Zwischentöne des Miteinanders

13 Jahre hat sich Anne Michaels Zeit gelassen, um ihren zweiten Roman zu schreiben. Ihr Debüt "Fluchtstücke" katapultierte sie damals ins Rampenlicht der Literaturwelt. Mit "Wintergewölbe" gelingt Michaels nun erneut ein Glanzstück.
Mit drei in Kanada hoch gelobten Gedichtbänden hatte sie bereits auf sich aufmerksam gemacht. Doch erst ihr Debütroman "Fluchtstücke" katapultierte sie unverhofft ins Rampenlicht der Literaturwelt. Der stürmte weltweit die Beststellerlisten und bescherte der scheuen und zurückhaltenden Schriftstellerin zahlreiche Preise.

Umso gespannter wartete man auf ihren zweiten Roman. 13 Jahre hat sich Anne Michaels Zeit gelassen "Wintergewölbe" zu schreiben - angesichts der poetischen Sprache sollte man eher sagen zu dichten: In der schnelllebigen Literaturbranche eine kleine Ewigkeit. Doch die Wartezeit hat sich gelohnt. Wieder ist Anne Michaels ein Text von tiefem Verständnis für menschliche Schwächen und von berückender Überzeugungskraft gelungen.
Sie erweist sich erneut als sensible Beobachterin zwischenmenschlicher Beziehungen und Verstörungen, versteht sich auf die leisen, feinen Zwischentöne.
So wie Anne Michaels die Liebesgeschichte von Jean und Avery erzählt, hat man das Gefühl, sie noch nie gelesen zu haben. Wir treffen die beiden am Ufer des Nils, der gerade für den Bau des Nasser-Staudamms aufgestaut wird. Auf Averys Schultern lastet die Verantwortung, die Götterstatuen des Abu Simbel Tempels vor dem Versinken zu retten. Vorsichtig auseinander geschnitten sollen sie an höherem Platz wieder originalgetreu zusammengesetzt werden.

Eine nicht nur fachlich, sondern auch moralisch extrem heikle Aufgabe für den skrupulösen Ingenieur, denn mit dem Staudamm wird der Lebensraum zahlreicher Menschen zerstört. Mit dem Tempelgelände versinkt in den Fluten des Nil eine ganze Kultur. Beide spüren deutlich diesen Verlust. Das macht sie sensibel für ihre eigene Geschichte. Sie öffnen sich einander, erzählen sich gegenseitig ihr Leben, reden von Verlusten, Hoffnungen, Wünschen, Sehnsüchten. Anne Michaels geht es dabei auch um die Grundsatzfrage, ob für den technischen Fortschritt die natürliche Umwelt geopfert werden darf. Doch wie sie das einflicht, wirkt es nie aufgesetzt oder fremd.

Jean wird in dieser Zeit schwanger. Doch sie verliert das Kind und damit auch ein Stück weit sich selbst. Die große Liebe zu Avery wird einer harten Bewährungsprobe unterzogen, denn es gelingt ihnen nicht, über den schmerzlichen Verlust zu reden.

Sie trennen sich vorübergehend. Jean lernt dabei einen anderen Mann kennen, einen älteren Polen, der den zweiten Weltkrieg als Kind glücklich überlebt hat, allerdings seine Eltern verlor. Anne Michael kehrt hier ein Stück weit in die eigene Familiengeschichte zurück. Ihre jüdischen Eltern stammen aus Polen, emigrierten vor dem Krieg nach Kanada.

'Wintergewölbe' ist der Roman einer großen Liebe. Er zeigt fast schon schmerzhaft schön, wie sie sich allmählich entwickelt, im gegenseitigen Sich-Kennen-Lernen vertieft, im Sich-Einander-Öffnen, im Enthüllen kleiner Geheimnisse. Anne Michels hat dafür eine bildmächtige, metapherreiche Sprache gefunden, die staunen macht, weil sie mit jedem Satz, jedem Wort ganze Gefühlswelten erschließt. Am Liebsten möchte man die Sätze um ihrer Schönheit willen festhalten, ihnen hinterherlauschen. Ein Roman wie ein funkelnder Diamant, der kunstvoll geschliffen in stets neuen Facetten erstrahlt. Man kann sich nur schwer von ihm trennen. Die Literatur ist um ein Kleinod reicher.

Rezensiert von Johannes Kaiser

Anne Michaels: Wintergewölbe
Aus dem Englischen von Nora Matocza und Gerhard Falkner
Berlin Verlag Berlin 2009
350 Seiten, 22 Euro