldenburg, macht Deutschkurse oder sitzt in der Bibliothek und liest. Er würde gerne in Deutschland studieren, sich weiterbilden. In Freiheit leben, arbeiten. Überall hinfahren. Doch sein Leben ist ohne Perspektive. "Ich fühle mich alt", sagt Amin traurig. Wie ein 50-Jähriger.
Amin zeigt den Weg zu afghanischen Familien - entlang der kahlen Flure. Vor jeder Tür steht ein Mülleimer. Es stinkt nach Abfällen. Rechts und links liegen quadratische Zimmer mit Stockbetten. Dreimal am Tag gibt es Essen, eine Waschküche, in den Zimmern flimmern Fernseher.
Die meisten Afghanen sind seit Monaten hier. Illegal reisten sie ein, kamen versteckt in Autos über Grenzen. Alle haben Angst vor einer Abschiebung in der Nacht.
Bundesweit stellten bis Sommer dieses Jahres 1782 Afghanen einen Asylantrag. Doppelt so viele wie im vergangenen Jahr, fünfmal so viele wie vor 2 Jahren. Nicht alle schaffen es bis nach Deutschland. Viele bleiben in Griechenland und landen dort in Sammellagern.
Dschamila Mohamadie öffnet die Tür ihres kleinen Zimmers. Ein schmales Bett, ein Kühlschrank. Sie ist seit sieben Monaten hier. Die 23-Jährige und ihr Ehemann versuchen die Zeit irgendwie herum zu kriegen. In Afghanistan arbeitete sie als Grundschullehrerin für Englisch und Persisch.
"Als ich Kinder unterrichtet hatte, bekam ich einen Brief, in dem stand: Hör auf mit dem Unterricht!"
Sie wollten nicht, dass Mädchen und Jungen zusammen unterrichtet werden. Eines Tages schossen sie auf die Schule. Und dann noch ein Brief: Falls Sie nicht aufhören, wir bringen sie um. Erst die Drohungen von den Taliban. Dann wurde die Schule in Brand gesetzt. Die junge Frau wirkt niedergeschlagen. Sie schaut aus dem Fenster in den tristen Hof. An diesem regnerischen Tag sieht die Welt noch düsterer aus. Weit weg von zuhause, wohin sie vielleicht nicht mehr zurückkehrt.
Im Zimmer von Hosseini liegen die Matratzen auf dem Boden. Ein Fernseher flimmert. Es läuft ein Programm mit orientalischen Landschaften und Musik. In einer alten Vitrine stehen die Fotos von Familienangehörigen. Er lebt mit seiner Frau und dem kleinen Sohn seit einem Jahr hier.
"Ich liebe meine Heimat, aber wenn man die Heimat verlässt, dann sucht man einen besseren Ort. Ich will meiner Familie, meiner Frau und meinem Kind ein besseres Leben bieten. In Afghanistan explodieren jeden Tag Bomben, Menschen sterben. Ich will das nicht. Wir sind unter großen Schwierigkeiten bis hierher gekommen. Es war wirklich schwer. Und jetzt brauchen wir etwas Hoffnung."
Hosseini hatte in seinem alten Leben mal ein Geschäft, in dem er Stoffe verkaufte. Jetzt hat er einen Ein-Euro-Job in der Fahrradwerkstatt des Asylbewerberheims.
Auch der gelernte Schreiner Hassadr, 31, lebt seit einem Jahr in Oldenburg.
"Ich habe mich noch nie so gelangweilt. Seit ich fünf Jahre alt bin, habe ich immer gearbeitet. Und hier tue ich überhaupt nichts. Morgens stehe ich auf, dann laufe ich herum, schlafe ein paar Stunden. Und nachts liege ich wach. Ich habe Angst. Ich weiß nicht, wie es weitergeht."
