Graben für Versöhnung
Noch immer sind Opfer der Bürgerkriege der 60er- und 70er-Jahre auf Zypern unentdeckt im Boden verscharrt. Das "Komitee für die Vermissten" sucht nach den über 2000 Leichen. Ein Beitrag zum Frieden auf der geteilten Insel?
Die Routine ist immer die gleiche. In der Pufferzone von Nikosia, der geteilten Hauptstadt Zyperns. Montag früh, viertel vor acht. Der Geologe Yiannis Ioannou ist wie immer pünktlich auf die Minute – und bestens gelaunt. Der griechische Zyprer lacht, ehe er sich in seinem Jeep zu Fatma und Peg umdreht, den türkisch-zyprischen Archäologinnen, und Gas gibt. Die Fahrt ins Minenfeld der zyprischen Geschichte: Sie kann beginnen.
Beim Lagerraum in einem Gewerbegebiet des griechisch-zyprischen Teils Nikosias hält das Archäologen-Team immer als erstes. Am Straßenrand stapelt sich Elektroschrott. Katzen suchen in Müllcontainern nach Essensresten. Yiannis hat dafür keinen Blick. Eilig hievt der bullige Typ die Gegenstände in den Laderaum des Jeeps, die er für die Ausgrabung braucht: Helme, Siebe, ein Warnschild.
Idyllisch ist es in Strovolos, der Gemeinde im Speckgürtel Nikosias: Eukalyptus-Bäume säumen die Wege, neuerdings auch strahlendweiße Villen. Doch die Idylle trügt.
"Some garbage. Some animal-bones. These kind of things."
Müll haben sie gefunden, Tierknochen. Nichts Brauchbares. Yiannis stapft in seinen Plastikstiefeln zur Kule, während Fatma weiter auf ihr Smartphone schaut. In 13 Metern Tiefe dürfte er sein: Der verschüttete Brunnen, in dem das Team die Leiche eines türkischen Zyprers vermutet. Er wurde am "blutigen Weihnachten 1963" massakriert – von griechisch-zyprischen Polizisten –, drei Jahre nachdem die Kolonialmacht Großbritannien Zypern in die Unabhängigkeit entlassen hatte. Noch mehr starben, als 1974 nach dem Putsch einer griechisch-zyprischen Junta die türkische Armee einmarschierte.
Die meisten Zeugen können sich nicht mehr genau erinnern
Überall auf der "Insel der Aphrodite" liegen Opfer der Bürgerkriege von 1963/64 und 1974 verscharrt – unter Autobahnasphalt, Feldern, in Brunnen. Sowohl griechische Zyprer als auch türkische. Offiziell 2002 Vermisste. Sie zu finden, das ist Aufgabe von CMP, dem "Committee for Missing Persons" – Giannis Arbeitgeber. 1202 Leichen hat das zu gleichen Teilen mit griechischen und türkischen Zyprern besetzte "Komitee für die Vermissten" seit 2006 exhumiert. Ob heute eine weitere Leiche dazu kommt? Yiannis verzieht das Gesicht: schwer zu sagen.
"Leider ist unsere Erfolgsquote in letzter Zeit ziemlich niedrig gewesen. Das hat mehrere Gründe: Die Fundorte, über die wir gesicherte Informationen haben – aus den 70er-Jahren – haben wir meist schon erfolgreich untersucht. Bei den potenziellen Gräbern aus den 60ern gestaltet sich das schwieriger. Diese Gräueltaten liegen länger zurück – 45 Jahre und mehr. Die meisten Zeugen sind alt. Sie können sich nicht mehr genau erinnern: War es jetzt dieser Brunnen, wo sie die Leiche hineingeworfen haben oder ein anderer? An unserem Fundort hier haben wir immerhin eine Fifty-Fifty-Chance. Unser Augenzeuge hat präzise Angaben gemacht. Die spannende Frage ist: Hat er sich richtig erinnert? "
Immer tiefer gräbt sich der Bagger in den braunen Sand. Für Yiannis und Co. heißt das: Warten. Und hoffen. Seit dem Sommer 2006 arbeitet der Mann, der um fünf Uhr aufgestanden ist, um von Limassol, der Küstenstadt, zur Arbeit zu fahren, für CMP.
