Zwischenwelt unter dem Mikroskop

Von Stefan Keim |
Das Schlosstheater Moers macht immer wieder mit Kampagnen von sich reden: Nach "Demenz" und "Armut" geht es diesmal um das Sterben. Krankheit und Tod, so die These, werden in der Gesellschaft ausgegrenzt. Intendant Ulrich Greb hat jetzt Susan Sontags Roman "Todesstation" inszeniert.
Die Schauspieler liegen auf Tischen hinter halb durchsichtigen Vorhängen. Über ihnen hängen Videokameras wie Mikroskope. Due Darsteller sind Forschungsobjekte, ihre Gesichter werden in Nahaufnahme auf den ersten Vorhang direkt an der Bühnenrampe projiziert. Während die Sechs die ersten Sätze des Romans sprechen, ohne in Rollen einzusteigen, als distanzierte Erzähler.

Susan Sontags Roman "Todesstation" beginnt mit einem versuchten Selbstmord des Werbefachmanns Diddy. Dann springt die Handlung in einen Zug, der im Tunnel stecken bleibt. Diddy steigt aus, trifft in der Dunkelheit einen aggressiven Arbeiter, bringt ihn um. Als er in sein Abteil zurückkehrt, behauptet ein blindes Mädchen, er sei niemals weg gewesen.

Ulrich Greb verweigert in seiner Bühnenfassung von Anfang an jeden Realismus. Er spielt mit den Blicken des Publikums, die zunächst mehrfach gebrochen werden. Man schaut in eine verschwommene Zwischenwelt, die langsam in Bewegung gerät. Nach einiger Zeit ziehen die Schauspieler die Vorhänge weg und steigen in Rollen ein. Das ist auch nötig, denn der abstrakte Beginn ist zwar reizvoll, könnte auf Dauer aber auch ermüden.

Diddy und Hester, das blinde Mädchen, erleben eine seltsame Liebesgeschichte. Sie hofft, durch eine Operation ihr Sehvermögen wieder zu bekommen. Er hat mit Hesters monströser Tante zu kämpfen, die Jakob Schneider mit umwerfender Präsenz und psychopathischen Blicken verkörpert. Die Aufführung bleibt nah an Sontags Roman, spiegelt das Kafkaeske und Surreale, das Diskursive und das Direkte, auch die kurzen, ironischen Genrezitate. Wenn Diddy als Detektiv versucht, Klarheit in sein mysteriöses Leben zu bekommen.

Wie immer in Moers tragen herausragende Schauspieler den Abend. Frank Wickermann zeigt Diddy als eher mittelmäßigen Jedermann, der in der Konfrontation mit dem Tod kämpferische Züge entwickelt, ein verzweifelter Held wider Willen. Während Mareike Kriegel als blinde Hester oft beherrscht bleibt, es aber unter dieser Oberfläche rätselhaft brodeln lässt. Die zwei pausenlosen Stunden sind forderndes, manchmal auch anstrengendes Theater. Aber es lohnt sich, den Gedankenspielen zu folgen, weil sie durch Grebs Regie und das tolle Ensemble Körperlichkeit und Sinnlichkeit erhalten.

"Todesstation" ist die letzte Premiere im Rahmen des Projekts "ÜberGehen" am Schlosstheater Moers. Wie zu vor mit den Reihen über Demenz und Armut setzt sich die kleine Bühne wieder übergreifend mit einem Thema auseinander, das gern ausgegrenzt wird. Denn Krankheit, Sterben und Tod werden oft weg geblendet, man weiß kaum, wie man mit Kranken oder Hinterbliebenen umgehen soll.

Das Stück "Elefant im Raum", in dem Schauspieler mit zwei jungen Frauen auf der Bühne stehen, die Krebs überlebt haben, plädiert für eine normale, unsentimentale Auseinandersetzung. Man kann auch lachen über absurde Situationen während der Krankheit, kriegt aber auch mit, dass sich die Menschen verändern, wenn sie sich ihrer Sterblichkeit bewusst werden.

Einen spielerischen, offenen Umgang mit dem Tod spiegelt auch die Ausstellung "Ein Koffer für die letzte Reise", die der Trauerbegleiter Fritz Roth entwickelt hat. Er hat prominente und unbekannte Zeitgenossen gebeten, die Dinge in einen Koffer zu packen, die sie ins Jenseits mitnehmen möchten. Was die einen eher humoristisch auffassten - der Kabarettist Jürgen Becker nimmt sich was zum Rauche mit - und andere zu künstlerischen oder symbolischen Aussagen anregte. Viele Diskussionen und Lesungen umkreisen das Thema, auch mit der Frage, ob Sterben und Tod sich nicht mit dem Selbstbild einer Konsumgesellschaft vertragen.

Das Schlosstheater Moers vereint in seinem Projekt politische und soziale Recherchen mit künstlerisch anspruchsvollen Aufführungen. "Todesstation" kann sich auch außerhalb dieser Zusammenhänge als außergewöhnliche Literaturadaption sehen lassen.
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