Die Langeweile, das Warten ist für alle das größte Problem, erklärt Amin, der die Gespräche übersetzt: Sie sind gestrandet. Niemand braucht sie. Ob sie nun hier festsitzen und auf ihr Asylverfahren warten oder woanders in Deutschland, ist ihnen egal. Alle zwei Stunden fährt zwar ein Bus nach Oldenburg. Da können sie dann herumlaufen und sich die schönen Schaufenster anschauen – aber wozu? Oldenburg und seine Bewohner sind ihnen fremd geblieben.
Amin sagt: Komm, ich zeige Dir einen Ort, wo wir uns zuhause fühlen.
Mit dem Auto dauert es nur 10 Minuten bis zur Arche. Das ist das evangelische Gemeindehaus von Holger Rauer, dem Pastor im Nachbarstadtteil, in der Nähe des Asylbewerberheims. Er ist Seelsorger für die Bewohner des Heims. Pastor Rauer kennt das Heim schon lange.
"Wenn man als Außenstehender auf Blankenburg zukommt, kriegt man einen Schreck, es hat eine Schranke, da steht eine Wache. Man muss jemanden kennen, um reinzukommen. Wenn man erst mal drüber ist, sieht das ganz lauschig ist. Wenn man aber sieht, dass die Menschen mit mehreren Personen in ihrem Zimmer leben. Dass sie wenige Möglichkeiten haben, ihre persönlichen Dinge zu organisieren, ohne Intimsphäre, das finde ich schwierig."
Der Pastor hat einer Familie schon einmal Kirchenasyl gewährt und nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, die Behörden zu kritisieren. Die Angestellten im Heim müssen die Gesetze umsetzen. Und die sind besonders in Niedersachsen abschreckend und gegen die Menschen gerichtet, findet Holger Rauer.
"Wenn sie mit mehr als 40 Euro aufgegriffen werden, kann das Geld eingezogen werden und wird der ZAAB zurückgegeben. Was das bedeutet: 19,80 Taschengeld alle zwei Wochen. Keine Möglichkeit ihre eigenen Essgewohnheiten. Sie haben die Möglichkeit, 1-Euro-Arbeit zu leisten. Dann haben sie mehr Geld. Werden sie bei der Polizei erwischt, müssen sie das abgeben, können das aber wiederbekommen. Sie geben 100 Euro ab, weil sie denken, ihr Licht wäre kaputt. Das ist schon sehr eigenartig. Überhaupt ihre ganze Lebenssituation vor den Toren der Stadt. Stellen sie sich mal vor, Sie sind auf den Bus angewiesen. Was kostet eine Busfahrt? Da können sie dreimal fahren und dann ist das Geld weg."
Die meisten kennen den Pastor von den Gottesdiensten, die jeden Sonntag auf dem Gelände des Asylbewerberheims stattfinden. Die sind für alle, egal welcher Religion sie angehören, betont Rauer.
"Das erste was wir tun, als Kirchengemeinde, ist freundlich sein, Wir gehen übers Gelände, grüßen jeden freundlich, nehmen jeden an, egal ob Moslem, Christ oder was auch immer. Die an vielen Ecken auch ehrenamtlich in der Gemeinde arbeiten. Für uns sind sie ein Reichtum, keine Belastung."
Das zeigt sich auch darin, dass Afghanen vom Islam zum Christentum konvertieren, sagt Pastor Rauer. Das Thema möchte er allerdings nicht an die große Glocke hängen. Denn zum einen wird er manchmal dafür kritisiert, dass er missioniere. Er möchte aber auch nicht darüber sprechen, weil er die Konvertierten damit in Gefahr bringen könnte.
"Sie unterschreiben mir, wenn sie Christ werden wollen, wenn sie getauft werden wollen, dass sie wissen, dass sie in vielen Ländern der Erde mit dem Tod bedroht sind. Dass wir als Gemeinde uns deren Wünschen nicht verschließen, wenn die getauft werden wollen, können sie einen Taufkurs machen, machen eine Prüfung und die beinhaltet, dass die Menschen wissen, was sie tun, dann verschließen wir uns nicht. Dann sagen wir okay."