"Wir können zur Versöhnung beitragen"
In den zwölf Jahren hat er einiges durchgemacht. Gewaltmärsche durch Gebirgsschluchten bei 40 Grad; die Explosion eines Blindgängers, giftige Schlangen. Ans Aufhören hat er nie gedacht.
"Unsere Arbeit ist ein Beitrag um das Zypern-Problem zu lösen. Die Teilung der Insel. Wenn Du mich fragst: Wir hätten das Problem schon längst in den Griff bekommen sollen. Aber nun gut: Die Politik stellt sich immer quer. Wir bei CMP können zur Versöhnung beitragen. Je mehr Vermisste wir finden, desto weniger Familien müssen leiden – auf beiden Seiten. Sie wissen endlich Bescheid – und können loslassen. Deshalb: Ja, natürlich ist unsere Arbeit sehr wichtig."
Yiannis fasst sich an den Rücken: Das ganze Herumstehen, das ständige Bücken, geht an die Substanz. Zu den körperlichen Beschwerden kommen die psychischen. Ein Kollege hatte vor kurzem ein Burnout, eine Kollegin Alpträume. Wegen der Leichen, den Knochenbergen. Der 36-Jährige zuckt mit den Schultern: Er kann immer noch gut schlafen.
"Psychologisch? Okay, das einzige Problem für mich ist: Wenn du suchst und suchst und suchst und trotzdem keine Überreste findest, wirst du zunehmend frustrierter. Es ist wie bei einer Fußballmannschaft. Du kannst noch so gut spielen, aber wenn du verlierst – dann zieht dich das runter. Genauso ist es bei uns. Wenn Du Monate lang oder ein ganzes Jahr nichts findest, bist du irgendwann niedergeschlagen."
Die Dudelsack-Spieler: Natürlich. Yiannis schaut in der Pufferzone Nikosias vom Steuer seines Jeeps hoch. Es ist kurz nach halb fünf. Feierabend. Die britischen UN-Soldaten spielen immer kurz vor Sonnenuntergang – im Niemandsland zwischen Stacheldrahtzaun und Wachtürmen. Die schweigsame Fatma und ihre Kollegin Peg steigen aus. Gefunden haben sie heute nichts. Morgen holt Yiannis sie wieder ab. Keine 200 Meter entfernt vom Büro ihres Bosses.
Ohne die UNO läuft wenig auf Zypern
"I know to walk on a land mine without exploding my foot."
Um einen griffigen Spruch ist Paul-Henri Arni nie verlegen. Das mit den Landminen, meint der Schweizer Karriere-Diplomat, sei nur sprichwörtlich gemeint. Minen gebe es in der Pufferzone keine mehr. Der UN-Mann mit dem grauen Haar und Anzug leitet – geschützt von Videokameras und Sandsäcken – das "Komitee für die Vermissten", zusammen mit einer türkischen Zyprerin und einem griechischen Zyprer. Ohne die UNO läuft auf der geteilten Insel wenig.
"Jedes Mal, wenn wir einen Vermissten finden, ist das großes Thema in den Zeitungen und im Fernsehen. Das allein zeigt, wie wichtig unsere humanitäre Mission ist, vor allem für die betroffenen Familien. Wir helfen ihnen dabei, ihre emotionalen Wunden heilen zu lassen. Sie haben Gewissheit und können so ihren Frieden finden. Aber das ist es nicht allein. Durch unsere Arbeit sorgen wir auch dafür, dass der gegenseitige Hass allmählich abnimmt. Wenn sich griechische und türkische Zyprer weiter hassen – aufgrund dessen, was passiert ist, wird es keine Versöhnung geben, keine politische Lösung."
Arni ist ein gefragter Mann. Der Anruf gerade: ein hohes Tier aus dem UN-Hauptquartier – da muss er ran. New York, Genf, Brüssel: Der Schweizer, der in den 90er-Jahren als Rot-Kreuz-Vertreter die Belagerung Sarajevos erlebte, ist bestens vernetzt.
3,3 Millionen Euro für die Suche nach den Opfern
3,3 Millionen Euro stehen seinem knapp hundertköpfigen Team aus Archäologen, Forensikern und Psychologen zur Verfügung, der Löwenanteil – 2,6 Millionen – kommt von der EU. Klingt nach viel Geld, reicht aber vorne und hinten nicht, wirft der Diplomat ein. Allein schon wegen der explodierenden Kosten für die DNA-Proben: Dieses Jahr voraussichtlich 700.000 Euro. Doch zumindest fürs nächste Jahr ist das Budget gesichert. Die EU will mehr Geld geben: drei Millionen Euro. Positive Nachrichten – Arni kann sie gut gebrauchen.