In der Bibelstunde ist auch Nagib aus Herat. Der 35-Jährige ist konvertiert.
"Ich hatte schon vor Längerem etwas über Christentum gehört. Dann kam ich hierher, und lernte es besser kennen. Und dann bin ich konvertiert. Gott hat mir diese Freiheit gegeben, ich finde das Christentum nun mal besser als andere Religionen. Das sage ich ganz offen. Ich habe kein Problem damit."
Wenn ein muslimischer Flüchtling aus Afghanistan Christ wird, dann gibt es für ihn kein zurück mehr. Im Land der Taliban sind Christen mit dem Tod bedroht. Wer aus Glaubensgründen konvertiert und wer dies tut, um Asyl zu bekommen - das lässt sich nicht mit Sicherheit herausfinden.
Fest steht: Wer Christ ist, hat bessere Chancen, dass sein Asylantrag anerkannt wird, erklärt Mareike Kämpf. Die Anwältin hat ihre Kanzlei im Zentrum Oldenburgs und ist auf Asyl- und Ausländerrecht spezialisiert.
Auch wer angibt, homosexuell zu sein, bekommt leichter Asyl, sagt sie, weil in Afghanistan der Tod droht. Ob das, was die Flüchtlinge ihr erzählen, stimmt, kann die Anwältin nicht nachprüfen. Ihr Job ist es, zu helfen. Ihren Mandanten soll Asyl gewährt werden.
"Sie sind in ihrem Heimatland aufgebrochen, vermutlich länger vorbereitet, weil fast alle über Schleuserorganisationen hier herkommen und dafür Geld gesammelt werden musste, weil die Fahrt finanziert werden musste. Dann kommen sie an und haben erst mal das Gefühl, sie haben es geschafft, aber das ist ja trügerisch. Weil eigentlich fängt ja dann das Asylverfahren an, das ist ein ganz langer Zeitraum, der sich manchmal über Jahre hinstreckt."
Dann warten sie auf den "Bescheid", Mareike Kämpf behauptet, dass sei eines der ersten deutschen Worte, die ein Flüchtling lernt.
Die Anerkennungsquote ist generell minimal. Sie liegt unter einem Prozent. Für Afghanen ist die Perspektive besser. Sie nehmen daher die lange gefährliche Reise in Kauf und setzen alles auf die Karte Deutschland.
"Die aus dem Nahen Osten kommen, landen viele zuerst in Griechenland. Da sind die Bedingungen aber so schlecht, dass viele weiterreisen nach Deutschland. Deshalb war es bis vor Kurzem üblich, abgelehnte Asylbewerber aus Deutschland nach Griechenland abzuschieben."
Aufgrund der verheerenden Zustände in den Sammellagern Griechenlands hat das Bundesverfassungsgericht im September erstmalig eine Abschiebung nach Griechenland gestoppt. Seitdem wird darüber diskutiert, Rückführungen nach Griechenland komplett auszusetzen. Die Angst vor einer Abschiebung haben die Asylbewerber aber doch. Sie hören von anderen, die mitten in der Nacht abgeholt wurden. Im Bundesland Niedersachsen wird besonders oft abgeschoben, sagt Mareike Kämpf. Dennoch: Zurück wollen die wenigsten. Da ist sie sicher.
"Dass in absehbarer Zeit für junge Menschen in ihrem Land eine Perspektive aufgebaut ist, das kann man sich einfach nicht vorstellen.""
Für Manfred Köhler sind die afghanischen Flüchtlinge keine besondere Gruppe. Alle 550 Bewohner sind "konfliktbelastet", sagt der Leiter des Asylbewerberheims Blankenburg. Die Belegschaft wandelt sich ständig.
"Wir sind eine Erstaufnahmeeinrichtung und Gemeinschaftsunterkunft. Das heißt nach drei Monaten wird entschieden, gehen sie in die Gemeinschaftsunterkunft oder, wenn wir keinen Platz haben, gehen sie in die Kommune. Vor ein paar Monaten hatten wir noch Kapazitäten. Sodass wir jetzt Leute haben, die wohnen hier ein Jahr, anderthalb Jahre, auch aus Afghanistan."
Mittagszeit in der Kantine: Zur Essensausgabe stehen die Bewohner Schlange. Es gibt wie fast jeden Tag Nudeln mit Tomatensauce oder Fleisch und Salat. Keine Oldenburger Spezialitäten, aber auch keine orientalischen. Auf kulturell bedingte unterschiedliche Essgewohnheiten wird keine Rücksicht genommen. Es ist ja schließlich kein Landschulheim, sagt Sozialarbeiter Manfred Täusch. "Wir sind aber kein Knast", darauf legt er Wert. Auch wenn nicht einfach jeder auf das Gelände darf und Besucher die Gebäude um 22 Uhr verlassen müssen, gibt es kaum Einschränkungen, sagt Täusch. Dennoch hat sich das Leben im Asylbewerberheim in den letzten Jahren sehr verändert.
"Ich bin zu der Zeit hier gestartet, als 500.000 Asylbewerber im Jahr nach Deutschland kamen. Da war das eine Massenabfertigung. Davon nahm Niedersachsen 9 Prozent auf, davon kam die Hälfte nach Oldenburg. Wir hatten einen hohen Durchlauf. Es war kaum ein Asylbewerber hier, der länger als vier Wochen hier verweilt ist, dann mussten sie raus, wurden auf die Gemeinden verteilt, weil wir Platz für die Neuankömmlinge brauchten. Das hat sich verschoben, im Moment gehen wir von 30.000 bis 35.000 Asylbewerbern im Jahr aus, für Gesamtdeutschland. Wobei wieder 9 Prozent auf Niedersachsen fallen, sodass man sich ausrechnen kann, was in Oldenburg noch ankommt. Wir haben hier sehr lange Standzeiten."
Weniger Menschen suchen Asyl in Deutschland. Doch aus Afghanistan kommen mehr als noch vor zwei Jahren. Menschen aus allen Landesteilen und sozialen Schichten. Die Lehrerin ebenso wie der Schreiner. Afghanistan ist nicht nur ferne Außenpolitik, sondern die Gestrandeten des Krieges leben vor unserer Tür.
Wie Khalida Nawabi, die Anwältin aus Kabul. Von anderen Flüchtlingsfamilien wird sie oft komisch angeguckt: so ganz allein, ohne Mann. Aber sie hat andere Pläne, als zu heiraten. Sie will frei sein. Jetzt schreibt sie ein Buch über ihre Mandantinnen, die sie zurücklassen musste, und den Kampf gegen die Behörden in Afghanistan. Für ihre Heimat sieht sie nur wenig Perspektiven. Ob sie jemals zurückkehren wird, weiß sie nicht.
"Es hängt davon ab, ob sich dort etwas ändert. Ich sehe die Offiziellen, die Warlords. All diese unqualifizierten und unprofessionellen Leute in hohen Positionen, die nicht wissen, was sie tun. Ich sehe, dass die richtigen Leute nicht in den richtigen Positionen sitzen. Obwohl wir Wahlen hatten, kamen dieselben Leute wieder an die Macht. Es hat sich nichts geändert. Deshalb bin ich nicht nur enttäuscht, sondern wütend."
Oldenburg oder Bremen, das sind vielleicht nur Zwischenstationen. Wo Khalida eine neue Heimat finden wird, hängt davon ab, ob sie mit ihrer Ausbildung in Deutschland etwas anfangen kann. Sonst droht ihr, hochqualifiziert und motiviert, nur ein Leben im Wartestand.