"Uns läuft die Zeit davon, weil die Augenzeugen sterben. Gerade erst hatten wir den Fall einer 95-jährigen türkischen Zyprerin. Eine ehemalige Schafshirtin. Sie beobachtete uns elf Mal dabei, wie wir vergeblich eine große Ausgrabungsstelle nördlich von Nikosia untersuchten. Die alte Frau hatte immer noch Riesenangst. Sie wurde damals Zeugin, wie 25 griechisch-zyprische Leichen vom einem Lastwagen abgeladen und an zwei Stellen verscharrt wurden.
Die Täter sahen sie und versuchten, sie zu schnappen. Doch sie entkam. Die Angst aber blieb – 40 Jahre lang. Bis sie sich dachte: Ich will dieses Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen. Ich muss reden. Über ihren Sohn vertraute sie sich uns an – und teilte uns exakt die zwei Stellen mit, wo die Leichen verscharrt waren. Sechs Monate später starb sie."
"Solange das Zypern-Problem politisch nicht gelöst ist, denke ich, ist es gut, einen UN-Vertreter in der CMP-Führung zu haben. Und sei es nur, um mich und meinen griechisch-zyprischen Kollegen von Zeit zu Zeit daran zu erinnern: Ihr sitzt im selben Boot."
Donnerstagmorgen, kurz nach halb neun. Seit 2006 hat Gülden Plümer Kücük im türkisch-zyprischen Büro von CMP das Sagen.
"Die Sache ist die: Wir sind schon lange getrennt. Die Teilung Zyperns fing 1963 an und wurde 1974 vollendet. Das sind fast 45 Jahre. Unser Blick auf die 'Vorkommnisse' ist unterschiedlich. Wir haben unsere Realität, die griechischen Zyprer ihre. Ich weiß manchmal nicht, was die andere Seite fühlt oder gerade durchmacht. Es ist nicht so einfach, empathisch zu sein. Doch ich versuche mein Bestes. In den zwölf Jahren bei CMP habe ich gelernt, multikulturell zu arbeiten und die anderen zu verstehen."
"Frauen sind diejenigen, die Frieden schaffen können"
Gülden ist Frühaufsteherin, immer schon gewesen. Die Powerfrau im schwarz-weiß gestreiften Pullover lächelt. Ließ sich kaum vermeiden – als Mutter und Geschäftsfrau. Ihre Tage sind lang, auch wenn sie ihr Touristik-Unternehmen längst an ihre Söhne abgegeben hat. Das Komitee hält sie auf Trapp. Ständig ist etwas. Mitte Juni etwa titelte die griechisch-zyprische Zeitung "Politis": CMP stellt die Arbeit ein. Die 61-Jährige verdreht die Augen. Fake news. Querschüsse allenthalben – auch aus eigenen Reihen – von Hardlinern, die sich ereifern, sie dürfe sich als türkische Zyprerin nicht mit dem "Feind" an einen Tisch setzen. Erst recht nicht nach den gescheiterten Friedensgesprächen im Juli letzten Jahres.
"Opfer gab es auf beiden Seiten. Es sind dieselben Geschichten. Ein Vermisster reißt eine Lücke – unabhängig von Religion, Sprache oder was auch immer. Die Qual ist dieselbe, der Schmerz, die Geschichten."
Kücük ist zum Fenster gegangen. Die Frau mit den blonden Locken zeigt nach links – zu den verwilderten Gärten an der venezianischen Stadtmauer. Als Mädchen hat sie dort oft gespielt. Der Garten auf der einen Seite. Und nebenan: Der weiße Präsidenten-Palast. Präsident Mustafa Akinci – heißt es in Nord-Nikosia – hält seine schützende Hand über sein Volk. Kücüks Augen funkeln: Sie kommt auch so zurecht. Als Frau.
"Frauen sind diejenigen, die Frieden schaffen können. Wir Frauen können uns besser in jemanden anderen hineinversetzen. Wir sind empathischer und einfallsreicher als Männer. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Deshalb wäre ich sehr dafür, dass mehr Frauen beim Friedensprozess mitmischten."
Empathisch ist auch Liza Samba, die Psychologin.
"We are present – at all stages. From beginning until the end."
Jedes Dokument: Ein Fall und eine Tragödie
Die griechische Zyprerin betreut für CMP die Hinterbliebenen der Vermissten – in jeder Phase, von Anfang bis Ende. Aus vier Psychologen besteht ihr Team: Zwei aus Süd-Zypern, zwei aus dem Norden. Fünf Fälle hat sie gerade. Einer geht ihr besonders an die Nieren. Liza holt kurz Luft. Erst vor ein paar Stunden saßen in ihrem kleinen Büro drei Geschwister. Völlig aufgelöst.
"Eine der zwei Töchter brach regelrecht zusammen, als ich ihr vor kurzem mitteilte: Wir haben deinen Vater gefunden. Heute wieder dasselbe. Sie will, dass das Begräbnis möglichst schnell über die Bühne geht. Es ist morgen. Sie denkt, vielleicht könne die Beerdigung ihr helfen alles zu verstehen. Normalerweise rate ich Angehörigen: Nehmt euch Zeit bis zum Begräbnis, eine Woche oder so. Doch da war nichts zu machen."
"Sie und ihre Schwester können sich nicht mehr an ihren Vater erinnern. Sie wissen nicht, wie es ist, einen Vater zu haben. Ihr älterer Bruder kann sich noch an vieles erinnern. An den Vater, wie sie ihr Dorf verlassen mussten, all die negativen Gefühle."
Liza scrollt über den Bildschirm ihres Computers. Jedes Dokument: Ein Fall, eine Tragödie.
"Einige Familien wollen, dass du sie unterstützt, sie begleitest, in die Arme nimmst. Meist ist es so: Wenn ich eine Familie das erste Mal treffe, scanne ich jedes Familienmitglied. Wer ist die Stärkere? Wer der Schwächere? Um wen muss ich mich besonders kümmern? Du bekommst ein Gespür dafür. Ich bin Psychologin und Sozialarbeiterin in einem. Wichtig ist: Ich bin für die Familie da. Ich folge ihr, nicht umgekehrt. Wenn sie mir sagen: Das und das wollen wir – dann halte ich mich daran."
Das Begräbnis findet morgen um vierzehn Uhr statt – nach griechisch-orthodoxem Ritual. Die Geschwister werden in der Kirche eine Kerze anzünden und Öl über die Knochen des Verstorbenen streichen. Danach geht es nach Hause – zum Leichenschmaus. Liza hat schon gefragt, ob die Familie sie dabei haben will. Will sie. Es dürfte ein langer Tag für die 35-Jährige werden. Vor sieben wird sie nicht zu Hause sein. Umso wichtiger, dass sie nach der Arbeit abschalten kann.
"Ich persönlich?! Ich backe. Für meine Kinder. Meine Zwillinge halten mich auf Trapp. Das hilft. Es lenkt mich ab. Und was auch gut funktioniert, ist Zeit alleine zu verbringen. Das können nur zehn, fünfzehn Minuten sein. Stille. Keine Musik, kein Licht, gar nichts."
Verkeilte Beine, Babyknochen, Finger und Zähne
Ein neuer Tag, eine andere Ecke von Nikosia: Und von Stille keine Spur. Fast täglich feuern die UN-Soldaten im Niemandsland des verlassenen Flughafens am Rande der Stadt ihre Salven in die Luft – zu Trainingszwecken – nur einen Steinwurf entfernt vom forensischen Labor des "Komitees für die Vermissten".
"Am Anfang haben mich die Schüsse schon irritiert. Ja. Aber jetzt bekomme ich es gar nicht mehr mit. Du gewöhnst dich daran. So ist es nun mal."
Bei Emine Cetinsel, der jungen forensischen Anthropologin, landet der ganze Horror, den die CMP-Archäologen aus der blutigen Erde befördern: Verkeilte Beine, Babyknochen, Finger, Zähne.
"Here you can see some shoes... You can see some trousers."
Schuhe sind manchmal auch darunter. Zerfetzte Hosen.
"Hier auf den Tischen kannst du die Überreste von sieben Individuen sehen. Sie liegen völlig durcheinander. Mein griechisch-zyprischer Kollege hat die Anfangs-Analyse gemacht. Ich lese gleich seinen Befund und überprüfe noch einmal alles. Danach überschlagen wir gemeinsam, ob es wirklich sieben sind oder mehr. Wenn wir das getan haben, nehmen wir Proben für die DNA-Analyse."
Transparenz wird im CMP-Labor groß geschrieben, deshalb auch die Foto-Studie: Jeder noch so kleine Knochen wird fotografiert und archiviert.
Wie ein Stillleben zu fotografieren sei das, konstatiert Fotografin Duygu Göze.
Vor ein paar Jahren noch schoss die Frau mit dem weinroten Umhang und den farblich abgestimmten Schuhen bis zu tausend Fotos am Tag. Die Zeiten sind vorbei. In diesem Jahr wurden bis Ende Oktober lediglich zwölf Kriegsopfer exhumiert. Für die türkische Zyprerin heißt das: Weniger Arbeit. Duygu seufzt leise. Einerseits ist sie froh, dass sie nicht mehr den lieben langen Tag Menschen-Knochen fotografieren muss. Andererseits: Däumchen drehen – das war noch nie ihr Ding.
"Ich habe angefangen, Essen zu fotografieren. Ich liebe es, Fotos von Essen zu machen. Ich brauche das um mich zu zerstreuen. Genau wie meine Arbeit nebenbei als Make-up-Künstlerin. Sonst wirst du verrückt. Vor lauter Knochen. Versteh' mich nicht falsch: Ich finde meine Arbeit weiter wichtig. Für die Zukunft dieser Insel. Wenn es irgendwann einmal klappen sollte mit der Wiedervereinigung, müssen wir vorher das Problem mit den Vermissten lösen. Alle reden immer nur über Krieg, darüber, was die eine Seite der anderen angetan hat. Ich wünschte mir, dass wir mit unserer Arbeit dazu beitragen, dass wir eines Tages wieder eine geeinte Insel haben."
Ein CMP-Prinzip: Wir suchen keine Schuldigen
In der CMP-Küche laufen sich früher oder später alle über den Weg. Sonderlich gemütlich ist es in dem Container zwar nicht, dafür gibt es genug Platz. Emine, die Anthropologin, nimmt sich eine Espressotasse, um sich einen türkischen Kaffee einzuschenken. Eine kurze Verschnaufpause bevor es weitergeht. Die letzten Jahre hatten es in sich. Neben ihrer Arbeit absolvierte die 27-Jährige ein Fernstudium an der britischen Universität von Leicester. Tagsüber arbeiten, abends und am Wochenende lernen: Zwei Jahre ging das so. Und als wenn das alles nicht schon stressig genug gewesen wäre, holte sie im Januar 2015 ein dunkles Kapitel ihrer Familiengeschichte ein. Dass Shefket – ihr Großvater mütterlicherseits – einen Tag vor Heiligabend 1963 verschleppt wurde, wusste sie. Dass sie einmal seine sterblichen Überreste in den Händen halten würde, sie schluckt leise, das konnte sie nicht ahnen.
"Am Tag, als ich meine Oma abholte um sie zu uns nach Hause zu bringen – zu den Psychologinnen, die uns offiziell informierten –, nahm mich meine Oma zur Seite und meinte: Stell dir vor, letzte Nacht habe ich deinen Großvater im Traum gesehen. Ich konnte ihn kaum erkennen. Ihm war das ganz unangenehm. Er meinte: Ich bin’s wirklich. Auch wenn du mich nicht erkennen kannst. Ist das nicht verrückt?! Sie träumte das genau an dem Tag, an dem sie erfuhr, dass wir ihn gefunden haben."
Die sterblichen Überreste von Emines Großvater liegen heute auf einem Friedhof in Nord-Nikosia. Wer ihn ermordet hat, weiß sie nicht. Eines von CMPs Grundprinzipien lautet: Wir suchen keine Schuldigen, klagen niemanden an.
"Ich will alle Vermissten finden. Ich weiß, wie sehr Familien leiden wegen der Ungewissheit. Ich sage den Angehörigen immer: Ihr habt ein Recht darauf zu erfahren, was mit euren Liebsten passiert ist. Ihr habt ein Recht auf ein anständiges Begräbnis. Darauf, euren Frieden zu finden."